Die Kleinen im Großen

Brief aus Talmont, aus einem seit langem vergangenen Jahrtausend.

Mon cher Jean,
so oft warst Du nun bei den francofolies in La Rochelle, bist jedesmal auf Umwegen rund 2.000 Kilometer hin und dann nochmal 3.000 zurückgefahren — und weißt noch immer nicht, was es mit den Régions, mit den Départements, mit den französischen Kraftfahrzeugkennzeichen (ein schrecklich deutsches Wort!) auf sich hat. Das geziemt sich nicht für jemanden, dessen Blut zur Hälfte französisch fließt, vielleicht von von einem, der bald schon seinen Rotwein im Atlantique auf Trinktemperatur hinunterkühlen lassen möchte (das läßt Du am besten keinen anderen Franzosen wissen — aber Du trinkst ja auch Wein mit Wasser vermischt ...). Andererseits wissen viele unserer Landsleute nicht, wo dieser jährlich gefeierte 14. Juli und seine Gelage etwas mit einer anderen Art von Aufstand oder gar dem Tanz der Demoiselles durch Avignon zu tun hatten, was wiederum nichts mit Sur le pont .... Nun denn:

Obwohl es schon seit 1765 eine Einteilung Frankreichs in Départements gab, verdanken wir nicht nur Deine Lieblingsbeschäftigung, die, wie Du sie nennst, Ärmerenspeisung, sondern auch die im wesentlichen noch heute gültigen Regierungsbezirke der Révolution.

Photographie: La Bataille socialiste

Vor der Bildung der Verfassung im Jahr 1789 hatte man die Vorstellung, Bezirke zu schaffen, in denen der Staat in allen Institutionen lokal vertreten sein sollte und dessen Größe so zu bestimmen, daß die jeweilige örtliche Hauptstadt (d. i. Chef-lieu) von allen Punkten aus zu Pferd binnen vierundzwanzig Stunden zu erreichen war. Benannt wurden die Départements nach vorhandenen örtlichen Gegebenheiten; oft war es ein Fluß, ein Berg oder ein Tal. Nach diesen Namen wurden sie alphabetisch geordnet und numeriert, zum Beispiel: 1=Ain im Südosten, 2=Aisne im Norden und so weiter — es gab damals 83 Départements. Die vergebenen Nummern galten für alle administrativen Bereiche, und man findet sie noch heute in der Gleichheit der Postleitzahlen und Autonummern.*

1964 wurde Paris ein selbständiges Département. Die Gegend um die Haupstadt, die Île de France, wurde in fünf neue Départements (91 bis 95) unterteilt. Corsica wurde sozusagen halbiert (20 a und 20 b). Die überseeischen Départements erhielten dreistellige Nummern, so Guadeloupe: 971, Martinique: 972, Guyane française: 973 und Réunion: 974. Doch um nicht allzu sehr in die Ferne zu schweifen beziehungsweise in der Nähe des nächst- und naheliegenden partir en week end im Mutterland zu bleiben: Alsace (Bas-Rhin und Haut-Rhin) trägt die Nummer 67, da das ‹R› von Rhin in der alphabetischen Anordnung an der 67 Stelle steht. Die Nachbarschaft, wo mit Metz oder Nancy Deine Vergangenheit auch ein Stück Heimat hat, hört auf die Nummer 54. Ein paar Kilometer weiter weg befindet sich der Lozère westlich der Ardèche im Massif central, für diesen heißt das: 48. Und dem Gelände, in dem Du Dich am liebsten herumtreibst, die Charante Maritime mit der Hauptstadt La Rochelle (etwa zwischen Nantes und nordöstlich von Bordeaux — das die 33 trägt — gelegen), wurde die 17 zugeteilt.

Bis (hoffentlich) bald in der Vendée mit der 85.

