Hoch auf dem Grünen Hügel

Von der Salzburgisierung der Kunstvermittlung am Beispiel Beuys

Angesichts der Hilflosigkeit, die sich allenthalben in unserem Medienpluralismus (oder auch: innerhalb unseres populistischen Geraunes) breit macht, ließe sich sagen: Die nach Breitenwirkung schielende Kunstkritik läuft immer mehr Gefahr, sich von sich selbst zu entfernen, sich mit dem Bauch zu äußern; anders gesagt, sich ihrer eigentlichen Bedeutung zu entledigen: der Beurteilung. Die Kunstkritik beurteilt immer weniger, ergeht sich entweder immer häufiger in mehr oder minder wohlmeinender Beschreibung unter Zuhilfenahme von sprachlichen Allgemeinplätzen, wobei allzu oft die Journalistenpoesie kreist und ein Lüftlein gebiert. Auf der anderen Seite, der der informierteren, aber deshalb noch lange nicht wissenenden Minderheit, durchschleicht sie ihr Opfer in qualvoll schwadronierenden Be- und Umschreibungen, mit denen die Autorinnen und Autoren oftmals eher ihr akademisches Dasein zu belegen trachten, dabei allzu häufig der Faden der Ariadne aus Gummi zu sein scheint, zieht er sich doch schier endlos durch das ‹Labyrinthische› eines Kunstwerkes, weil den Urhebern darob die Orientierung abhanden zu kommen droht.

Positionen werden in der öffentlichen oder auch offiziellen Kunstkritik — also nicht in den Weblogs, die ohnehin meist von persönlicher, auch extrem subjektiver Natur geprägt sind — nur noch selten bezogen, fundierte Stellungnahmen kaum mehr geäußert. Der Platz des Allgemeinen, auf dem die Mehrheit sich wohlig aneinander kuschelt, bietet eben Sicherheit; immer mehr warten lieber ab, was andere dazu festgehalten haben. Die Aufgabe der Kunstkritik, nämlich die, das Kunstwerk in dessen Kontext zu erfassen, zu beurteilen und vermittelnd erläuternde Informationen zu einer Hörer- oder Leserschaft zu transportieren, scheint einem Phänomen geopfert zu werden.

Es ist ein Phänomen, in dem — es scheint mir erheiternd, gerade in der Zeit der Versuche, jedweden Ansatz marxistischer Theologie in den Orkus der offensichtlich endgültig verblichenen Moderne, was auch immer das sein mag, stoßen zu wollen, diesen Namen zu nennen: Herbert (nicht Ludwig) Marcuse. Dessen Bewertung der bürgerlichen Kultur scheint in exorbitanter Weise auf: nämlich als eine affirmative, die Lebenswelt ästhetisierende. Gerade wird wohl im Zusammenhang mit der mittlerweile alles beherrschenden oder in ihrer Einfallslosigkeit alles Alte wiederbelebenden Mode, also der Markt, die Diskussion der siebziger Jahre um den Ich-Bezug, die Ich-Suche, vor dreißig Jahren auch Ich-Seuche genannt, wieder hochgefahren. Man möchte meinen, die Avantgarde wäre zugange. Die Halbwertzeit des Wissens ist zur Führung des Volkes auserkoren worden. Die Rezeption der Kunst schlägt quer durch weite Teile der gesellschaftlichen, heutzutage sich gerne selbst als gebildet bezeichnende Mittelschicht bisweilen abenteuerliche Kapriolen in ihren ästhetizistischen Äußerungen, die das Kunstwerk aus seinem Umfeld, aus seiner Ursache herauslösen und daraus eine anbetungswürdige Reliquie machen, obwohl sie, die Bewunderer der Religion als solcher längst abgeschworen haben, aber so ganz ohne Gebet und Heiligsprechung dann doch nicht leben können. Damit wären wir, wenn auch unter anderen Voraussetzungen, schließlich doch dort angelangt, was einst die, vielleicht gar nicht so böswilligen, Auguren als antiaufklärerisches Schreckensbild gemalt hatten: daß die Künste, insbesondere die bildende Kunst samt der wiederbelebten genialischen Umgebung in ihrer partiellen Eigenschaft als mythisches, mystisches oder einfach rätselhaftes Chiffre auf die Ebene der Ersatzreligion gehoben würden.

Wesentlich dazu beigetragen haben der Der Makler und der Bohémien, um eine der bekannt ironischen Formulierungen von Hans Platschek aus den siebziger Jahren heranzuziehen. Platschek war alles andere als ein Freund des Schaffens von Joseph Beuys. Dessen konzeptionelles, aus Urinstinkten herrührendes Denken war ihm ein Greuel. Wir waren darin uneins, denn ich sah die Kunst immer im gesamtkulturellen, also auch historischen Zusammenhang, den ich mit Beuys teilweise hergestellt sah, für mich war (und ist) er ein Synonym deutscher Kunst, wenn auch aufgerieben vom allfälligen Globalisierungsgetriebe. Für Platschek hatte die Autonomie des jeweiligen Kunstwerkes Vorrang, wobei er eine interdisziplinäre Betrachtungsweise durchaus zuließ. Die Wertung des einzelnen Bildes mag hier unbeachtet bleiben, zumal die beuyssche Kunst- und damit Kulturprojektion längst auf den Kopf gestellt wurde und in dieser verkehrten Form dazu beigetragen hat, das Gesamte zurückzudrängen zugunsten der Solitäre. Ich meine Platschek allerdings so gut gekannt zu haben, daß er sich heutzutage, über zehn Jahre nach seinem Tod, vor Beuys stellen würde, um ihn vor jenen Freunden zu schützen, die aus ihm ein Denkmal prosperierender Kunst gemacht haben, ihn quasi auf dem Grünen Hügel von Salzburg geschleift haben.

