Zirkustheater

Väterchen Timofej hat Häuschen samt Kapelle neu getüncht, das Gesicht in frische Falten gelegt und die Kollektenbüchse aufgestellt, auf daß reichlich Göttliches hineinfalle. Denn ab 23. Mai (1980) ziehen die Pilger wie auf einem nicht korrekt ausgeschilderten Jakobsweg wieder scharenweise durch seinen lieblichen Garten am Rand des Münchner Olympiageländes. Doch nicht etwa zu dem russisch-orthodoxen Eremiten zieht es die Massen, sondern zum Theaterfestival (bis 8. Juni), das im just vergangenen Jahrzehnt auf dem Gelände zwischen Alter Pinakothek und dem Armeegebäude an der Türkenstraße seinen Anfang nahm, wo 1977 Ulrich Wildgruber den zadekschen Hamlet so grandios unverständlich gegen den strömenden Regen und in den knöcheltiefen Schlamm nuscheln ließ. Des Volks Theater unterm Zirkuszelt.

Photographie: zzathras777

Hauptangebetete ist Ariane Mnouchkine, ihr Théâtre du Soleil mit einer Bearbeitung von Klaus Manns Mephisto. In diesem weiten Rundumschlag gegen die Theater-Bourgoisie der zwanziger und dreißiger Jahre hat der Sprößling von Thomas Mann, der bereits München leuchten ließ, den arg politischen Opportunismus des deutschen Bühnenheroen Gustaf Gründgens angeprangert.

Zwei von den fünf mit Auftragsproduktionen bedachten Gruppen ziehen ebenfalls antikreuzzüglerisch gegen nostalgisch verbrämte Vergangenheitsbewältigung zu Felde. Das in New York gegründete Living Theatre, das mittlerweile in Venedig zuhause ist, inszeniert Ernst Tollers Masse Mensch, und das Münchner Theater in der Kreide um Gert Heidenreich und Joachim Höppner seinen Siegfried — eine deutsche Karriere.

Ebenfalls zirzensisch beginnt im Mai das Tempodrom, ein Amphitheater auf dem Gelände des alten Potsdamer Bahnhofs im Bezirk Tiergarten. Berlins aliierte Soldaten haben es aus fünftausend Kubikmetern Lehm gebaut, und seine zweieinhalbtausend Sitzplätze plus Tische für Speis und Trank wie einst bei Monsieur Salis wurden von einem Zeltdach des Zirkus Bosch-Roland überhimmelt.

Am Tag der Arbeit ist Premiere mit einem vierstündigen Budenzauber, in dem fünfzig Feuerschlucker von fünfzig Schlagzeugern begleitet werden. Rock-Röhre Eric Burdon und Schnulzen-Oldtimer Drafi Deutscher haben sich angesagt, die Colombaiones und andere Clowns, Taschenspieler und Tierbändiger vervollständigen das Programm der Multi-Media-Manege.

Unters Zelt zieht es schließlich auch Martin Lüttge, der sich zwar als Film-, Fernseh- und Theaterschauspieler einen Namen gemacht hat, aber des Subventionszirkus' überdrüssig zu sein scheint. Wie weiland Jean-Baptiste Poquelin genannt Molière reist er mit einer Wandertruppe aus zum Teil ehemaligen Staatsschauspielern durch die Lande, um das Volk theatralisch aufzuklären. Kollektiv dramatisiert und inszeniert hat die Gruppe einen mythischen Stoff: Wir Nibelungen.


Flohmarkt: Savoir-vivre, 1980

 
Do, 13.01.2011 |  link | (3629) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Dramatisches


jean stubenzweig   (13.01.11, 17:20)   (link)  
Volk und Theater
Für den Münchner Ober-Grantler Gerhard Polt ist der Begriff Volkstheater ein Widerspruch in sich: Was denn, meinte er anläßlich der Diskussion um die Notwendigkeit einer solchen Institution, das Publikum im Parkett eines Theaters anderes sei als das Volk?

Und die von der schreibenden Zunft vorschnell in die Lade ‹Kabarettistin› abgelegte, auch unter weißblauem Föhn-Einfluß aufgewachsene und unter dem Pseudonym Sarah Camp mittlerweile ebenfalls bundesweit populäre Solistin, Theaterautorin und promovierte Germanistin zudem, hält die Zusammensetzung der Begriffe Volk und Theater schlicht für eine Tautologie.