Martine

* Die französischen Kraftfahrzeugkennzeichen sind mittlerweile auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Inzwischen haben sich auch die, hat sich ohnehin alles geändert. Ich fahre kaum noch an den Atlantik, sondern plätschere wie alle an der Badewanne Meditérannée, und die alte Langsamkeit ist sogar in Frankreich dahin. Alles will metropol werden, sogar (die) Marseille(aise)
 
Mi, 14.12.2011 |  link | (2095) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches


einemaria   (16.12.11, 01:08)   (link)  
20a und 20b
... da würd ich mich aber auch kräftig aufregen. Selbst als Hausnummer, für mich unbewohnbar. Alphabetisiert werden irgendwie die Dinge, die nicht für die Ewigkeit, sozusagen eine Temporalisierung des Daseins, oder so ...


jean stubenzweig   (16.12.11, 11:39)   (link)  
Corsica geteilt,
sozusagen eine Mauer aus Zahlen und Alphabetischem dazwischengesetzt, wie die, allerdings nicht sichtbare, Linie des deutschen bildungs- und wirtschaftsgefälligen Atlas': Nord/Süd/Süd/Nord. Das hier ist das zentralistische Frankreich im Umgang mit seinen Kolonien. Solches bewirkt, daß man für das Entrer in eine Bar, wie das Café französisch heißt, an der Rue de la République in Marseille, von wo aus die Fähren zur Insel rübergaleert werden, ein paar Brocken, besser einen kompletten Satz korsisch auswendig lernt, will man eine ehrlich gemeinte freundliche Behandlung erwarten. Nebenbei: In Besançon ist es mir passiert, daß ich vermutlich wegen meines unsauberen Französischs von Schwarzfußfranzosianern in Herz geschlossen wurde. Die sind, wie alle anderen mit nordafrikanischen Wurzeln, auch nach wie vor von den anderen getrennt. Wobei viele Corsen allerdings sehr gerne corse wären, und sei's wie zu Zeiten unter einem deutschen König, also bevor sie an Frankreich verkauft wurden. Schließlich ist die Kultur älter als die französische. Und der drückte man immerhin dann auch noch einen der ihren als Kaiser auf.


terra40   (17.12.11, 18:05)   (link)  
Ein Ganzes in Teilen
Sie wissen: die Niederlande ist Mehrzahl. Es gab damals (die nördlichen und südlichen Niederlande zusammen) siebzehn solcher Lande. (Der Vorstand: die Heeren XVII) Später war es eine Republik der Sieben Vereinigten Niederlande (die Nordlichter). Als dann das Königreich kam, um 1815, hatten wir ein Land mit elf Provinzien: die sieben früheren Lande plus vier hinzugewonnene.
Jede Provinz hatte sein eigenes Kraftfahrzeugkennzeichen. Man fing geographisch von oben an. Groningen hatte den Buchstaben A vorne, Friesland den B, wir in Gelderland die M. Als Schuljungens schrieben wir alle Nummern auf und freuten uns sehr wenn mal ein Wagen aus Limburg vorbei kam.
Jetzt gibt's nur noch das einheitliche System. Wie meines: LZ-PB-43. Sehr unpersönlich.
Gruß, T.


jean stubenzweig   (18.12.11, 18:02)   (link)  
Holland jedenfalls nicht,
wie mittlerweile nahezu alle Ihre Niederlande nennen, sogar Groninger oder Gelderländer et cetera sprechen in Deutschland von Holland. Wenn ich zur Zeit der noch nicht so schnellen Zugriffsmöglichkeit auf ein elektrisches Lexikon für Kreuzworträtsel darauf hinwies, daß die Hollande Provinzien sind wie Brandenburg oder Thüringen, erntete ich Unverständnis oder man zweifelte an meinem Verstand. Heutzutage drückt sich dieses Unwissen oft nur noch in der hilflosen Ausrede aus, zwei gesprochene Silben redeten sich nunmal rascher als drei. Ach ja, die Zeit, die niemand (mehr) hat und deshalb auch keiner will.