Auf Joseph Beuys komme ich beispielhaft zurück, auf dieses Beispiel aus der bereits Geschichte gewordenen künstlerischen Zeitgenossenschaft, an deren Umkehrung die Kunstkritik oder deren Rudiment ein gerüttel' Maß Anteil hat, weil sie sich überwiegend der Mode angepaßt hat und Wertungen vornimmt, vor denen seit den Sechzigern und bis hinein in die Siebtiger, aber auch noch in den Achtzigern gewarnt worden war: Die Wa(h)re Kunst. Beuys führt zwar nicht die Preisliste an, das ist Gerhard Richter; der im übrigen glaubhaft über diese Entwicklung den Kopf schüttelt, gestaltet schließlich er nicht die Preise, sondern der Markt. Aber Beuys' Zeichnungen, die er vor und in den Anfängen seiner Lehrtätigkeit an der Düsseldorfer Kunstakademie ins Volk warf wie Kamelle im Dauerkarneval oder teilweise, jedenfalls die kleineren, für fünf Mark verkaufte, weil Kunst eben nicht teuer sein sollte, wechseln heutzutage kaum unter zwanzigtausend Euro die Besitzer. Beuys steht nach wie vor als Syonym für die bildende Kunst der Aufklärung: für alle. Wer beginnt, sich für sie zu interessieren, aus welchen Gründen auch immer, sei es, daß die Schöne Kunst ihn gestreift hat wie eines Frauenkleides Saum oder meint, mit ihm in ein neues Wirtschaftswunder einsteigen zu können, der wird von diesem einstigen, ursprünglichen Erneuerer nicht unberührt bleiben. Selbst gänzlich Unbeteiligten ist sein Name schon einmal irgendwie untergekommen, und sei es verbunden mit der Frage Und das soll Kunst sein? Wahrscheinlicher ist jedoch der Kontakt zu ihm über die volksbildenden Halbsätze: Jeder Mensch ist ein Künstler, Wer nicht denken will, fliegt raus. Man konnte sagen und schreiben, schreiben und sagen, was man wollte: diese sinnentstellende Zitierei war nicht auszumerzen. Sie war, trotz häufiger Ablehnung jugendlicher Definitionen, auch unter sogenannten Erwachsenen, besonders gerne unter pädagogisch fortschrittlich orientierten, die auch für die «Vereinfachung» von Sprache mitverantwortlich zeichnen dürften, Kult geworden. Doch das ist nicht weiter verwunderlich, waren sie als Sprüche-Kultur doch längst durch Kunstpostkartendruck geweiht und in den Museums-Shops verkauft worden. Es ging zunehmend um den Charakter der Vermarktung, Inhalte kamen unter die Räder von Slogans, die Schlachtrufe der Produktwerbung, die seit den Neunzigern geradezu ungeheuerliche Ausmaße annahm. Zwangsläufig kamen sie auch im Internet weltweit in Umlauf. In den siebziger bis weit in die achtziger Jahre witzelten wir, immer ein Massenblatt im Visier, das mittlerweile offensichtlich auch in höchsten Geisteswelten als kulturell meinungsbildend geschätzt wird: Millionen von Fliegen können nicht irren.

Bereits am Tag des Todes von Beuys habe ich als öffentlich-rechtlicher Nachrufer, zu Zeiten, als ich «Kulturbeutel», wie mich der Redaktionsleiter des aktuellen tagespolitischen Magazins gerne nannte, wenn er mal wieder wütend geworden war, weil ich auf die mir vertraglich zugesagte Sendezeit bestand, in einer Zeit also, in der die ausführlich erklärte Kunst noch in die Nacht verinsuliert war und Namen von Privatgalerien tabuisiert waren wie der Begriff Prostitution oder das Wort Scheiße, seit je also habe ich begonnen, darauf hinzuweisen, was er nie gemeint hatte: Jeder Mensch sei Maler oder Bildhauer et cetera, sondern immer: Jeder Mensch habe kreative Fähigkeiten, die er innerhalb der Gesamtheit des Lebens einbringen könne beziehungsweise solle. Und dieses Wer nicht denken will, fliegt raus, das von manch einem immerhin noch, wissend oder ahnend, vor allem auf seinerzeit den Verkaufserfolg versprechenden ‹Kunst›-Postkarten, mit ahnungsvollen Auslassungspünktchen ... versehen wurde, bezog sich schlicht auf einen Studenten, der nicht begriffen hatte, was Beuys meinte, als er sich schlicht in Rage geredet hatte: Jeder Mensch ist ein Künstler, aber du bist keiner. In anderen Worten: Jeder mag etwas von Kunst verstehen, aber du siehst sie erst gar nicht. Das hat seine Ursache mit Sicherheit darin, daß Kunst, siehe oben, als mythisches, mystisches oder einfach rätselhaftes Chiffre, auf die Ebene der Ersatzreligion gehoben wird, in der die Aufklärung als Widerpart der Romantik dasteht, von der heutzutage allerdings nur noch das klägliche Überbleibsel geblieben ist, das in Dinner at candlelight oder Valentinstag aufgeht. Beuys hingegen, das weiß mangels ästhetischer Schulung kaum jemand, war einer der kämpferischen Romantiker, die es durchaus mit den anderen weltgeistig illuminierten Größen aufnehmen konnten.