Doch gerade dieser weiße Schimmel hat es, vornehmlich in München und in Tirol, in letzter Zeit immer wieder geschafft, allen möglichen aktiv oder passiv am Theater Beteiligten die Gefühlsgäule durchgehen zu lassen. Und zwar meist dann, wenn sachliche Diskussion am Platze gewesen wäre.

Blutvoll beanspruchen in der Regel diejenigen den Begriff für sich, die damit den Touristen dialektisch klarzumachen versuchen, der Held eines jeden Volksstückes sei nunmal allerorten, somit auch in jeder Großstadt anzutreffende Dorfdepp.

Tatsächlich will dem «lieben Feriengast» in Oberbayern oder anderswo dieses denunziatorische Schenkelgeklatsche naturgemäß besser gefallen als der dezent-kritische Volkstheaterhinweis, auch im Zeitalter der endgültigen demokratischen seien die eigentlich Gelackmeierten immer noch diejenigen, die sich einen dreiwöchigen Aufenthalt auf dem Bauernhof vom Filialleiter der Kreditbank genehmigen lassen müssen. Denn wer wird schon gern während eines theatralischen Ferienereignisses daran erinnert, daß es nach wie vor ein Oben und ein Unten gibt und man selbst tatsächlich zum letzteren gehört?

Bis zum November '83 fand in München um die Definition des Begriffes Volkstheater ein Gerangele statt, das einem Komödienstadl gleichkam, auch wenn es in den Palästen aufgeführt wurde.

Die Paläste: Das waren die beiden hohen Häuser Kammerspiele und Residenztheater. Darin agierten eine Handvoll Akteure, die es leid waren, daß ihre Vorstellungen von Theater zusehends mehr zu einem Feigenblatt des bürgerlich ausgerichteten Spielplans verkamen: Hin und wieder mal einen Nestroy oder Thoma, meist kerzengerade an den Intentionen dieser Autoren vorbeiinszeniert, und absolviert war die Pflichtübung gegenüber dieser dramatischen Literatur.

Also gründete man eine eigene Mannschaft, zumal gerade geeignete Räumlichkeiten zur Verfügung standen. Dort spielt sie nun seit Ende 1983 unter dem Namen Münchner Volkstheater.

Und sie spielt, scheinbar zusammengewürfelt, nach so kurzer Zeit bereits so gut, daß die Zuschauer in Scharen kommen, um zu sehen, wie sich Regisseure und Schauspieler wie Ruth Drexel, Polt-Partner Hanns Christian Müller bzw. Hans Brenner, Gustl Bayrhammer, Martin Sperr, Maria Singer oder Veronika und Lisa Fitz sich Stücke von Karl Schönherr, Fitzgerald Kusz, Georg Thoma oder («auf bairisch») Heinrich von Kleist vorstellen.

84 Prozent Platzausnutzung verzeichnet die innerhalb von zwölf Monaten zum Publikumsliebling avancierte Institution Münchner Volkstheater. Das entspricht ziemlich exakt der 84er Erfolgsquote der seit Jahrzehnten laufenden und jüngst in der Branchenbibel Theater heute zur Top-Bühne ausgerufenen Kammerspiele. Nur rekrutieren deren Abonnenten sich aus jenen für alle Stadt- und Staatstheater gültigen vier bis fünf Prozent, denen der Besuch des hehren Kulturgutes Theater ein Bedürfnis ist wie die tägliche Flasche Champagner, stellen also eine Minderheit dar, die von der Mehrheit finanziert wird.

Nun hieße es, den Brecht mit der Fleißer austreiben zu wollen, würde man einen inszenatorischen oder schauspielerischen Erfolg allein an der mehr oder minder gefüllten Theaterkasse messen wollen. Allerdings scheinen die potentielle Volkstheater-Klientel bzw. deren Protagonisten Qualität anders zu definieren als der über der Alltagswirklichkeit schwebende 179. Strindberg-Interpret am hohen Haus Kammerspiel.

