Tolles Patschnäpfchen

Was ich so alles aufhebe. Rostige und verbogene Nägel waren eigentlich bislang nicht unbedingt mein Begehr der Sehnsucht nach dem Guten Alten, Wahren und Schönen. Aber in der hintersten Ecke des Dachstübchens nahezu vergessene Nachrichten, die haben wohl etwas von dem, was irgendwann wieder auftaucht während der Suche nach einem Schatz, den man mal ins Verborgene geräumt hatte, die dort auf ihre Chance lauern, wieder ins Blickfeld der Öffentlichkeit zu geraten, um dann geradegehämmert und anschließend so lange mittels feinstem, mit Diamanten bestäubtem Papier geschliffen zu werden, bis sie wieder glänzen wie frisch aus der Manufactum von Otto und Edlem Halt geben dürfen, zum Beispiel dem mir vorgestern zugegangenen (man kennt sie, die Geschichte vom Teufel und dem Haufen), hochgeschätzten Kunstwerk, das vor zehn Jahren nicht in ein Handbuch aufgenommen wurde, weil die Zahl (der Auflage) unseriös sei:

Volker Hildebrandt: BRD, 21 x 30 cm, 1996, signiert und numeriert, Auflage:1.000.000.000
Edition Siegfried Sander, Kassel (heute Multiple Box, Hamburg) *

«Obwohl Fisimatenten und Tohuwabohu am häufigsten vorgeschlagen wurden», meldeten am 26. April 2008 gleichstimmig die am Agenturtropf hängenden Tagesschau und vermutlich alle anderen Radiosender sowie Bildungsblätter, «ist der aus dem Ungarischen stammende Tollpatsch zum ‹besten eingewanderten Wort› in Deutschland gekürt worden. Das ist das Ergebnis eines Wettbewerbs des Goethe-Instituts in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Sprachrat. Gemeinsam hatten sie den Wettbewerb ausgerufen, um die ‹schönsten Wörter mit Migrationshintergrund› hervorzuheben.»

Das war geradezu ungeheuerlich erneuernd, was einer wie ich da an Neuerlichkeiten erfuhr: Migrationshintergrund. Heute würde ich in aktuellen Bezügen gründelnd rätseln und vermuten, es könnte jemanden gegeben haben, der irgendwas für oder gegen den aus Ungarn stammenden Nicolas Sarkozy gehabt hätte. Doch Wahlkampf gegen einen machen, noch dazu gegen einen, der bereits Monsieur le Président de la République war und für den es zudem noch eine ganze Weile dauern sollte, bis er mit dem oder der Deutschen umgehen würde wie ein an Fisimatenten (Besuchen Sie mein Zelt; Er hat mich eingeladen) und folglich hochgradigem Tohuwabohu erkrankter Tolpatsch, der nichts im Kopf hat als schwänzelnde Milliarden? (Entsteht aus solcher Wirrung gar Liebe? Oder ist das eine aus altersschwachem Samen gezüchtete, gleichwohl von vielen herbeigesehnte europäische Seifenoper titels Merkozyalismus?)

Fragwürdige Assoziationen beiseite: Auf jeden Fall erstaunt es mich, daß Herr Goethe so lange braucht, um das Wörtchen endlich durchzusetzen, das unsereins benutzt, seit er die deutsche Sprache erlernt hat, also seit einigen Jahrzehnten. Mit seinem ziemlich langen elegischen Gedicht hat er nicht so lange gebraucht. Doch da hatte ihn schließlich die liebe Notdurft getrieben, genauer, die Kutscher die Pferde von Marienbad nach Weimar. Aber vielleicht war es ja lediglich das zweite l im Wörtchen, das im bedächtigen Zuge der irgendwie womöglich doch leicht schwerfälligen oder auch -gängigen sogenannten Reform der Rechtschreibung aus dem ebensolchen Talpas einen Tollpatsch machte.

Wie auch immer: Zu meinem aktivem Wortschatz, der allerdings bereits fünfhundert Wörter leicht übersteigt und deshalb nicht unbedingt über solche PR-Klimmzüge für die wortnotleidende deutsche Nation erhöht werden muß, gehört das schrullig-schöne fremde Wörtchen, bei dessen Lesart manche in die vollstenst tollerant gewordenen Patschhändchen geklatscht haben mögen, schon länger. Ich werde im nachhinein den Verdacht nicht los, die Stiftung Lesen könnte seinerzeit die Gäule angetrieben haben, diese schlimme Roßkutscherin deutscher Großbuchverlage mit dem alternden Leidhengst namens Goethe, von dem noch jeder fallengelassene Apfel ins Blatt oder in den Sender gehievt wird, als ob's ein deutsches Stück Discounterfleisch zum Weichreiten unter einem göthianischen Sattelhintern wäre, wenn es nur mit zu Druckendem zur deutschen Leidkultur zu tun hat. Tolpatsch gehört (wie die meisten anderen preisverdächtigen Termini!) bereits seit Jahrzehnten, also lange vor den Zeiten, als ich begonnen hatte, den Faden durch das Nadelöhr für das Autorenkamel zu fädeln, zu meinem kleinen, aber respektablen Sprachschätzchen; übernommen von der zu Beginn des 20. Jahrhunderts geborenen und der deutschen Sprache wahrlich mächtigen, weil beruflich (auch) von ihr und mehr mit ihr als mit uns lebenden Mutter; doch selbst meinem 1875 geborenen, eher östliches Deutsch sprechenden Vater war dieser also alte Begriff geläufig. Und deshalb wird er genauso auf meinem Dachstübchen der Erinnerung (gänzlich ohne Arbeit) auch so liegenbleiben — so krumm und verrostet er auch sein mag, nämlich in seiner ursprünglichen etymologischen Ableitung ins Deutsche: mit einem l. Tolle Patsche, diese neurechtschreiberischen Sprachräthe im Namen des Herrn Geheimraths, dem Vordenker der Geilschrift.


* Rückseitige Beschriftung des obigen Kunstwerkes:
"BRD"

von Volker Hildebrandt
(Hildebrandt Laboratories Cologne)
1996
Offsetdruck/Karton
21 x 30 cm
Auflage 1.000.000.000
signiert und numeriert

Seit der Vereinigung vor ein paar Jahren wird bei veröffentlichten Zahlen vorausgesetzt, daß es sich um Milliarden handelt. Die Einheit der BRD ist die MRD.

Allein im kulturellen Bereich ist die Million nach wie vor die Größenordnung. Mit gen Null fallender Tendenz.
Es ist an der Zeit, die MRD auch in den kulturellen Bereich einzuführen. Mit der Grafik "BRD" wird dies geschehen.
Sie wird eine Auflage von einer Milliarde haben. Numeriert von 1/1.000.000.000 bis 1.000.000.000/1.000.000.000~ Und
signiert. Von jeder verkauften Grafik werde ich 2 DM erhalten. Nach Abzug der zu leistenden Steuern wird es, sobald die
Auflage vergriffen ist, im kulturellen Bereich einen Milliardär geben. Mich.

Die Grafik wird billig sein. Ihr Preis wird DM 10,- betragen. Damit ist sie für den kleinen Mann erschwinglich. Das muß
so sein, weil wir uns von ihm alle Milliarden holen.
Im Preis von DM 10,- wird ein "Kulturgroschen" enthalten sein. Das muß so sein, weil karitative Attitüden den Verkauf
ankurbeln.

Mehrfach und Hamsterkäufe sind erlaubt und erwünscht.

Volker Hildebrandt, März 1996
Edition Siegfried Sander
Kassel

 
Do, 10.11.2011 |  link | (1583) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: lingua franca















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