Hier tut sich unter anderem auch das Dilemma auf: das ganz offensichtlich zunehmende Spezialisiertwerden bereits durch die curricularen Systeme aber auch aufgrund des enormen Zeitdrucks, der nicht zuletzt durch die wirtschaftsfreundliche Nachplapperei, den Aktualitätenwahn der Medien entsteht. Das meint auch den Konkurrenzdruck der Journalisten, die auch aus beruflichen Nöten aus allen erdenklichen Bereichen zur Kunst stoßen oder dorthin gesandt werden, weil es sich ohnehin nur noch um einen Event handelt. Die Berichterstattung läßt sich sich vor den Karren der eigenen Hilflosigkeit spannen und bedient sich der vorformulierten Sprache des Hofes. Die eigene ist ihr genommen worden. Die Kunstvermittlung hat aber als erfahrene Erkunderin sich vor die vorderste Reihe zu begeben und dort die Feder, die in der ruhigen Nachbetrachtung gewetzt zu sein hat, zu schwingen; das will heißen: aus der Gesamtsumme der Informationen Herausgefiltertes, in die Wesentlichkeit der Aussage Gebrachtes in die hinteren Reihen zu transportieren. Die Kritik hat also als Vermittlerin integrierter Bestandteil der künstlerischen Avantgarde zu sein und nicht — die Zeiten haben sich nun mal geändert — wie weiland im 19. Jahrhundert Katalysator einer sich gebildet gerierenden Gesellschaftsschicht, die damit rechnet, daß sich auf Dauer die Seele als Organ des Kunstverstandes in einem geheimnisvollen Prozeß und trotz aller Irrungen durchsetzt.

Irrungen oder das Gegenteil von Avantgarde: Für viele sehr weit hinten, also arrière-garde, in der Nachhut, um im Militärischen zu bleiben, aber für mich eben nicht so lange zurück liegt das Beispiel, das heute noch Gültigkeit haben darf, weil es (auch) die Fehleinschätzung des in den falschen Film geschickten Experten belegt: die Debatte um den Ankauf der beuysschen Arbeit zeige deine Wunde durch die Münchner Städtische Galerie im Lenbachhaus. «Nicht das Gebastelte», schrieb der nicht nur in München angesehene Theater- und (ergo) Kulturkritiker Armin Eichholz, «ist das Ärgernis [...], sondern der schmuddelig investierte Intellekt.» Eichholz hätte es damals, 1980, lieber gesehen, «der Beuys-Rummel wäre eine grandios aufgezogene Satire von Pardon, und das ganze endete nicht, wie freilich zu erwarten, in einem neuen Kapitel vom Wesen der deutschen Kunst, sondern einem Weltgelächter für den bisher erfolgreichsten Narren des Kunstjahrmarktes».

Einmal davon abgesehen, daß Armin Eichholz als führwahr gebildeter Kunst- oder auch Kulturkritiker die Rolle des Narren bei Hofe — möglicherweise rhetorisch-manipulativ — nicht näher erläutern wollte: Zu einem Weltgelächter wurde Beuys nie, erfolgreich indessen sehr wohl, jedoch nicht als Narr eines Jahrmarktes, sondern, zu Lebzeiten, als Künstler, der, ebenfalls zu Lebzeiten, auch auf dem Markt erfolgreich war, obwohl er in seinen Intentionen damit alles andere als etwas am Hut hatte.

