Die Liebe zum Tier oder Romantischer Exotismus

Ein recht malade auf mich wirkender Mann an die Fünfzig versucht einen etwa anderthalb Meter großen, vermutlich mangels Bewegung ziemlich fetten Gecko aus einem Terrarium zu heben. Mein erster flüchtiger Gedanke geht in Richtung jener Tierfreunde, die sich mit einem Wellensittich oder einer unter den Maulkorberlaß fallenden Edelk(r)ampftöle nicht mehr abfinden, weil sonst die individuellen Charaktereigenschaften in der Masse untergehen könnten. Nachdem er es schließlich geschafft hat, setzt er ihn auf einem gefließten Couchtisch mit Häkeldeckchen ab und versucht ihn später vom halbierten Imitat Brüssler Spitze zu lösen, das ein wenig den calvinistisch freien Blick von außen in die Wohnung verhindern soll. Beschämt will ich den Blick abwenden, zumal ich beim Switchen unbeabsichtigt hineingeraten war in eine dieser mitteldeutschen Sendungen, die unter dem Begriff Reportage immer wieder unabwendbare Schicksale ehemaliger Ostzonenbewohner zur Schau stellen. Doch dann höre ich noch, der am untersten Unterhaltsrand gerade noch vegetierende Mann habe die Tierchen, ursprünglich mal vier an der Zahl, geblieben waren drei, von seinen verstorbenen Eltern geerbt und bekomme sie, trotz intensivster Bemühungen nicht los, kein Zoo, keine Tierhandlung habe Interesse, auch kein sonstiges Asyl solle ihnen gewährt werden. Und das, obwohl der die Hinterlassenschaft seiner Erzeuger liebevoll pflegende Sohn sich in Kürze einer langwierigen Behandlung in einem Krankenhaus unterziehen müsse. Also schalte ich die zunächst (vor-)urteilsbeladenen Gedankengänge ab und bleibe im Programm, zumal sich tatsächlich ein Bericht über ein Phänomen abzeichnet, das bereits vor einiger Zeit ansatzweise kopfschüttelnde Ratlosgkeit in mir hervorgerufen hat.

Geschildert wird eine offenbar seit einigen Jahren zunehmende Liebhaberei, von der ich bislang annahm, sie sei eine vorübergehende Erscheinung gewesen, die ihre Anfänge in den Achtzigern mit Ratten als Schmusetierchen nahm und von mir allenfalls als abschließendes Kuriosum wahrgenommen wurde, als die Medien verlauten ließen, es sei ein Krokodil in einem Baggersee gesichtet worden. Doch diese Fälle scheinen sich zu häufen. Denn in nahezu allen Fällen bedenken die Käufer dieser niedlichen Exoten, daß diese naturgegeben wachsen. Und so, wie früher zu Urlaubsbeginn das am Ferienort nicht gelittene Hündchen (oder auch schonmal der leibeigene Nachwuchs) an Raststätten vergessen wurde, so entledigt man sich offenbar mittlerweile seines inzwischen fast zwei Meter langen Hauskaimans an einem Badegewässer. Drei und mehr Meter lange Schlangen wie beispielsweise einer Python gibt man offensichtlich bevorzugt an inzwischen renaturierten und damit ihrer Dschungelheimat nahekommenden Flüßchen die Freiheit, wenn der Boa Constrictor das Leben als Familienmitglied nicht ohnehin nervlich zu aufreibend geworden war und sie bei der alten Dame der Nachbarwohnung stille Geborgenheit gesucht hat.