Die Adepten des Theaters von unten erzählen eben Geschichten aus der Perspektive des Grases und nicht der der Burg, was augenscheinlich auch das Interesse derjenigen zu wecken scheint, die ansonsten mit wehendem Schal dem 500. bildungstheatralischen Grabgesang entgegenzueilen trachten. Vielleicht ist es auch die Neugier oder der Wunsch, das Vorurteil bestätigt zu sehen, wie degoutant diese Kleinbürger doch Theater machen, was so auffallend viele aus dem bürgerlichen Lager ins Theater des Volkes treibt. Anders ist die hohe Trefferquote der Mannschaft von der Münchner Briennerstraße kaum zu erklären.

Bis nach der Eröffnungspremiere (Glaube und Heimat von Karl Schönherr in der Inszenierung von Ruth Drexel) drosch drei Viertel der Münchner Presse auf die Institution Volkstheater ein. Begründung(en): Man brauche sowas nicht, weil die wenigen vorhandenen Stücke auch an anderen Münchner Bühnen aufgeführt würden. Man entzöge darüber hinaus den über 30 Privattheatern die Existenz. Ein weiteres subventioniertes Haus belaste den ohnehin arg strapazierten Steuersäckel im Übermaß. Es bedürfe keines solchen Hauses, da die Darsteller mit volkstheatralischen Ambitionen an Kammerspiel und Residenztheater ausreichend Gelegenheit hätten, diese in die Tat umzusetzen. Und zwischen den öffentlichen (Protest-)Zeilen lugte noch überall die Vermutung manch eines ‹Insiders› hervor, den großen Häusern würde personeller Schaden zugefügt, da ein Großteil der bewährten Volkschauspieler ein Haus weiterziehen könnte ...

Das haben sie denn auch tatsächlich getan. Und je geballter die gemeinsamen Ladungen gegen das neue Haus wurden, um so gefestigter schien die idealistische Einheit. Zuvor bedurfte es freilich einiger Anstrengung aller Beteiligten, wollte man im Gefolge des Intendanten Jörg-Dieter Haas, der für diesen Schleudersitz seinen Chefdramaturgensessel am Residenztheater geräumt hatte, ins neue Heim einziehen.

Den neuen Putz, die neue Tapete und auch eine neue Beleuchtung zahlte zwar Mütterchen Stadt, aber Vater (Frei-)Staat winkte ab, als er um Geld fürs Mobiliar gebeten wurde. So ging die Familie denn betteln. Und so kam, über zahlreiche (fremdfinanzierte) Anzeigen und Veranstaltungen, für gut 300 Mark pro Stück, Stuhl für Stuhl und somit eine über 700-Plätze-Bestuhlung zusammen, auf der jeder der edlen Spender per Namensschild verewigt wurde. Als Belohnung gab's ein paar Freikarten.

Überhaupt brachte Architekt Joachim Zangenberg für knappe vier Millionen Mark eine erstaunlich klare Linie, fernab jeder alpenländischen Rustikaltümelei in den Annex des Münchner Haus des Sports.

«1,2 Millionen DM und eine alte Liebe», schrieb denn auch der Vorstand des Vereins Münchner Volkstheater e. V. anläßlich der (Wieder-)Eröffnung (das alte Haus war im Krieg zerstört worden) ins Gästebuch, sei «die Aussteuer, die von der Münchner Bürgerschaft eingebracht wurde».

Und Franz Forchheimer, zu diesem Zeitpunkt noch (CSU-)Kultur-Koreferent, erhoffte sich für das neue Volkstheater «die gleichen Eigenschaften», die den «Höhepunkt an Theater im deutschsprachigen Raum», die Kammerspiele, kennzeichneten: «sensibel, sprachgewaltig, provokativ, problematisch und intellektuell» — nur hier an Stelle von «intellektuell» eher «populär».

Mittlerweile dürfte sich das auch die Münchner SPD wünschen. Sie hatte zu Zeiten, als sie noch Stadtratsopposition war, außergewöhnliche Schwierigkeiten mit diesem Projekt. Gemeinsam mit der Mehrheit der schreibenden Zunft hängte sie die Argumentation «unnötig» an die (Wahl?-)Glocke. Nun allerdings schlägt man auch bei den weiß-blauen Sozialdemokraten moderatere Töne an, weil man offensichtlich nicht umhin kann, zu bemerken, daß das Volk, als dessen Partei man sich nach wie vor versteht, in sein Theater rennt. Ur-Sozialdemokrat Hans Brenner findet solches Verhalten, auch das der Presse, «beinahe unappetitlich» und schüttelt den Kopf darüber, «daß ausgerechnet mir das passieren muß, von der falschen Partei promotet zu werden».

