Energieromantische Pendlereien

Immer wieder offenbart mir meine offensichtlich unerschöpfliche Ausgrabungsstätte, mein Archiv, Sachverhalte, nach denen ich garantiert nicht gesucht habe. Geforscht hatte ich nach Unterlagen zu Frau Braggelmanns Pendlerinnendasein. Das Landei seit Geburt mußte sich nämlich schon wieder ein neues Automobil zulegen, weil der öffentliche Nahverkehr auf ihre Dienst- und sonstigen Versorgungszeiten, schon gar nicht auf die Bedürfnisse der unmittelbaren Verwandtschaft näher einzugehen gedenkt. Dabei stieß ich unfreiwillig auf die Äußerung einer Dame, die ich sehr frei nach Kandinsky einordne: «Deswegen ist das [...] Grün im Farbenreich das, was im Menschenreich die sogenannte Bourgeoisie ist; es ist ein unbewegliches, mit sich zufriedenes, nach allen Richtungen beschränktes Element.»
«Viele Pendler werden am Mittwoch eine Flasche Sekt aus dem Keller geholt haben. Denn der Bundesfinanzhof hat entschieden: Es ist verfassungswidrig, dass nur wer mehr als 20 Kilometer zur Arbeit fährt, 30 Cent pro Kilometer von der Steuer absetzen darf. Diese Regelung galt seit Januar 2007.

Doch die Häuslebauer, die auf der Suche nach billigem Bauland rücksichtslos die Landschaft zersiedeln, sollten lieber nüchtern bleiben. Zwar ist es wahrscheinlich, dass auch das Bundesverfassungsgericht das schlampig formulierte Gesetz Ende des Jahres zurückweist. Längerfristig aber wird es immer teurer werden, weit draußen im Grünen zu wohnen. Und das ist gut so. Schließlich ist nicht einzusehen, dass Leute im Vorteil sind, die ihre Mitmenschen tagtäglich mit Autoabgasen eindieseln.»
Was ist daraus eigentlich geworden? Denn:

«Und das ist gut so», ließ Annette Jensen in ihrem Taz-Sachkommentar vom 24. Januar 2008 die Leser noch wissen. Fast möchte unsereiner meinen, die Regierendenliebe habe dabei ein wenig mitformuliert, weil der sich einst Enthüllende dringend und gerne noch ein paar Provinzler hätte, die Berlin steuerlich aufforsten helfen, auf daß das Riesenloch nicht am Ende gar ein grünes, schwarzes oder beides werde?

Auf jeden Fall hat da mal wieder jemand geschrieben, der oben auf dem Berliner Grünen Ausguck hockt und übers Land blinzelt und nur runtersteigt, um allenfalls mal rauszufahren nach Lübars zum Familienkaffeekochen.

Es war und ist unterm Strich, teilweise seit Jahrzehnten, auf jeden Fall schon seit langem teurer, auf dem Land zu leben. Die miserablen, teilweise nicht (mehr) vorhandenen Infrastrukturen gingen immer in irgendeiner Form ans Portemonnaie der Landbewohner. Eben deshalb ist der größte Teil der Landbevölkerung gezwungen, das Auto zu benutzen, da in vielen Landstrichen Bus und Bahn so gut wie nicht mehr unterwegs sind, viele gar nicht wegkommen aus den Dörfern, geschweige denn wieder nach Hause.

Draufgezahlt hat der Landler (in den strukturschwachen Gebieten) ohnehin immer, jedenfalls in den letzten zwanzig Jahren. Es sei denn, er war, im Lebensmittelbereich, Selbstversorger. Doch den gibt's ja auch kaum noch. Die klassischen Bauernhöfe sind EUroglobalistisch plattgemacht worden; begleitet von heftigem deutschen Regierungsnicken und bücklinghaftem, vorauseilendem Gehorsam gegenüber der Lebensmittelindustrie. Und die Reihenhäusler bauen längst keine Keller mehr, sie lagern ihre preisgünstigen Nullachtfuffzehnkartoffeln aus Chile oder China bei den Großbilligheimern ein und holen sie bei Bedarf quasi gegen (letztlich teures) Korkengeld ab. Also zahlen alle gezwungenermaßen die Preise, die von den in ländlichen Regionen angesiedelten sogenannten Discountern gefordert werden. Wobei die oftmals über den städtischen liegen, zumindest im Bereich der sonstigen Verbrauchsgüter. Deshalb steigen sie wiederum ins Auto, um sich städtisch behumsen zu lassen. Daß auf dem Land alles billiger sei, ist eine Meinung, die nur von Menschen übermittelt werden kann, die ihre Informationen aus der Adenauer-Zeit beziehen.