Längst scheinen Tierheime vor umfangreicheren Umbaumaßnahmen zu stehen, mit denen Hundezwinger, Hasenställe sowie Katzen- oder Meerschweinchenkäfige aufwendig zu errichtenden Terrarien weichen müssen. Ganze Völker sind offenbar beseelt von ihrer Liebe zum Tier, das die besonderen Charakteristika des Einzelwesens spiegelt. Riesige Märkte haben sich da aufgetan, in denen von der (noch) kleinen Vogelspinne oder der niedlichen Kreuzotter nahezu alles angeboten wird, was nicht gewöhnlich ist. Bereits für zehn Euro bekommt man solche Schnuckeligkeiten in ehemals Cremes und Fertignahrung eine Heimstatt bietenden Behältnissen überreicht. Und wie sollte es anders sein: Erhebliche, zunehmend und immer rascher wachsende Marktanteile hat das Internet. So kommt es dazu, daß ein Mann mit drei von ihm offerierten giftigen Schlangen in einer Stoffreisetasche mit der Bahn fünfhundert Kilometer durchs Land fährt.

Doch nicht etwa nur von bunten Blättchen oder anderen Bildungszeitungen bereits intellektuell Überbeanspruchte leben auf diese Weise ihren Hang zum romantischen Exotismus aus, der also nicht nur unter denen vorzuherrschen scheint, denen es nicht vergönnt ist, Abenteuerreisen in ferne Länder unternehmen zu können (wo ihnen dann solch ein Tierchen im Hotelzimmer oder am Swimmingspool zur Klage wegen Minderung des Urlaubsglücks gereichen könnte). Auch manch ein Ingenieur, Kultureventmanager oder Physiker scheint davon geradezu besessen. Einige offenbar besser Verdienende haben nicht etwa einer Geliebten eine wegen der Möglichkeit des Verdunkelns gemütliche Zweizimmerwohnung für gelegentliche Stunden im Zentrum einer Stadt gemietet. Vermutlich weil das zu aufreibend wäre, unterhalten sie solche Immobilien eher der Liebe (zum Tier) wegen. Ein solcher will von seinen Riesenschlangen auch nicht ablassen, nachdem ihm eine entfleucht ist und als Rache für seine mangelnde Aufmerksamkeit mit ihren Zähnen den Stiefel durchdrang, worauf er in eine Klinik transportiert werden mußte, die in der Mitte der achthundert Kilometer nach München lag, von wo aus das Gegengift geblaulicht worden war. Quasi in letzter Minute blieb das Bein dann doch dran. Bezahlt hat die Rettungsaktion die Krankenkasse.

Und wie das oft so ist, wenn man sich mal näher mit einer Sache beschäftigt hat: Vergangene Nacht landete ich beim schlaflosen Zappen gar bei einem Zoodirektor, der mit seinem Otter an der langen Leine durch Stadt, Land, Fluß und Flur Gassi geht.

Ach, um der Vollständigkeit Gerechtigkeit zu geben: Die drei oben erwähnten Geckos haben dann doch noch Asyl geunden. Es dauerte eine Weile, weil das Tierheim zuvor noch umgebaut werden mußte.
 
Fr, 24.06.2011 |  link | (1914) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Seltsamkeiten


diplomuschi   (24.06.11, 21:34)   (link)  
Ich kenne jemanden,
bei dem würden die Tierchen alle in der Pfanne landen. Bei uns will er immer an den Labor-Axolotl, weil er glaubt, seine Extremitäten schmeckten wie Froschschenkel.


jean stubenzweig   (28.06.11, 11:06)   (link)  
Weiter tragisch wäre
das doch auch nicht aufgrund der Tatsache, daß dem, so meine Information aus dem Laboratorium der Mysterien, die Schenkelchen immer nachwachsen. So gesehen wäre das doch eine Geschäftsidee – man könnte mit chemiefrei Feinem in Konkorrenz treten zu den oligopolistischen Nahrungsmittelverhunzern. Allerdings wäre das Feine an sich zunächst einmal herauszufinden bzw- zu -kosten. Zu diesem Behufe müßte man mich dann doch erstmal hineinlassen ins Terrarium. In seiner Gänze tranchieren will ich ihn ja nicht. Ich bin doch kein schnöder Roadkiller.