Beuys hat selbst, wie oben erwähnt, immer versucht, die Preise für seine Arbeiten so niedrig zu halten, daß sie, im Kontext seines anderen Kunstbegriffes, für jeden erschwinglich waren. Genaue Beobachter des sich ankündigenden Marktes haben, als Eigentümer oder auch als Besitzer Beuysscher Arbeiten diese wohlweislich markttypisch verknappend zurückgehalten. Einer meiner Bekannten verfügte gar über ein großes Paket mit Zeichnungen. Aber ihm war an ihnen, nicht am Marktwert gelegen; über zwei Jahrzehnte hatte er sie leidenschaftlich gesammelt und gebündelt. Heute allerdings erfährt beispielsweise das Multiple als einstmals verklärender Träger des ursprünglich demokratrischen Gedankens vom vielfach zu verbreitenden Kunstwerks eine neuerliche, diesmal jedoch alleine vom Monetären geprägte Renaissance. Für fünfundvierzig, es mögen auch fünfzig Mark gewesen sein, aber nicht teurer, wollte Beuys eine im Remscheider VICE-Verlag angebotene multiplizierte Arbeit verkaufen, was in einer Auflage von 12.000 Exemplaren auch geschah. Kurz nach seinem Tod ging dieses Holzkästchen auf einer einen unvergleichlichen (Jahr-)Markt ankündigenden Auktion für über 70.000 Mark über den Tresen; heute wird die Intuitionsbox für einen «Preis auf Anfrage» immer noch und immerhin für tausend Euro und mehr verkauft. Auf jeden Fall hatte der Markt den Avantgardisten gefressen. Damit hatte sich auch eine Entwicklung abgezeichnet, die die Ausstellungspolitik der Museen verändern sollte. Waren die Museen zuvor darauf konzentriert, was in der Natur ihrer Konstruktion liegt, konservativ (im Sinne von conservare, also: bewahren) zu agieren, hielt zusehends die zeitgenössische Kunst Einzug in den Musentempel. Die Ankäufe durch die Museen im Bereich der Gegenwartskunst irritierten kaum mehr (mittlerweile auch nicht mehr die Verkäufe); wenn nicht ein Groß-Händler ohnehin den «Vorzug» bekam oder solch ein gutes Stück beim Auktionator über den Tresen ging, getrieben von einem telephonischen Preisflüsterer, der sich oft genug als Aktienhändler erwies. Das mag auch an den immer kürzer werdenden Intervallen liegen, innerhalb denen die Be-, manchmal auch Aufarbeitung der Moderne, weiters Postmoderne ff. oder auch, analog dieser Entwicklung, der neuerlichen Götzenanbetung Post-Postmoderne geschieht: Halbwertzeit des Wissens.

Der Museumsbedienstete namens Konservator heißt zwar immer noch so, doch seine Tätigkeit als Wissenschaftler gerät seit den Achtzigern zusehends ins Hintertreffen, nicht zuletzt angesichts der eben frisch von der Kunstakademie oder von sonsther Gekommenen, die endlich ihre Retrospektive haben möchten. War die Kunstkritik zuvor, im Hinblick dessen, was in Kunstvereinen, später in Kunsthallen ausgestellt wurde, Projektion zukünftiger Museums-Inhalte, hatte sie sich dann, jetzt als Bremser zu betätigen, da ihr die Urteilskraft abhanden gekommen war. Ich habe dabei keine Erhaltung des Hierarchischen zum Ziel. Mir ist lediglich die einstmals bedächtige Entwicklung verloren gegangen. Zu viele junge, besser: noch nicht bekannte Künstler versuchen, Stationen schlicht zu überspringen. Manch einer wird dabei von Kunstverkäufern zum König ausgerufen. Dieser Atemnot Tribut zollend geht die Kunstkritik, eine weitere Folge, nicht mehr ins Atelier (viele behaupteten voller Stolz, sie seien nie dort gewesen), sondern in die Galerie; wo sie das eine ums andere Mal die Konservatorin trifft, die sich gerade hat von der Galeristin erzählen lassen, wohin de Zoch jeht.

Galerien gibt es seit den neunziger Jahren bald mehr Boutiquen in den Siebzigern. Der Preis für eine künstlerische Arbeit eines jüngeren Künstlers wird seit langem kaum noch von ihm selbst bestimmt. Den übernimmt die Galerie. So der Künstler denn eine findet, die sich seiner annimmt. Meistens lautet die Absage: Paßt leider nicht in unser Programm. Das Programmatische an diesem Programm der Nachfolgerinnen der Boutiquen ist jedoch allzu oft das rein Markttaugliche. Und markttauglich ist nunmal das Massentaugliche. Davon abgesehen, daß die sogenannten Kleinen da ohnehin nicht hinreichen, aber häufig gerne so tun, als ob sie's täten, weshalb sie sich an der Dogmen der Päpsten der Religion Markt orientieren. Wie der Journalismus eben, der ohnehin zum verlängerten Arm der Öffentlichkeitsarbeit von Anzeigenkunden degeneriert zu sein scheint. Wer für bunte Blätter schreibt, der darf sich auch für fähig halten, ins Interview mit dem größten, weil teuersten aller zeitgenössischen Künstler zu gehen, es wird ohnehin nur noch als Event wahrgenommen. Da verwundert es nicht weiter, daß es nicht mehr zu fundamentalen Aussagen, sondern fast nur noch zu allgemeinplatzigen, zu jedermans Schönschreibereien kommt. Der einst tiefschürfende oder auch vielsagende Jedermann ist zum Musical verkommen, zur Schmierenkomödie, zum sogenannten Volkstheater.
 