Das mit den Grundstückspreisen beziehungsweise der Stadtflucht hat seine Gründe in einer seit langem bekannten Tendenz. In zehn Jahren sind die unvermeidlichen Siedlungshäuser, die nicht nur von den Agrar-Banken wider besseres Wissen in hohem Maße kreditiert werden, allenfalls noch die Hälfte wert. Aber der Bauernsohn, der schon lange keiner mehr ist, muß nunmal (Häusle) bauen, (Buchs-)Bäumlein pflanzen, (Kindchen) zeugen. Das steckt nunmal in seinen verwabbelten Genen.

Das alles ist leicht nachzulesen, man muß dann allerdings bereit sein, sich klugmachen zu wollen, bevor man schreibt; unsereins nennt das Recherche und ging dafür zu journalistischen Steinzeiten ins Archiv; teilweise wurde die Stadtflucht aus den genannten Gründen bereits öffentlich-rechtlich thematisiert. Fazit dieses Kommentars ist jedoch: die Flucht vom Land findet alleine der Energiepreise wegen statt. Und deshalb ist dieser taz-Text blasiert zu nennen, es ließe sich auch sagen: stümper-, na ja, lehrlingshaft.

Denn Annette Jensen argumentiert alleine aus der energiepolitischen Gartenzwergperspektive. Überdies stellt sich ja wohl auch die Frage, was mit den Menschen geschieht, die beziehungsweise deren Familien seit Generationen, Jahrhunderten in den Dörfern angesiedelt sind. Aha, mag sich unsereiner bei einem solchen Text denken: die dummen Bauern sollen jetzt alle (wie in China) die Stadt ziehen. Am besten nach Bitterfeld oder ähnlich. Bloß nicht auch noch nach Berlin. Da sind ja wir schon, wir Altberliner aus Bargteheide, Bielefeld oder Untertürkheim. Und wir solchigen Berliner wollen dann nämlich endlich mal wieder durch die Natur, durch dann menschenleere Dörfer gondeln können, um ein paar von der weit draußen auf der letzten Warft hockenden Bio-Bäurin persönlich gelegten Eier einzukaufen. Selbstredend mit dem Fahrrad (auf dem Autodach), weil's so energieromantisch ist.
 
Mo, 12.09.2011 |  link | (1849) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs


little devil   (12.09.11, 17:11)   (link)  
*schluck*
Für diesen ganzen Text hätte ich 1ne Stunde gebraucht, Hut ab! :3


jean stubenzweig   (12.09.11, 19:54)   (link)  
Schluckbeschwerden?


nnier   (13.09.11, 17:50)   (link)  
Genau solches kann man eben auch "spießig" nennen, egal, wie metrosexuell-urban sich das eigene Lebensentwürflein auch geben mag: Bloß innerhalb des eigenen Gartenzauns denken, aus dieser Garttnezwergperspektive die ganz Welt erklären und am besten auch gleich regulieren. Das auch diskussionswürdige Problem der Zersiedelung rund um die Städte (in den sogenannten "Speckgürteln" vor allem) kann dann herhalten, um gewachsene (Infra-) Strukturen gleich mitzuerledigen. Und beim Thema "Volldieseln" sähe ich wirklich gerne mal den virtuellen Öl- und Wasserstand von städtischen Schnittblumenkäufern wie mir.


jean stubenzweig   (13.09.11, 21:25)   (link)  
Die Landschaftszersiedlung
ist selbstverständlich auch ein Problem, und eben nicht nur in den Speckgürteln. Da gerate ich seit Jahrzehnten so manches Mal – in schlechten Phasen in Anfälle von Trauer, in guten in solche von Wut. Sie kennen es: Von der Jungbäurin ... Für um so bemerkenswerter halte ich die Tendenz, die ich als alter Anhänger der Confédération Paysanne seit langem herbeiwünsche: In allen erdenklichen, vor allem rechtsrheinischen Gegenden versucht man die Dörfer wieder zu beatmen, indem man beispielsweise neue Kramerläden schafft, die teilweise durch genossenschaftsähnliche Vereine getragen werden. Von zwei Dörfern, ich meine in der Pfalz und einem im Hunsrück, habe ich gelesen, in denen die Bürgermeister zentral gelegene Althäuser aus den sechziger, siebziger Jahren zu günstigen Konditionen auch für die Renovierung anbieten. Und es scheint zu funktionieren, einige kommen auf diese Weise für hundertfünfzig- bis hundertachtzigtausend Euro zu einem sogenannten Energiesparhaus, für das neu und am zersiedelnden Dorfrand mindestens fünfzigtausend mehr an den Großserienanbieter mit mindestens so langweiliger Architektur bezahlt werden müssen, in der Regel zuzüglich Grundstück.