Ich empfinde diese Gleich-, diese überall stattfindenden Unkenntlichmachungen der Provinzen oder Départements oder Regierungsbezirke auf den Autokennzeichen als bedauerlich oder auch beklagenswert. In Italien wurden sie vor vielen Jahren angeblich mit der Begründung geändert, man wolle beispielsweise der Diskriminierung der südlichen Bewohner durch die nördlichen entgegenwirken. Ich weiß nicht, ob das vorauseilender Gehorsam gegenüber Bruxelles bzw. Strasbourg war (und ist, wie in Frankreich, nach fast italienischem Modell), aber ich empfinde es auf jeden Fall als nicht von sonderlich hohem Selbstwertgefühl. In anderen Bereichen wie den Lebensmitteln sieht das anders aus. In Frankreich mag die Änderung der Kennzeichen keine große Rolle spielen, da viele, ausgenommen vielleicht Kinder, ohnehin nicht wußten, welche Zahlen den jeweiligen Provinzen zuzuordnen waren, etwa die 13 für Bouches-du-Rhône (wer will da schon hin, es sei denn, er hat dort Résidence). Man wollte die Regionen auf den Kennzeichen völlig verschwinden lassen, aber nach erheblicher Gegenwehr durch die Bevolkerung ist nun wenigstens auf der rechten Seite des Schilds ersichtlich (wenn man nahe genug auffährt), woher der Formule 1-Pilot kommt, zumindest wohin er sich zugehörig fühlt.

Ich bin gewiß Befürworter eines vereinten Europa — der umgesetzten Idee der ideellen Gemeinsamkeit, nenne ich sie Patchwork- oder Flickenteppich- oder Multikulti- oder vielvölkischen (ouf!) Großfamilie —, aber eben nicht der des dem Monetären untergeordneten wirtschaftlichen Hintergrundes, vor dem übereifrige oder gelangweilte Gesellschaftsplaner Gurken geradebiegen, Tomaten vervierecken oder Kennzeichen von Fahrzeugen vereinheitlichen, allem ein gleiches mariannisches Gesicht auf einem mitterweile vor Verordnungen und gleichmacherischen Gesetzen angstvoll zurück auf seine Insel(n) zurückhumpelnden Stier geben. Es ist durchaus eine, wie ein Fernsehmann dieser Tage fast über den Tellerrand der Euphorie zum besten gab, bemerkenswerte Tatsache, daß es weltweit eine erste, frei gewählte Regierung gibt, die vielen Völkern vorsteht. Doch gerade deshalb sollte man diesen ihre historische Identität lassen.

Dazu gehört, daß man ihnen nicht nur ab und an ein alibihaftes, also im Inneren verstecktes Zückerchen gibt, etwa das Zulassen von Sprachen wie der okzitanischen in Südwestfrankreich oder der Wiederbelebung der (richtigen, nicht die vom Komödienstadl) bairischen in Bayern, dort das sogenannte Reinheitsgebot (das im riesigen Stahltank zweifelsohne besser zu praktizieren ist als mit Hilfe des gesetzlichen Anschlags, ab Sonntag [heute mit einem brav- oder pseudodemokratischen bitte versehen] gefälligst nicht mehr in den Dorfbach zu scheißen), in der Grande Nation vielleicht vergleichbar dem Rohmilchkäse, sondern auch die deutlich erkennbare Sichtbarmachung beispielsweise durch die Kennzeichen der Kraftfahrzeuge. Dem Etikettenschwindel wird via Brüssel beziehungsweise Straßburg stattgegeben, etwa durch in monströsen Fabriken hergestellten Analog(ie)-Käse, dessen via Werbung angepriesenes Produkt darf als original aus dem Euter der Alpen gekennzeichnet werden, obwohl deren Kühe in Ställen kurz vor der kontrollierten Grenze zu Dänemark stehen. Eurale Einheit aber wird demonstriert, indem durch die Kennzeichnung der Automobile noch jedes historische Ballungsgebiet in den Archiven, sprich wenigen mit Wissen gefüllten Köpfen verschwindet. Das wiederum deckt sich mit einem (jeweils föderal bewußt) mißverstandenen Bologna: Alles zu den Akten, das einer nichtsnutzigen, also Zusammenhänge herstellen könnenden Bildung dienen könnte.

Glaabst i bin bleed, dass i waas, wiri haas?. Darüber wäre zu diskutieren.

Objet trouvé: Eine Mögllichkeit, ländertypische Ordnungen mittels einer gewissen Gelassenheit zu verunordnen.


terra40   (18.12.11, 18:24)   (link)  
Einigkeit
Lieber Herr Stubenzweig, wir sind uns einig. Aber ich bin nicht so wütend wie Sie. Das paßt uns, Niederländer und Gelderländer zugleich, auch gar nicht.
Gruß, T.















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