damenwahl   (25.06.11, 14:16)   (link)  
Wir hatten als Kinder eine Leine für das Kaninchen. Haben wir aber selten genutzt. Dafür wurde mir im Kongo mal ein Krokodil im Eimerchen zum Kauf angeboten. Zum Essen war es zu klein, also muß es wohl als Haustier gedacht gewesen sein. Jetzt ahne ich auch, wer sowas kauft. Ich damals aber nicht.


jean stubenzweig   (26.06.11, 11:34)   (link)  
Eine angeleinte Katze
habe ich auch schon einmal gesehen, und selbst wenn es mir schwerfällt, kann ich mich einer gewissen Logik nicht entziehen, die wohl darin enthalten ist, wenn ein altes Muttchen oder ein kleines Mädchen meint, dem Haustier damit etwas Gutes zu tun, indem es ihm einen Ausflug durch die Straßenschluchten gönnt, sich aber ängstigt, es könnte das Weite suchen. Meiner bindungsunwilligen Mimi, täte ich der für einen Spaziergang durch Feld und Flur einen Strick um den Hals legen, sie würde mich auf der Stelle in die Psychatrie einweisen lassen. Gänzlich endet meine Vorstellungskraft von Tierliebe oder -haltung bei einem Wildtier wie einem Otter, der sogar beim Krebs- oder Fischfang im See oder Fluß an der ausfahrbaren Hundeleine eines akademisch geschulten Tierfachmanns hängt. Hier scheint mir bei dem Herrn etwas aus den Windungen geraten zu sein, das man mir mit Forschungsaufgaben nur schwerlich erklären kann. Es dürfte sich eher um eine kameragerechte Geschichte für die TV-Tendenz der allgemeinen und zunehmenden Pervertierung von Tierliebe gehandelt haben.

Und tatsächlich wurde in der oben erwähnten Reportage auch ein junger Mann gezeigt, der einen armlangen, müllerschenkeldicken* Gecko mit in seine Berliner oder Hamburger Stammkneipe schleppte, um sich bewundern zu lassen. Sich, nicht etwa den anderen Exoten. Es gab eine Zeit, da suchte man unter Kumpels Anerkennung, indem man ein Mobiltelephon vom Ausmaß zweier Schuhkartons auf den Tresen stellte. Aber das war seinerzeit auch nicht ganz so günstig zu erwerben und auch im Unterhalt teurer als ein solch ein scheues, nachtaktives und tropische Wärme schätzendes Tier, das im Kleinformat noch für den Preis einer Flasche Wein zu haben war und lediglich eine Weile mit Erzeugnissen eines regional ansässigen biologisch-dynamischen Gärtners gefüttert werden mußte (dabei heißt es doch immer, Salat mache nicht dick).

* Um der Aktualität und der Gleichberechtigung willen: Müller, «der bescheidene Torjäger mit den legendären Schenkeln»; Fußball ist eine Religion und zugleich Gott derselben.


g.   (27.06.11, 07:21)   (link)  
In den USA schenken die Väter ihren Sprösslingen gerne eine junge Raubkatze. Nach einigen Monaten ist aus dem niedlichen Racker dann eine stinkende Gefahr geworden und geht den Familien rechtschaffen auf den Wecker. Viele kommen dann auf die Idee den Halbwüchsigen im nahen Stadtpark auszusetzen. Soll sich halt jemand anders drum kümmern. Nun: das Land mit den meisten Tigerunfällen ist inzwischen nicht Indien oder Russland, sondern ... Ob dieser Rekord schon im Guiness Buch aufgeführt ist?


jean stubenzweig   (28.06.11, 01:22)   (link)  
Unsere Freunde im Westen
lassen dafür ihren Hauskatzen die Krallen entfernen, etwa so, wie man der Jungkuh die Hörner oder dem Ferkel den Schwanz abschneidet. Der Grund: Sie würden alles kaputtkratzen und sich ständig in den Vorhängen verfangen. Im guten alten Europa nimmt man für die Gardinen aus Spitzenimitat jetzt Geckos. Die kommen überwiegend auch aus dem Westen. Man könnte meinen, das seien Kulturfolger.















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