Augentäuscherei

Trompe-l'œil — ah! murmelt der kenntnisreich um die Rituale der von Apoll angeführten, vom omnipotenten Zeus in neun Nächten gezeugten Töchter Wissende. Nun weiß ich nicht so recht, ob die damals alle in Weinfässern gewohnt und darin gerne einen gehoben haben, so daß dieser Fall der wankenden Thaleia beziehungsweise der johlenden Melpemone zugeordnet werden muß, denn eine Muse der bildenden Kunst oder gar der Architektur ist mir nicht bekannt. Trompe-l'œil, das ist jedenfalls diese Malerei, bei der man nie so recht weiß, ob man nun vor oder hinterm oder gar mittendrin im Haus steht. Wie beim von Parrhasios im Wettbewerb mit Zeuxis augentäuschend echt gemaltem Vorhang, den letzterer vergeblich zu öffnen versuchte. Zuvor hatten sich auf die von Zeuxis vorgegebenen Trauben gar Vögel gestürzt, um sie aufzupicken. Große Verbreitung fand diese Augentäuscherei dann in der Renaissance. Und einer solchen leben wir ja ebenfalls. (Es geht uns allen ja sowas von gut.) Etwas zeitgenössischer und näher am Thema: wie die Häuser in Lyon, bei denen die Menschen auf die Fassaden gemalt sind und die auf diese Weise eine vielfältige (historische) Lebendigkeit erzeugen. Trompe-l'œil wird umgangssprachlich allerdings auch mal Augenwischerei genannt. Und die gibt's in deutschen Landen ebenso wie in französischen.

Nun, ich rieb mir einige Male die Augen, wenngleich am liebsten außerhalb der Gebiete, in denen die Fremdenverkehrsdirektorin erfolgreich den Pinsel schwingt, um Farben mit allzu greller Wirklichkeitsnähe sanft aufzuhübschen.

So brüllte ich Freund Christophe fragend an: Was denn das da am Rand seines lieblichen burgundischen Dörfchens Bourguignon um des lieben Himmels willen sei? Ich mußte so schreien, da er versuchte der Wirklichkeit allzu rasch wachsenden Grases auf seinem beachtlichen, noch etwas weiter abgelegenen ehemaligen Bauerhof aus Revolutionszeiten Herr zu werden, indem er es mit einer Art Mähmaschine niederzuringen trachtete. Er schaltete den Motor ab, verließ sein rasendes Lustgerät, umarmte mich zunächst überregional, gab dann eins links, eins rechts und dann nochmal links und rechts, wie das üblich ist unter Freunden und in der Region, und beantwortete meine Frage mit der Weisheit eines in die Gegend Integrierten: Laß uns erstmal einen trinken. Um der Wahrheit in den Schlund zu blicken. Ob denn der Volksertüchtiger seine Truppen über den Rhein geführt habe, um Frankreich endgültig zu vernichten? präzisierte ich mich. Es habe den Anschein, aber auch das gebe es im Land schon lange, nur nenne man das hier jardin familiaux, sehr viel stabiler als in des späteren Namensspenders Garten sei das jedenfalls nicht gebaut, auch hier sei das Geld der Schlechtervierdienenden schließlich knapp. Aber das, auf das ich da hingewiesen hätte, das sei mir doch bekannt. Über ein sonderlich photographisches Gedächtnis verfüge ich nicht unbedingt, fügte er noch suffisant an, und reklamierte mein ansonsten gerühmtes Abstraktionsvermögen.

Und richtig, nun erinnerte ich mich: Anfang des Jahrtausends begann man im ganzen Land mit der augenwischenden Suggestion, jedermann samt Ehegattin sei in der Lage, ein Heim sein eigen zu nennen. Billige Kredite gab's für billige Hütten. Nur war über das, was hier aussah wie von Herrn Schreber erzieherisch für die Genügsamkeit zusammengebastelten Verschläge, der schöne Schein gewachsen. In ihrer üppigen Begrüntheit sah man ihnen nicht mehr an, wie wenig doch der gemeine Franzose Wert legt auf eine solide Bauweise. Wie ihm überhaupt das Wohnen ungleich schnurzer ist als seinem rechtsrheinischen Nachbarn, der ganze Wochenenden in nicht nur schwedischen Möbelhäusern verbringt, die dort deshalb auch weitaus häufiger auf der grünen Wiese stehen als hier Supermärkte zur Alimentation. Während man französisch immer noch lieber zweimal am Tag ordentlich ißt, was am vor fünfundzwanzig Jahren gekauften Tisch ebenso möglich ist, benötigt der Deutsche alle fünf Jahre eine komplette neue Wohnungseinrichtung. Das kommt gleich nach dem Automobil, und sei es noch so funktionsfähig.