Ein paar Kilometer weiter südlich, in Tirol, erging es den Verfechtern eines anderen Volkstheatergedankens ganz anders. Als sie 1981 eine (in einer Züricher Bar geborene) Schnapsidee der Tiroler Dietmar Schönherr, Kurt Weinzierl und des (1982 tödlich verunglückten Filmregisseurs) Alf Brustellin realisiert hatten, nämlich die, möglichst viele in der Diaspora lebenden Akteure zusammenzurufen, um in der Heimat kritisches, professionelles Volkstheater zu machen, da waren es die Christlichen, die den Teufel aufmarschieren sahen.

Was Wunder, solche Leute müssen loyalen Staatsbeamten und braven Bürgern ja suspekt sein: ein Schönherr, der später Reagan «Arschloch» titulieren sollte, ein Weinzierl, der als debiler Polizeipräsident Pilch in der Serie Kottan ermittelt die Obrigkeit verhohnepipelte, ein Brenner, von dem jeder weiß, daß schon seine Muttermilch rot gefärbt war, und all die anderen Mitstreiter der Tiroler Volksschauspiele, die bei dem Begriff Volkstheater eher an eine andere Darstellung von Wirklichkeit denken als an eine krachlederne Löwinger-Bühne.

Die erste Saison brachte man auf Burg Hasegg im tirolischen Hall über die Bühne. Doch als die Theatraliker wider den wilhelminischen Ungeist dort ein Mitterer-Stück aufführen wollten, das die Staatskirche ins Gebet nimmt, wurde es finster im stockkatholischen Hall. Listigerweise eilte ein anderer Christlicher zu Hilfe. Der (ÖVP-)Bürgermeister von Telfs, Helmut Kopp, erkannte die Werbewirksamkeit dieses dramatischen Ereignisses. Und richtig: Bis zur Bombendrohung kam's, und die Zeitungsschreiber bis hinauf zur Welt waren alarmiert. «Kopp sei Dank» und dank Ruth Drexels unprätentiöser «frommer» Regie (Süddeutsche Zeitung) ging die Bombe Stigma nicht hoch, was die Bauernburschen, die angetreten waren, die Sündenböcke an den Hörnern von der Bühne zu zerren, friedlich auf den Bänken ruhen ließ.

Die Tiroler Volksschauspiele in Telfs, mitinitiiert von Stammspielern der Münchner Volkstheatermannschaft und teilweise finanziell mitgetragen (durch Defizithaftung, 1984 pro Vorstandsmitglied des Vereins 15.000 Mark), dieses Modell einer, so Brenner, «volkstheatergesellschaftlichen Utopie», kommt freilich nicht zur Ruhe. Die Subventionierer haben gegenüber den Vorjahren einen Großteil ihrer Geberlust verloren. Zwar ist auch der neue ORF-1-Intendant Ernst-Wolfram Marboe bereit, für die Aufzeichnung einer Produktion (1983 waren's noch zwei) 100.000 Mark zu berappen, geben auch der österreichische Staat und die Gemeinde etwas in den Klingelbeutel. Aber reichen will es hinten und vorn nicht.

Um Qualität leisten zu können, benötigen die Telfser pro Inszenierung etwa 300.000 Mark (weil alle Jahre wieder alles neu hergestellt werden muß, plus 65 Gagen). Und so hofft man nun auf den Bayerischen Rundfunk, der herzlich gebeten ist, Nachbarschaftshilfe zu leisten.

Tatsächlich brächte die von den Tirolern hergestellte Verbindung ins Bayerische dem Volkstheater Gewinn, würde den Bayern zeigen, daß die tirolische Tragödie auch komisch ist, und den Tirolern, daß die bayerische Komödie der Tragik nicht entbehrt.

Der Anfang wurde im Spätsommer 1984 gemacht. Da gastierten die Tiroler Volkschauspiele auf Einladung des Münchner Volkstheaters mit der Dietmar-Schönherr-Adaption der Aristophanesschen Acharner im eigens errichteten Zirkuszelt in der weiß-blauen Metropole. Auf dem sogenannten Roncalli-Platz traten die Darsteller unter dem neuen Titel Job und der Frieden (Regie: Ruth Drexel) an, sahen das (wie zuvor schon in Telfs begeisterte) Volk — und siegten.