Di, 21.02.2012 |  link | (1969) | 8 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Artiges


jagothello   (22.02.12, 19:40)   (link)  
Des Banausen Perspektive
Mein Blick auf Beuys wird immer getrübt, ach was: verklärt bleiben von der Documenta-Installation Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch 1987. Das gesamte Kasseler Gelände damals war umpflanzt worden mit Eichen, wohl eine Hommage an den kurz zuvor verstorbenen... ja was eigentlich? War das ein Künstler? Ein Denker? Ein Illusionist? Ein Eventmanager? Ich fand das damals, daran erinnere ich mich lebhaft, alles ausgesprochen skurril. Eine Arbeit angetan um auf ewig das Klischee des Künstlers als verdrehter Weltverarscher zu verfestigen.
Ein von mir recht wenig geschätzter Kunsterzieher der Anstalt, in der auch ich pädagogisch so vor mich hin dilettiere, kann am Mensa-Mittagstisch des öfteren damit punkten, bei IHM gelernt zu haben (was auch immer... na ja!). Er verweist in solchen Gesprächen aber gerne auf ein qualitativ und quantitativ extrem breites Potential an Kreativität und Intelligenz, welches in der Erscheinungsform des bildenden Künstlers unterbezahlt und unterschätzt, tausendfach vor sich hinschlummere und als Bildungsschatz nur sehnsüchtig darauf warte, gehoben zu werden. Kunstmarkt hin, Chancen her- da scheint mir etwas dran zu sein. Vielleicht sollte Bedeutung nur endlich einmal umgedeutet werden.


jean stubenzweig   (24.02.12, 10:35)   (link)  
Bepflanzt mit Eichen
wurde die gesamte Stadt seit 1982, dem Jahr der documenta 7, die Stadtverwaldung oder 7000 Eichen wurde zur documenta 8 abgeschlossen. Zu der fuhr der Blitzschlag ins Fridericianum ein. Das von Ihnen so bezeichnete «gesamte Kasseler Gelände» befand sich lediglich vor diesem Gebäude, jedenfalls reicht meine Erinnerung nicht darüber hinaus.

Beim Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch handelt es sich um eine der auf das, nenne ich's mal so, Archaische im Denken von Beuys hinweisenden Installationen oder auch Environments. Man tut sich in Deutschland schwer mit dessen Bedeutung. Es mag sich bis heute nicht so recht eingliedern ins Denken eines Landes, dessen Bevölkerung sich wenigstens bis in die Achtziger die Fortschrittlichkeit aufs Banner geschrieben hat(te). Die Suche innerhalb der Kunst nach dem Ahnlichen ist in den industrialisierten Staaten auch nicht sonderlich verbreitet, mir scheint, sie wird im Hinblick auf Ängste vor dem allzu Urigen, zu sehr nach rückwärts weisenden, abgelehnt, also nachgerade urängstlich insofern verdrängt, als man sich nicht verdächtig machen will, ein unmoderner Mensch zu sein. In anderen Kulturen, beispielsweise der brasilianischen, wie ich mal notierte, «vor allem fern europäischen Blickwinkels von Westkunst» ist diese Ausleuchtung der bildenden Kunst nach urtümlichen Formen der gesellschaftlichen Entwicklung keine Seltenheit. Doch selbst diejenigen, die sich darauf einlassen, verkürzen, wie oben erwähnt, den beuysschen Kosmos auf Slogans, die etwas auf einen, «auf den Punkt» bringen, der vom Ursächlichen wegführt — und um nichts anderes geht es mir in meinem Text, der Beuys lediglich als Beispiel für die weit verbreitete Rätselei um die Kunst anführt; und deshalb weiter darin: Die philosophische Dimension des «anderen Kunstbegriffs», so mein Eindruck, erreicht wie zu Urzeiten lediglich den Esoteriker in der klassischen Bedeutung, den Geheimwissenden. Und nur daß, was von dessen Kenntnissen an Fragmenten nach außen vordringt, wird wahrgenommen und zu dem, was wir heute als Esoterik kennen: Irgendetwas Magisches, Undurchdringliches, Sonderbares, Seltsames, das man zwar nicht wirklich versteht, aber dennoch beschwätzt, weil so viele davon reden.

Es hat lange gedauert, bis ich zu dem vorgedrungen war, von dem meine Rede ist. Beuys' künstlerischer Ausdruck im Environment hat mich nie sonderlich befeuert. Anders seine Zeichnungen, die zwar immer das Prozeßuale, also auch das sich ständig Verändernde bis hin zum Endlichen in der Kunst skizzieren, aber mir auch zugestandenermaßen häufig an der Wand, also aus reiner Sehlust, losgelöst von jeden Kontext gefielen. Seine Theorie von der Kunst als Leben hingegen war es in erster Linie, die meine Gedanken immer am laufen hielten. Sie setzt an am (kritischen) Romantiker, für den ich ihn halte, für seine Naturnähe, die mir dadurch verständlicher wurde. Mario Kramer vom Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main hat das am Beispiel von Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch recht eindrücklich beschrieben, seine Zuweisung schließt mit der beuysschen Aussage: «Die Aufgabe der Kunst ist ja, die Bildhaftigkeit des Menschen zu vitalisieren. [...]. Die Kunst ist nicht dazu da, Dinge zu erklären, sondern die Kunst ist dazu da, die Menschen betroffen zu machen und ihren ganzen Sinnzusammenhang, also ihren Sehsinn, ihren Hörsinn, ihren Gleichgewichtssinn zu aktivieren und zu einem Fähigkeitsprinzip für ihre Arbeit zu machen.» Ein wenig schwingt da Paul Klee mit, der festgehalten hat: Kunst bilde nicht ab, sie mache sichtbar. Das ist der Hinweis auf ein Verständnis von Ästhetik, das vom allgemeinen Denken, wenn überhaupt gedacht wird, abweicht, es ist nicht gewollt, weil es nicht oder wenn doch, dann oft unzureichend gelehrt wird, meines Erachtens weitgehend mitten im 19. Jahrhundert steckengeblieben ist. Dazu gehört unter anderem die vielfach vertretene Meinung, das Kunstwerk als solches sei von einer kulturellen Bewertung auszunehmen. Ich hatte dazu eben seit je einen anderen Blick.

