Trauernd zwischen Rutsch- und Reeperbahn Emblematische Erinnerung Ich stehe hier nicht als ein Kunst- oder Kulturhistoriker, als ein Irgendwasograph. Ich stehe hier und spreche als quasi zweifacher Bestandteil der oppermannschen Ensembles — sowohl der künstlerischen als auch der des Lebens (was bei Anna ja immer miteinander verwoben war). Und ich stehe hier als Freund — nicht eben als ein langjähriger (aber darauf komme ich noch zurück) —, der traurig ist über den Tod von Anna. Deshalb soll mein bescheidener Beitrag die Geschichte unseres Kennenlernens sein — ein Stück Erinnerungsarbeit, und sonst nichts. Ich habe Anna Oppermann vor etwa fünf Jahren — in Vorbereitung der kleinen Monographie, die wir publiziert haben — in München bei Barbara Gross kennengelernt, wo Anna Oppermann eine Ausstellung hatte (Bild oben). Auf eine merkwürdige Weise sah ich den Satz von Bazon Brock verifiziert, den er mir mal ins Mikrophon gesprochen hatte: «Der Künstler hat jederzeit hinter seiner Arbeit sichtbar zu sein.» Wie Anna mir und meiner Freundin Anne entgegentrat, tat sie das als Personifikation ihrer Arbeit. Von ihr ging eine seltsame Faszination, eine geradezu magnetische Wirkung aus, ich wurde regelrecht in sie hineingesogen, quasi in ihr Hauptensemble. Wir haben in dieser Phase des Kennenlernens kaum über Kunst gesprochen, sondern über ein paar organisatorische Dinge — was in der Natur der Sache lag — und über das, was uns alle doch am meisten bewegt: über das Leben (also in Annas Sinn eben doch über Kunst). Nun, wir verabschiedeten uns mit einer Verabredung für Hamburg. Ich mußte jedoch ständig an sie denken, und wenn ich mich recht erinnere, träumte ich in der folgenden Nacht, ich hätte mich in einem der oppermannschen Ensembles sehr ähnlichen Labyrinth verirrt. Aber dieses Verirren war keines der angstvollen Art, war ich doch immer sicher, entweder wieder herauszukommen oder aber, mich irgendwann darin heimisch zu fühlen. Im Grunde sollte es auch so kommen. In der Hamburger Wohnung von Anna Oppermann und Herbert Hossmann, in die wir sehr herzlich aufgenommen worden waren, hatte ich dann tatsächlich das Gefühl, im Hauptensemble gelandet zu sein. Da hatte ich realiter die von Anna Oppermann selbst gestellte Frage «Wodurch wird mein Leben strukturiert?» beantwortet: «Grob vereinfachend gesagt: erstens durch Lustgewinn, zweitens Konfliktvermeidung, drittens durch Entscheidungszwänge unter anderem im Hinblick auf erstens und zweitens. (Dies nicht nur mit Interesse für mein eigenes Leben, sondern auch für das anderer Menschen.)» Auch wenn wir zu arbeiten hatten, nämlich Bildmaterial zu sichten und auszusuchen, das Layout zu besprechen, so lief das doch alles in einer Atmosphäre ab, wie ich sie vorher und mit anderen Künstlern nie erlebt hatte: in einer seltenen fröhlichen Entspanntheit. Daß dies Arbeit war, hatte ich sehr bald vergessen. Ich bin kein großer Spaziergänger, doch der spätere Gang mit Anna, Anne und Herbert von der Rutschbahn zur Binnenalster hat mir sehr viel Spaß gemacht, Freude bereitet. Wann hatte ich je diese fröhliche Mischung von jungem Mädchen und Dame erlebt, der nichts, aber auch nichts entging und dies ohne jeden Nachdruck — aber wahrscheinlich deshalb um so deutlicher — mitteilte. Der Spaziergang hat mir, der ich früher nicht eben ein Liebhaber Hamburgs war, diese Stadt mit Sicherheit ein ganzes Stück näher gebracht. Heute kann ich sagen, daß Anna zur Kupplerin wurde: durch sie gibt es heute eine eindeutige Liebesbeziehung zwischen Hamburg und mir. Das hat auch mit dem Verlauf des Abends, genauer: der Nacht zu tun. Wer hätte mir denn auf eine solch unprätentiöse Art und Weise Hamburgs sogenannte Sündige Meile, die Reeperbahn vorführen können?! Annas Art und Weise, still zu beobachten — sie erinnerte mich manchmal an einen ruhig dasitzenden Raubvogel, auch in ihrem Blick, dem nichts entgeht — hat bei mir dazu beigetragen, daß ich heute genauer auf die Details und ihre Zusammenhänge achte, ich mir — im Leben und in der Kunst, also in einem — das eine ums andere Mal ihre Worte vor Augen führe: «In meinen Ensembles werden die verschiedenen Erkenntnisebenen in ihrer Aussage nebeneinander akzeptiert. Die Offenheit des Arrangements erlaubt dabei Korrekturen und Modifikationen — zumal Denkklischees aufgebrochen werden können durch spielerische Konfrontationen mit nicht gewohnten Bild-Text-Inhalten, Zuständen und Objekten.» Ich habe, wie eingangs