Letztendlich soll es das Volk sein, das im künstlerischen Wettstreit zwischen Hoch- und Niederkultur obsiegen soll. Ruth Drexel will über den Dialekt, «die Sprache der kleinen Leute«, über die Brechtsche Syntax der »gestischen Sprache» Theater von unten nach oben machen. Unter dieser Prämisse will sie auch weiterhin zwischen Residenztheater und Volkstheater hin- und herhüpfen.

Hans Brenner* indessen ist gänzlich zu seinem «Thespiskarren Volkstheater» zurückgekehrt, auf den auch all die Akteure aufgesprungen sind, die, so Brenner, das «fischige Klima» der großen Häuser nicht mehr ertragen haben.

Die Wettervorhersagen klingen günstig: Aus der Alpenregion zieht Kritisch-Heiteres gen Norden und breitet sich möglicherweise überall aus. Daß die Nordlichter dabei auch den gefürchteten Föhn kennenlernen, bringt die Dialektik mit sich.


jean stubenzweig   (15.01.11, 15:20)   (link)  
Schauspiel aus der Lederhose?
Ruth Drexel: Und deswegen glaube ich, wird inzwischen in irgendwelchen Schreibstuben entschieden. Und plötzlich gibt es Leute, die Regeln aufsetzen, wie Theater zu sein hat. Das heißt, das Theater ist von der Straße weg in Richtung Hörsaal oder Schreibstube gelaufen. Und ich glaube, das ist 'ne schlechte Auswahl, weil das wieder diese elitäre Beschränkung auf 'nen ganz bestimmten Personenkreis bewirkt, bei dem alles, was an gesellschaftlicher Kritik beispielsweise, vorgebracht ist, deswegen so gut aufgehoben ist, weil die Voraussetzung dieser Leute, ihr Bewußtsein, daß sie Eliten sind, als große Überschrift sowieso alles aufhebt, nivelliert, was sie sich sonst leisten, daß sie rote Fähnchen schwingen, daß sie also besonders links sich gebärden. Ich meine, das ist doch dadurch wirklich total neutralisiert, daß sie sich in erster Linie als Elite fühlen und für die Elite das Theater machen. Ich glaube, so einen Weg sind die großen Theater allesamt gegangen. Und ich glaube nicht, daß man da sagen kann, sie teilen sich in den Städten, sie haben 'ne Aufgabenteilung. Sondern ich glaube, die Dominanz dieses Runs nach dem Theater-heute-Stern, nach dem Ausflug nach Berlin, um zu den ganz Großen zu qehören, das ist so dominant, daß man nicht sagen kann, daß sich die Theater bemühen um eine Nachricht, die sie überbringen wollen.

Ich glaube, Volkstheater müßte sein ein Theater, das mit einer verständlichen Sprache spricht. Das heißt aber nicht, daß ich nicht verlange vom Volkstheater, daß die großen Themen, die großen Texte, die wir heute bräuchten ... Ich vermisse ja beispielsweis an den großen Theatern auch, daß die Themen. die wirklich brennen, die werden ja gar nicht angepackt. Also wenn ich in der letzten Zeit betrachte, geht's eigentlich immer noch um den Abgesang der bürgerlichen Kultur, um Ehekrisen, um sonst irgend was, was vielleicht 'ne ganz bestimmte Schicht besonders interessiert, aber ich hab nicht ein Frauenstück entdeckt, ein wirklich wichtiges, ich hab nicht entdeckt, daß über all die Dinge, die uns auf den Nägeln brennen, auf den Bühnen irgendwa passiert. Ich glaube, man muß sagen, es beschränkt sich doch mehr oder weniger auf so 'n eitles, ästhetisches, 'ne ästhetische Großolympiade, wo immer rausgefunden wird, wer ist der Allerbeste, wer ist der Zweitbeste, wer ist der Drittbeste. Und wer das bestimmt, ist nicht mal das Publikum, also das sind fünf bis gundert beste Journalisten. Ja, und ich glaube, es wär' ganz wichtig, das Volkstheater wieder den Leuten — unter dieser Überschrift könnte man hoffen — sich einfach wieder dem Publikum zuwenden. Das heißt aber nicht: das Publikum bedienen, sondern das heißt, auch mit dem Publikum in den Clinch gehen, aber die meinen, die unten sitzen, und nicht irgendwas Abstraktes, also einen Preis zu gewinnen, beispielsweise. Das, glaub ich, müßte das Volkstheater leisten.