Im besonderen auf Beuys aufmerksam wurde ich allerdings erst seit der Zeit, als seine Produkte, die mir ohnehin auch heute noch als zweitrangig erscheinen, gegen seine Intentionen zu den benannten Reliquien des Kunstmarktes wurden, als zuviele sie anzuhimmeln begannen, ohne zu wissen, um was es unter dem Sockel des Denkmals geht. Denn die meisten sehen seine Arbeiten mittlerweile als Solitäre, gar als Geldanlage. Ich empfinde das als absurd, absurder noch als das beckettsche Theater.

Damit erklärt sich auch das Gewese, das viele um die (Meister-)Schülerschaft betreiben. Wer hat nicht alles bei ihm studiert! Da wären wir wieder bei der fehlgeleiteten, mißratenen Esoterik, wie sie auch die Anthroposophie an ihren Rändern ausstößt, wo häufig lediglich die Thesen von Rudolf Steiner ausdünsten, die fragwürdigen Charakters sind. Die wiederum tragen zur andersseitigen Ablehnung bei, weil allzu oft die intensivere Auseinandersetzung damit fehlt. Wer «auf ein qualitativ und quantitativ extrem breites Potential an Kreativität und Intelligenz, welches in der Erscheinungsform des bildenden Künstlers unterbezahlt und unterschätzt, tausendfach vor sich hinschlummere und als Bildungsschatz nur sehnsüchtig darauf warte, gehoben zu werden» hinweist, mag durchaus recht haben, tut dabei aber häufig so geheimisvoll, daß er der eigentlichen beuysschen Intention Kunst für alle entgegenwirkt. Womit ich allerdings nicht behauptet haben will, Joseph Beuys habe zuvörderst zu einer allgemeinverständlichen (Er-)Klärung des anderen Kunstbegriffs beigetragen. Er war meines Erachtens meistens zu sehr von seiner Jüngerschaft eingekreist, die allenfalls Heils- und Segensformeln quasi dogmatisch nach außen ließen; alles andere war ohnehin Angelegenheit der Fachwelt. Das dürfte ein breiteres Interesse, wie es heutzutage der bildenden Kunst zukommt, mit verhindert haben. Allerdings scheint mir der andere Kunstbegriff ohnehin perdu. Was auch damit zu tun hat, daß er nie richtig aus seinem Versteck kam.


jagothello   (24.02.12, 21:55)   (link)  
Des Pudels Kern
Die Suche innerhalb der Kunst nach dem Ahnlichen ist in den industrialisierten Staaten auch nicht sonderlich verbreitet, mir scheint, sie wird im Hinblick auf Ängste vor dem allzu Urigen, zu sehr nach rückwärts weisenden, abgelehnt, also nachgerade urängstlich insofern verdrängt, als man sich nicht verdächtig machen will, ein unmoderner Mensch zu sein. Eine interessante psychologische Deutung deutscher Volksseele (oh ja, es gibt sie), auch wenn Sie das gar nicht so eng fassen. Global soll es aber zugehen, global, international, weltläufig. Wir hassen und verdrängen die provinziellen Wurzeln und mit ihnen, was unsere Identität ausmacht- die Sprache. Sagen Chantal statt Elisabeth und essen mit tausend Zungen.


jean stubenzweig   (25.02.12, 20:14)   (link)  
Sie äußern direkt,
um das ich mich ein wenig herummogeln wollte, da ich nicht wie ein semiprofessioneller Holzhacker in die immerzu selbe Kerbe hineinaxten und damit fortwährend Unheil anfeuern möchte. Es geschieht zwar immer seltener, aber manchmal nehme sogar ich mich ein wenig zurück.

Ich bin von Beginn eines auf sieben Jahrzehnte zugehenden Leben das, was erst die letzten Jahre in Deutschland (begrüßenswert) anzukommen scheint, nämlich ein in verschiedenen Kulturen wurzelnder, in ihnen, letztlich in einem Biotop aufgewachsener, also multikulturell denkender Mensch, der anzweifelt, daß Lieschen Müller-Merkel samt Schüler Fritzchen auch nur ahnen können, was das überhaupt bedeuten könnte, es ließe sich auch behaupten, daß sie gar nicht wahrnehmen, was um sie herum wirklich los ist.