Daß mir diese Neubaueritis anderenorts auch aufgefallen war, muß wohl mit der Tatsache zusammenhängen, daß Monsieur Le Président diesen alten Hut neu aufgebügelt hat: ein neues Bauprogramm für die weniger Wohlhabenden. Das Volk will befriedet werden. So kommt es zu einer Anpassung an Herrn Sarkozys geliebte Freunde aus den USA. Von denen drüben im Westen hatte man ja ohnehin schon einmal Erfolgreiches übernommen: Seit den späten Fünfzigern eines längst vergangenen Jahrhunderts wurde das gesamte Supermarktsystem importiert und reüssierend nach anderswo verpflanzt. Nun sind es also die Häuser, die ohne auch nur ein annäherndes Gefühl für irgendwelche städtplanerischen Ideen und Nachweis einer gewissen Längerlebigkeit an die Ortsränder gepappt werden. Im wahrsten Wortsinn. Bei ersterem ist sogar eine gewisse geistige Nachbarschaft zum östlichen Vis-à-vis zu erkennen. Auch dort, nicht nur in den geldknappen ehemaligen Zonenrandgebieten, parzelliert man die via Europa brachgelegten Dorfrandäcker und stellt, wider besseres Zukunftsplanungswissen, ein Toilettenhäuschen nach dem anderen aufs fünf mal vierzig Quadratmeter große Beet. Und als ob sich der welteuropäische Gedanke fürs immer Billigere von Berlin und Paris aus sich verbreiten möge, verzichtet man auch rechtsrheinisch aufs Langwährende und mauert sich eine Scheinwelt aus Beton und Gasbaustein zusammen. Nur daß auf den Schein erheblich mehr Wert gelegt wird, indem Beton und Gasbaustein noch zugeklinkert werden, aus quadratmeterweise hergestellten Platten, auf daß es scheine wie festgemauert in die gute alte Zeit.




Graben wir in trauter Nachbarschaft Parrhasios aus? Die Renaissance der wirtschaftlichen Blendung haben wir ja bereits gemeinsam gehoben. Vive la fraternité (d'armes).


20.06.08 | 235
 
Do, 11.11.2010 |  link | (2793) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn


nnier   (11.11.10, 13:11)   (link)  
"Neu aufgekocht" - ich frage mich seit einiger Zeit, was Sie mit derartigen Fußzeilen meinen. Wiederholen Sie hier Sendungen? Obiges kommt mir bekannt vor - aber eine Schlagwortsuche in Ihrem Blog führt doch wieder nur zu Obigem. Was für Zeitschleifen haben Sie da gewunden?


jean stubenzweig   (11.11.10, 20:54)   (link)  
Neue Märkte braucht das Land.
Einen Test hatte ich vor «einiger Zeit» in meinem Versuchsküchenstudio gestartet, mit dem, was nach kritischer Postprüfung mir zu wenig Beachtung gefunden zu haben schien; da kann ich sehr eigen sein. Der Erfolg gab mir recht, denn das Angebot wurde willig angenommen. Dabei zog ich die Konsequenz aus der Bemerkung eines hier gern gesehenen Besuchers, der vor längerer Zeit einmal meinte, er läse nicht rückwärts. Da ich hingegen der Meinung bin, (Tage-)Bücher seien dazu da, gefälligst nach hinten gelesen zu werden, habe ich das getan und vor mindestens zwei Jahren eingefrorene Beiträge aufgetaut, sie in einen Topf gegeben, den auf den Herd gestellt, ein wenig umgerührt, abgeschmeckt, ein paar frische Kräuter hinzugefügt; andere würden es vielleicht nennen: nur aufgehübscht oder glattgebügelt. Um dem Verdacht zu entgehen, ich verginge mich entsprechenden EU-Lebensmitteldeklarationsverordnungen oder betreibe schlicht heimliche Autohegemannisierung, habe ich Fußnotenliebhaber sie gekennzeichnet. Im Fall belassener Titel habe ich lediglich die jeweils neue URL eingefügt, in dem obigen neuer Titulierung kommt's unter die anderen Inhalte und ins Verzeichnis. Von diesem Wettbewerb ausgeschlossen sind einmal kommentierte Kreationen.















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