Moderator: Herr Rühle, gibt es Ihrer Meinung nach überhaupt solche Stücke? Frau Drexel hat es jetzt kurz angerissen. Die Themen sind da. Gibt es die Stücke?

Rühle: Also, ich will nochmal ansetzen bei dem, was Frau Drexel gesagt hat. Frau Drexel, wir sind uns in der Diagnose eigentlich gar nicht so fremd. Sie haben das etwas plastischer gesagt, ich hab das etwas intellektueller formuliert. Aber wir sind eigentlich am selben Phänomen hängengeblieben. Die Eigenentwicklung der Staatstheater hat zu Defiziten geführt, die jetzt ausgeglichen werden sollen. Die Wiederbelebung des Volkstheaters, die ist ja noch gar nicht so alt. Ich glaube, die geht zusammen mit einer Veränderung unseres Kulturverständnisses überhaupt. Wenn Sie an die fünfziger Jahre denken, da war der Dialekt, oder sagen wir auch die Mundart, eigentlich dem Verdacht ausgesetzt, sie stürbe aus, die Hochsprache setze sich durch. Und wir haben die Bildung so zugerichtet, daß alles über die Hochsprache lief. Man war im Urlaub, wenn man plötzlich in andere Schichten hineintraf, immer wieder überrascht, was für eine Konsistenz der Dialekt hat. Und Anfang der siebziger Jahre ist dann was passiert mit dem ganzen Regionalismus, ja mit dem Abbau der intellektuellen Kultur, daß man plötzlich wieder sagt, mein Gott, es gibt ja ganz andere Kräfte, unsere Gesellschaft lebt ja eigentlich aus ganz anderen Kräften als dem, was aus der aufklärerischen Idee nun täglich verbreitet wird. Und dann meldeten sich auch die Defizite: Weg mit der Kritik, wir haben genug davon, von diesem Intellektualismus. Und da kam etwas ganz Spontanes, ein ganz spontanes Verlangen wieder nach einem wärmeren Verhältnis zu den Schaustellungen im Theater. Da kam ja auch dieser ganze Ohnesorg-Boom und was da alles läuft; das ist ja alles schrecklich, was da samstagabends über die Schirme läuft, weil es das platte Volkstheater ist. Aber über Volkstheater zu reden und nach einem Begriff verlangen, ist fast ganz unmöglich, weil dieser Begriff durch die lange Tradition von Volkstheater so vielschichtig geworden ist. Schau'n Sie, Sie haben in Wien eine große Bühne, die heißt Volkstheater, spielt aber kaum Volkstheater, sondern macht nur große Stücke, weil um 1880 eine ganz neue Tendenz aufgekommen ist, die hieß: Kunst dem Volke. Das ist das, also diese Volkstheater, Volksbühne und alles mögliche, das, was auch der Vilar in Frankreich betont hat: Wir wollen die Kunst, die hermetisch auf die bürgerliche Gesellschaft und auf die eigentliche Gesellschaft ausgerichtet war, wir wollen die dem Zugang für alle öffnen. Das ist der eine Begriff vom Volkstheater. Der zielt aber auf die Hochkultur, ja, also Ibsen dem Volk zugänglich machen, also alles dem Volk zugänglich machen. Es gibt den andern, der aus der alten Spiellust des Jahrmarkttheaters gekommen ist, auch aus den alten Traditionen des Lustspiels, also wie wir Stücke haben wie in Frankfurt, den Malz oder den Adolf Stoltze, und das hat sich doch vermischt, das hat sich am Anfang des Jahrhunderts alles vermischt. Ludwig Thoma ist heute ... Was ist Ludwig Thoma heute? Ist das ein Volksstückautor? Oder ist das ein Hochkulturautor? Das läßt sich alles nicht mehr sagen. Und bei Kroetz sehen Sie das Beispiel heute, sehen Sie die Vermischung ganz. Sie können nicht mehr definieren. Ist der Kroetz heute Hochkulturautor oder ist er Volkstheaterautor. Also es ist ein ganz diffuses Feld.