gesagt, Anna Oppermann nicht sehr oft gesehen, das letzte Mal hier in diesem Haus, anläßlich ihres 50. Geburtages. Ich habe auch, das muß ich zu meiner Schande gestehen, nichts von ihrer schweren Krankheit gewußt. Immer jedoch hatte ich das Gefühl, mit ihr befreundet gewesen zu sein. Daß dies sich so verhält, kann nur in der Person von Anna Oppermann verwurzelt gewesen sein. Demnach ist der Verlust um so größer. Ich bin durch Anna Oppermann zu ihrem Freund, zu einem Freund ihrer Kunst und, wie vorhin erwähnt, zu einem ausgesprochenen Hamburg-Liebhaber geworden, und ließe es sich beruflich einrichten, würde ich heute sicherlich hier leben. Doch was soll's: Ich bin ja Bestandteil des Ensembles Anna Oppermann. Rede auf der Trauerfeier für Anna Oppermann in der Hamburger Kunsthalle, 1993. Gut zehn Jahre später war der Wohnort Hamburg dann tatsächlich Realität geworden: zunächst die Résidence in der Schwesterstadt Marseille, dann diese gänzlich andere norddeutsche Schönheit auf dem Land nahe Mare Balticum, und abschließend das Dorf an der Alster. Peter Gorsen: Stillebenhafte Labyrinthe des Kopfes und der Sinne (Auszug) «Die künstlerischen Anfänge Anna Oppermanns reichen in die unruhigen 60er Jahre zurück, als die Kunst noch von Handlungsalternativen, Utopien, ‹Antikunst› und ‹Gegenkulturen› bestimmt war und kritisch oder sich verweigernd auf die institutionalisierten Lebens-, Arbeits- und Wahrnehmungsformen, den Kunstmarkt im besonderen reagierte. Aus der Vielfalt der sich damals am Zukunftshorizont abzeichnenden ‹Expansion der Kunst› sei hier nur an vier Oppermann bestimmende Ereignisse erinnert, die die Szene mit den Begriffen ‹Fluxus›, ‹Individuelle Mythologien›, ‹Spurensicherung› und ‹Concept Art› etikettiert hat. Sie sind Stationen einer grenzüberschreitenden, ständig sich selbst erneuernden Kunstentwicklung. Sie sind aber gleichzeitig Ausdruck der vielen utopischen Rückbindungsversuche der Kunst an das Leben, die immer wieder an den Entfremdungsstrukturen der Wirklichkeit zum Stillstand kommen, somit als Versöhnungspraxis scheitern und aufs neue aktualisiert werden müssen. [...] Die Symbolik des Gestenmenschen ist nur ein (sehr spezielles) Ausdrucksmittel unter vielen, mit denen Oppermann zum interdisziplinären (nicht nur soziologischen) Komplex des ‹Künstlersein(s)›, zur Problematik der Künstler(innen)rolle, wie generell zur Frauenrolle unter patriarchalen Lebensbedingungen, ihre «mit den Augen begehbare Nachdenklandschaften» (Günter Metken) geschaffen hat. Das von großer Skepsis getragene Methodenbewußtsein der Künstlerin läßt sie immer wieder vom Inhalt auf die grundlegende Struktur ihrer Ensembles zurückkommen. Sie sind aus Objekten, Bildern und Texten intermedial zusammengesetzt. Zugelassen ist neben den gattungseigenen Mitteilungsformen der modernen bildenden Kunst wie Zeichnen, Malen, Schablonieren, Photographieren, Collage und Montage, Objet trouvé und Assemblage, auch der geschriebene Text. Aus ihrer Synthese entstehen die aus der Raumecke herauswachsenden, nach dem Schneeballprinzip in Zeit und Raum sich ausdehnenden, unendlich fortsetzbaren Ensembles. Die dabei sich ergebenden Relationen zwischen Text und bildnerischem Material hat Hans Peter Althaus als «Bildtexte» erkannt, die «in ihrer Komposition den Sprachtexten» gleichen. «Wiederholungen einzelner Bildelemente dienen durch ihren abermaligen Verweis auf den Bildinhalt nicht nur der Kohärenz zwischen den einzelnen Teilen eines Ensembles, sondern sie stellen auch rhythmische Beziehungen her und entsprechen Textbindungen, wie sie durch Alliteration und Reim erzeugt werden. Die Komposition der Ensembles aus Teilen, die wieder in kleinere Teile zerfallen, läßt sich mit sprachlichen Elementen wie Zeile und Strophe vergleichen. In neueren Ausstellungen hat Anna Oppermann die innere Komposition eines Ensembles auch durch Aufbauten sichtbar gemacht, die die frühere Ausbreitung über Wand und Boden oder später über zwei Eckwände und den Boden durch eine räumliche Binnengliederung ergänzt haben. In solchen vielfältig differenzierten Gesamtkunstwerken finden sich dann auch Ausdrucksformen, die der künstlerischen Großform unterlegt werden, wie Ironie und Parodie.» Auszug: Peter Gorsen, Stillebenhafte Labyrinthe des Kopfes und der Sinne, in: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 8.1989 Halbwertzeit der Kunst. Künstliches von gestern.
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