Überhaupt scheint ein Gesinnungswandel in der Verbesserung der Infrastrukturen stattzufinden, den ich als Lichtblick empfinde: sogar in der Selbstversorgung im Energiesektor tut sich einiges. Der öffentliche Nahverkehr scheint davon jedoch nichts wissen zu wollen. Da wird man vermutlich auf ewig abgehängt bleiben, lebt man nicht in einem Speckgürtel, der beispielsweise vom HVV versorgt wird. Der bringt einen sogar abends um elf noch per Bus nachhause. Aber wer außerhalb dieser Verkehrsverbünde sitzt, der kuckt auf die leere Straße. Zwei Schulbusse am Tag, zu Ferienzeiten gar keine (in Frankreich dürfen die sogar ausschließlich von Schülern benutzt werden). Da geht nichts ohne zwei Autos, manchmal sind sogar drei nötig, schließlich haben die Arbeitnehmer flexibel zu sein.


einemaria   (14.09.11, 00:14)   (link)  
Vor Ort im Vorort
ein wahrhaft mögliches Finanzmodel. Und in der heimlichen Hauptstadt, oder so, wird auch der Speckgürtel gut befüttert mit Nachtlinien. Ich bin überrascht.
Aber warum steuerlich belohnt wird, wer in dieser Nische siedelt? Wer vor Ort im Vorort arbeitet, bekommt keinen Cent, wird sich aber in jedem Fall die gleiche Monatskarte kaufen. Ob da die Autoindustrie ihre Finger im Spiel hat? Ich verweise auf die Verbindung des ADAC zur Al Quaida.
Aber so ist es ein gutes Finanzmodel für Auto und Fahrer. Eigenheimzulage, Pendlerpauschale und ein Blick ins Grüne mit Wertsteigerung im Speckgürtel. Weiter draußen ist es sicher schwieriger und alleine zum Saufen ist für den lebensnotwendigen Lappen tödlich.


jean stubenzweig   (14.09.11, 14:11)   (link)  
Sogar bis in die Bangliö
gibt's mittlerweile 'ne Overnightline? Buona notte aber auch! Hat das noch dieser gerne Oberbürgermeisterkette tragende Kronawitter-Wiedergänger angekurbelt, um die weiß-blau-rote Landesvaterschaft widerstandsloser übernehmen zu können? Und wenn, dann hat er immerhin solange gewartet, bis die Stadt der Stillen Winkel mich endlich los war. Denn zu meinen Leidensjahren gab's gerademal ein Nachttramerl nach Art der Linie 8 vom Gottesacker zum Friedhof.

Die Kooperation zwischen öffentlich und privat, also staatsterroristisch gesteuertem Nah- und Fernverkehr erscheint logisch. Möglicherweise tritt die deutsche Autoindustrie deshalb so auf die Elektrobremse, weil mit Kabinen nicht so ein Reibach zu machen ist. Wie die deutsche Rennbahn AG auch nur die schnellen Strecken aufrüstet, um international an Renommée sprich Wert zu gewinnen, um im Krieg gegen den kleinen Bürger die Oberhand zu behalten. Aber der wehrt sich ohnehin nicht sonderlich und leidet lieber still vor sich hin, weil er auch gerne ein bißchen ein großer werden will.

Und was das Saufen auf dem idyllischen Lande betrifft: hinfällig. Zumindest in Kurz-vor-Sibirien braucht kaum noch ein Wirtshaus Ruhetag, da nahezu alle dauerhaft geschlossen sind. Die öffnen nur noch, wenn der Sohn vom ehemaligen Bauern samt riesigem Kumpelkreis eine einzige Frau heiratet, um endlich auch ein Haus bauen zu dürfen, weil er in die vor zwanzig Jahren errichtete und somit uralte Hütte vom Vater nicht einziehen will und für das er als Lediger nicht einmal mehr vom mittlerweile ebenfalls konzernierten Herrn Raiffeisen einen Kredit bekommt. Und da bei dieser Feier die Ortspolizisten mitschlucken, bleiben auch die Wachen der Umgebung bis in den nächsten Landkreis und die ausgeschlafenen Räusche dicht. Da würde selbst der von einer neben- oder über- oder unterstaatlichen Institution an al-Qaida in Auftrag gegebene Anschlag auf die Reste des sozialen Gefüges und gemeinschaftlicher Ordnungshütung in leeren Ortsrandlagen verpuffen.















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