Moderator: Was war Ludwig Thoma damals? Ich glaube, Frau Drexel ist durchaus der Meinung, daß das ein Volkstheaterautor war, als der er auch heute gespielt wird.

Drexel: Also ich würd' da noch viel weiter gehen. Ich würd' zum Beispiel sagen, daß Woyzeck von Büchner ein Volksstück ist. Und ich würde auch glauben, daß zum Beispiel Kabale und Liebe, ist ja auch ein Volksstück. Ich hab da auch große Schwierigkeiten, diese Trennungsstriche zu ziehen. Was ist eigentlich nicht Volkstheater, von guten Stücken? Ich find' nur, daß es in der Aufbereitung, die sie meistens erfahren und wie sie auch verlangt wird, daß sie da enger gemacht werden als sie sind. Und ich würde ein Volkstheater ... Ich würde nicht sagen, man soll es darauf beschränken, diese Autoren alle nicht zu spielen. Bis zu Shakespeare.

Rühle: Sicher hat der Shakespeare eine ganz große Tradition aus dem Volkstheater in sich aufgenommen. Aber ich würde doch nicht so weit gehen, zu fragen: Was ist eigentlich nicht Volkstheater? Sie können sicher einige Gründe beiführen, zu sagen, der Woyzeck ist für mich ein Volksstück. Es spielt im Volk, also nicht in der herrschenden Schicht, und es hat also von daher die Nähe zum Zuschauer, da sind die kleinen Leute drin, da dampft es, da dampfen die Leiber ...

Drexel: Die Menscher dampfe. Des geht. S' is' hessisch geschrieben.


Abschrift aus der Live-Sendung: Volkstteater: Schauspiel aus der Lederhose oder Theater von unten?. Gesprächspartner: Ruth Drexel, Intendantin des Münchner Volkstheater, und Günter Rühle, Schauspieldirektor der Städtischen Bühnen in Frankfurt am Main. Südwestfunk Baden-Baden, 15. März 1985, 17.05 bis 18.00 Uhr


jean stubenzweig   (17.01.11, 19:25)   (link)  
Das Intendanten-Karussell
steht, es wird wieder gearbeitet. Ein Einblick in die Programme der Vollbeschäftigung.

Den Kardinalsmantel der Komödie hat sich wieder einmal Peter Zadek für eine großartige Bosheit umgehängt. Mit darunter steckt ein gewisser Eierkopf, zu neudeutsch Egghead: Hans Magnus Enzensberger. Der hat Molières Menschenfeind neu übersetzt und war dabei überrascht, daß er während der Übertragung des Franzosen Figuren an den Volants von Automobilen aus der Münchner Schmiede mit der weißblauen Raute wiederfand. Dennoch findet die Uraufführung an der Berliner Freien Volksbühne statt.

Dieter Gackstetter, einst selbst Tänzer, bis 1978 drei Jahre lang Direktor der Bayerischen Staatsballetts, begibt sich aufs rutschige Parkett des Schauspiels. Am ebenso staatlichen Münchner Cuvilliétheater inszeniert er Das Herzeleid einer englischen Katze, ein Stück der französischen Autorin und Brecht-Übersetzerin Geneviève Serreau.

Der aus Schwaben an den Kohlenpott vertriebene Claus Peymann startet am Bochumer Schauspielhaus mit Torquato Tasso. Goethes Drama um den italienischen Dichter der Spätrenaissance — der Künstler und die Mächtigen — ist für den neuen Intendanten sicherlich ein besonders reizvoller Stoff.

Am Rhein findet Politik auch mal in der Werkstattbühne des Bonner Theaters statt. Die Uraufführung der beiden Einakter Protest von Václav Havel und Attest von Pavel Kohout dürfte dem Osten Europas kaum Gesundes bescheinigen.

In der Basler Theaterwerkstatt gastiert Peter Brooks Truppe mit König Ubu. Alfred Jarry, noch ein Franzose, hatte das Stück vom wilden Kleinbürger, der es mit Gewalt und Tücke zum König von Polen bringt, ursprünglich fürs Marionettentheater geschrieben. Der Engländer Brooks hielt sich an die erste, nahezu unbekannte Fassung.


Flohmarkt: Savoir-vivre, 1979















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