Den größten Teil meiner Jahrzehnte habe ich unter Deutschen verbracht und weiß deshalb, daß sie nicht alle derart heimatlich beseelt sind. Das hat sicherlich damit zu tun, daß ich weniger mit dem sogenannten Abschaum in Berührung kam, weil ich im wesentlichen in einer Umgebung lebte, die sich, ohne es unbedingt darauf angelegt zu haben, nach außen hin abschottete. Ich hatte nicht immer nur mit Kunstkultur zu tun. bereits zu Studienzeiten, zu denen ich ins Land gekommen war, unterhielt ich mich immer gerne und mit Gewinn mit denen, die gemeinhin Arbeiter genannt werden. Und schon vor meinen jungen journalistischen Berufsjahren erfuhr ich Ausgrenzung, wenn auch in sehr viel milderer Form als die meisten ernsthaft Betroffenen. Was für das Volk, das nie eines der Arbeiter sein wollte, gemeinhin als Idiot gilt, war ich beispielsweise kleinstädtisch als Nachhilfelehrer, der nach Meinung des mittelständischen Unternehmervaters seiner Tochter nur Flausen in den Kopf setzten wollte. Zwar hat das Mädchen alle Hürden zum Gymnasium mit Bravour genommen, aber als gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft sollte ich auch weiterhin nicht gelten dürfen, war ich für ihn und damit auch für seine volksgleichstimmlichen Hummerstammtischbrüder der Marktgemeinde doch ein Exot, der die jungen Menschen nur verrückt macht, anstatt sie zur ordentlichen Arbeit anzuleiten.

Als ich dann als Kulturmensch zur Redaktion aktuelle Tagespolitik abgeordnet worden war, erfuhr ich tagtäglich, wie läßlich meine Tätigkeit und damit meine Sendezeit sei, da sie zu nichts nutze, also als gänzlich überflüssig galt. Der Redaktionsleiter meinte zum Ende meiner zweijährigen, von der Intendanz angeordneten Versuchsperiode: Wenn Sie aus meiner Sendung einen Kulturbeutel machen wollen, schmeiße ich Sie raus. Ich bin dem Gegangenwordensein zurvorgekommen; die Versuchsperiode war damit beendet. Voraus-gegangen war ein verbales Gemetzel, bei dem sich sein Stellvertreter als Krieger hervortat, einem aus der Verwaltung heraus in seine Positionen hinaufgeadelten Koofmich (give him, give everybody a chance; die Nachkriegszeit samt US-kultureller Prägung befand sich noch in voller Blüte einer erst sehr viel später im Osten aufgehenden Landschaft). Ihn hatte es drei Tage lang angesichts meiner gerüttelt, da ich in seiner und seines Chefs Sendung das Zitat eines Dramaturgen des örtlichen weltberühmten Opernhauses im Originalton gesendet hatte, in dem im Zusammenhang mit einer Inszenierung der Begriff eklektizistisch vorkam, das ihm in den Ohren geklungen haben muß wie mir noch kürzlich beispielsweise Chantalle.

Exkurs: Chantalle (Chantal, eher die Sängerin) habe ich auf dem Schaufenster einer norddeutschen Kleinstadtfriseuse gelesen. Deren Eltern aus der von mir assoziierten banlieu chic dürften nach ihrer Bildungserweiterung mithilfe der Operette des in Köln geborenen und nach dem Industrieableger von Mainhattan benannten Herrn Offenbach vermutlich nach einer schicken französischen Entsprechung zur Sangeslust in ihren Herzen gesucht und sich in dieser ganzen Polyglotterei ein wenig verirrt haben. Les dessous chics hätte sich für einen Frisiersalon inmitten von Trittau aber auch vielleicht etwas zu gewagt gelesen. Chantal: «Es gab mal eine Zeit», so Bruno Jonas 2010 in der Welt, «da haben sich die Eltern in Bayern lange überlegt, wie sie ihre Töchter nennen sollen, und am Ende hießen sie alle Uschi. Uschis gibt es viele in Bayern. Die Uschi von Bayern, die Uschi Obermaier, die Uschi Dämmrich von Luttitz und natürlich die Uschi Glas.» Von der Leyen, ach, Uschi, mach kein Quatsch.

Die Führung der Redaktion war also volksseelisch gut deutsch ausgerichtet. Mit einem, allerdings verschwindend geringen, Teil der Untergebenheit verstand ich mich recht gut, sie verteidigte auch schonmal meinen Sendezeitetat. Es mag daran gelegen haben, daß sie auch in die Oper ging und zuvor schon wußte, was eklektizistisch heißt. Ich meine mich zu erinnern, daß sie das so heftig inkriminierte Wörten sogar einmal in einer Glosse einsetzte, die das Besucherverhalten von solchen Uschis vulgo Chantals in einer Ballettaufführung zum Thema hatten, die der Hauptakteurin beim Pas de deux zur gelungenen Landung applaudierten. Sie verließ das Haus bald nach Norden, um später weiter im Osten und noch aktuell Intendantin zu werden. Sie behalte ich, trotz aller Kritik an ihr als Abschalterin von Radio Multikulti, ebenso in guter Erinnerung wie an andere, die kurz nach meinem Abgang eintraten, die vermutlich das werden, was sich vielleicht mit dem höchsten deutschen Amt vergleichen läßt, befinden sich doch bereits auf der Vorstufe zum elder statesman des deutschen Fernsehens. Aber er war seinerzeit auch noch um einiges jünger, kam aus der Sportredaktion und ließ mich später zu seiner Zeit als Chefredakteur des besternten Fernsehens einmal wissen, mir müsse doch bekannt sein, daß ihn dieser ganze Kulturkram nich die Bohne interessiere.2

