Augengetäuschte Wirklichkeit

Vor rund fünfzehn Jahren kam der Begriff von der Virtualität zunehmend ins Gerede. Das Internet begann, sich in höchste Höhen felgaufzuschwingen. Manch ein fataler Abgang vom sprachlichen Turngerät zeichnete sich alsbald ab, was ein eleganter Salto werden sollte, geriet mangels fehlender Technik in seiner Vereinfachung zu dem, was im Freibad wegen nicht korrekten Verhaltens mit behördlicher Ächtung bedacht und dennoch gerne als Bauchklatscher praktiziert wird. Alles schien sich als virtuell abzuzeichnen. Immer mehr Menschen fühlten sich in ihrer durch die Massen-beteiligung angeregten Kreativität bemüßigt, sich als Autoren, gar Schriftsteller zu erkennen. Die allenthalben angepriesenen Schreibwerkstätten trugen erheblich zur neuen Wortkraft bei. Dabei gingen nicht eben wenige Freischwimmer samt ihren Hilfsmitteln unter. Authentizität als Sammelbegriff für Wahrheit und Unverwechselbarkeit, in Gleichbedeutung zu Glaubwürdigkeit, verkam zunehmend zu einer dürftigen Auslegung von Echtheit. Ich bin versucht, im Sinne des englischen Wortes Trueness den neuen Anglizismus «Echtness» zu kreieren; gleichwohl echt wie Kindergarten in die angelsächsische Sprache längst Einzug gehalten hat. Immer mehr wird zum wagen Nichtsogenauwissen. Und heutzutage kuckt wie weiland Rainer Candidus Barzel beim gescheiterten Mißtrauensvotum gegen Willy Brandt kaum noch jemand durch.

Die Medien haben sich dem angepaßt, jedenfalls diejenigen, die nach hohen Verkaufsauflagen oder Einschaltquoten gieren. Dabei sollten letztere gemäß des Bildungs- und Aufklärungsauftrags gar nicht angestrebt werden, wären meines Erachtens auch nicht notwendig, da die Programme über Gebühren ohnehin finanziell abgesichert sind. Dennoch stelle ich in zunehmendem Maß fest, wie Wirklichkeit und Möglichkeit auseinander-, ja geradezu gegeneinanderlaufen. Das sich mir dargebotene neue Wissen über die Divergenz zwischen der im Fernsehen ständig angebotenen Wunderwelt der Besinnung auf vernünftige, sozusagen nachhaltige Werte und dem realen Leben sind teilweise verblüffend. Das TeVau erzählt mir beispielsweise unaufhörlich von der unauf-haltsamen Wiederbelebung des Holzes als Baumaterial. Ein Sender berichtete langanhaltend von der Wiederverwertung alter Stoffe, weiterverarbeitet in niedlich anmutenden Werkstätten der «Kreativen», einer «Designerin», die den Modezirkus nicht mehr mitzumachen bereit sei und deshalb Vorhänge et cetera aus den fünfziger Jahren zu Jacken und Hosen umwirkt. Verbaut wird tatsächlich fast nur noch Kunststoff, wie mir aufgrund meiner wißbegierlichen Nachfragen bestätigt wurde, und eingekauft werden chemiefasrige Massenklamotten, überwiegend aus chinesischer Fabrikation. Nachhaltigkeit ist zum Modebegriff geworden wie Authentizität, im Prinzip eine Augenwischerei. Das Angebot ist ein virtuelles, so lobenswert es auch sein mag, aber eben ein Hinweis auf mögliche neuere gesellschaftliche Verhaltensweisen. Wahrgenommen wird es jedoch allenfalls von denjenigen, die sich als avantgardistisch oder visionär erachten, jene, die qua Bildung, also nicht Ausbildung im Sinn einer möglichst frühen wirtschaftlichen Verwert- oder auch Ausbeutbarkeit durch die Industrie, neue Wege gehen, die die alten sind. Sie sind diejenigen, die überallerorten, selten in den konsumistisch gesättigten Kulturen, Revolutionen betreiben. Meine Güte, was heutzutage alles unter revolutionär firmiert! Ich orte dessen Entstehungsdatum mal mit dem «friedlichen» Umsturz in der DDR als Folge der Falls der Ost-West-Mauer und dem nahezu zeitgleich erfolgenden Terrorismus des Konsums. Terror ist ein Begriff aus der französischen Revolution, auch als ein Mißverständnis der in Portugal und England begonnenen Aufklärung zu bezeichnen, mit der sozusagen alles anfing. Geblieben ist eine unsägliche Augentäuscherei durch die Medien, die sich den Massen anbiedern. Hauptsache, es gibt möglichst viele Klicks. Wahrheit und Wirklichkeit kennen keine Grenzen mehr, die Internationale der Kulturen verwischt zudem sämtliche Spuren.

Trompe-l'œil — ah! murmelt der kenntnisreich um die Rituale der von Apoll angeführten, vom omnipotenten Zeus in neun Nächten gezeugten Töchter Wissende. Nun weiß ich nicht so recht, ob die damals alle in Weinfässern gewohnt und darin gerne einen gehoben haben, so daß dieser Fall der wankenden Thaleia beziehungsweise der johlenden Melpemone zugeordnet werden muß, denn eine Muse der bildenden Kunst oder gar der Architektur ist mir nicht bekannt. Trompe-l'œil, das ist jedenfalls diese Malerei, bei der man nie so recht weiß, ob man nun vor oder hinterm oder gar mittendrin im Haus steht. Wie beim von Parrhasios im Wettbewerb mit Zeuxis augentäuschend echt gemaltem Vorhang, den letzterer vergeblich zu öffnen versuchte. Zuvor hatten sich auf die von Zeuxis vorgegebenen Trauben gar Vögel gestürzt, um sie aufzupicken. Große Verbreitung fand diese Augentäuscherei dann in der Renaissance. Und einer solchen leben wir ja ebenfalls. (Es geht uns allen ja sowas von gut.) Etwas zeitgenössischer und näher am Thema: wie die Häuser in Lyon, bei denen die Menschen auf die Fassaden gemalt sind und die auf diese Weise eine vielfältige (historische) Lebendigkeit erzeugen. Trompe-l'œil wird umgangssprachlich allerdings auch mal Augenwischerei genannt.
 
Sa, 20.10.2012 |  link | (1340) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: lingua franca


enzoo   (22.10.12, 12:59)   (link)  
ich erinnere mich
dass schon jerry rubin, einer der anführer der 68er bewegung gegen vietnam und das establishment in seinem buch "do it! - scenarios of the revolution" die einvernahme des wortes revolution durch den konsumkapitalismus beklagte: "sie stehlen uns sogar die revolution durch revolutionäres toilettenpapier!" - so in etwa lautete der titel eines kapitels. dass sein "do it" jahre später in nikes "just do it" eingang fand, wird ihn, inzwischen selbst unternehmer geworden, vielleicht nicht mehr so gestört haben.

just buy it.


jean stubenzweig   (22.10.12, 18:54)   (link)  
Die neueste Revolution
ist das: Shoppinghopping. Ach, naja, die revoluzzt auch schon eine ganze Weile. Es geht kaum noch jemand einkaufen. Alles shopt so für sich hin, auch wenn man mal eben zum Kramer ins Dorf hüpft, weil das Salz für die Dosensuppe vergessen wurde. Académie française hin oder her, sogar im sprachlichen Insularium Frankreich hat sich faire le shopping durchgesetzt. Do it gleich we can ist so etwas wie yes we can geworden. Der Obama in uns allen. Es ist zum Sprachlos-Werden.















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