Aber auch als ich mich vom Journalismus verabchiedet hatte und überwiegend mit Kunstmenschen umgeben war, sollte ich, trotz derer Offenheit, letztlich immer wieder in dieses Deutsche, also nach innen Kuckende erfahren, der mir Anlaß zu obigem und anderen Texten gab und gibt und den Sie so unverhohlen die deutsche Volksseele nennen. Ja, «global soll es [...] zugehen, global, international, weltläufig.» Doch mit dem Blick über den deutschen Tellerand taten sich zumindest zu meiner aktiven Zeit viele sehr schwer. Für Besagte galt die deutsche Perspektive, auch aus ihr heraus wurde interpretiert. Sogar als der Kunstmarkt überbordete, galt der deutsche als zielführend. Da könnte ich jetzt weiterspötteln und erneut auf den, wie wir es in den siebziger Jahren gern witzelten, einundfünfzigsten US-Bundesstaat verweisen. Es existierte zuweilen eine nach innen gerichtete Tiefsinnigkeit, die mich das eine ums andere vor allem deshalb rätseln ließ, da die meisten in der Diskussion nur Westkunst zuließen. Die wenigen, die auf andere, von ihnen bereiste Länder, gar Kontinente hinwiesen, wurden oftmals nur in nahezu esoterisch klingenden Fachblättern gelesen oder wenn sie daraus einen Reisebericht für Zeitungen machten. Selbst in denen wurde das, global hin, längst globalisiert her, häufig marginalisiert. Unter ihnen befanden sich ausgewiesene Experten, die einen Vortrag über eine bereits internationale bekannte brasilianische Künstlerin, die ihre Sozialisierung im Zusammenhang mit Vodou thematisierte, ausließen, da sonntags um diese Uhrzeit die Lindenstraße weiterverfolgt werden mußte. Ein anderer schlich bis in die Neunziger heimlich, in seinen wehenden Schal verhüllt auf den Grünen Hügel, anstatt sich von diesem ungeschriebenen Gesetz aus den siebziger Jahren zu lösen, nach dem die Liebe zur Musik von Richard Wagner oder die zur Literatur von Nietzsche verboten war. Die galten noch lange als verdächtig. Selbst die heutigen tief verfreundeten Franzosen konnten daran nichts ändern. Als in den Achtzigern André Glucksmann versuchte, Nietzsche auf die Beine zu stellen, stieß das in weiten Teilen auf zugeklappte Ohren. Man hörte nicht einmal zu, als durchsickerte, die Nouveau Philosophe am Ende gar nicht das waren, was gemeinhin deutscherseits als links bezeichnet wurde.

Ach, ich höre jetzt doch besser auf, weil ich mich in Erinnerungen verliere, weil ich ältliches Walroß Gefahr laufe, am falschen Ufer zu stranden, möglicherweise noch bei dem kulturell übergreifenden Walfang-Kommentar von Robert Hetkämper lande, der seinen Chefredakteursessel verließ, weil er lieber wieder als Journalist in der Hängematte Südsee liegen wollte, und letzten Endes beginne, Glucksmann vorzuwerfen, daß er Multikulti für ein Konstrukt der Apo-Opas hält oder hielt und laut Stephan Moebius gar Sarkozy als den «wahren Erben der Achtundsechziger» einschätzt. Ich schließe für heute also mein ewiggestriges verbales Schmelztiegel-Gerühre und begebe mich dorthin, wohin ein außer-parlamentarischer Rentier heutzutage anstelle der Frau gehört: an den Herd. Vielleicht kommt mir dort ein alles klärender Gedanke, einer so klar wie Klosbrühe. («Essen ist der Sex des Alters.»; die gemeinte Junge hat ihre entschiedene Aussage leider gelöscht.)

Es kann sein, daß ich morgen noch ein bißchen weitersuppe.


edition csc   (25.02.12, 21:28)   (link)  
–cabü


jean stubenzweig   (26.02.12, 11:57)   (link)  
Ebendrum:
Tucholsky


jagothello   (26.02.12, 14:03)   (link)  
schlecht erfunden
Auch meine Lieblingsfarbe ist seit langem bunt, doch stimmt aus meiner flachen Perspektive auch, dass das Multikulturelle nicht wirklich gut erfunden wurde, oder besser: dass zu viel an ihm erfunden ist, jedenfalls hierzulande. Organischer Lebensvollzug; der fehlt. Wo lebt das Französische, das Kolumbianische, das Britische? Wo mischt es sich authentisch mit dem Hiesigen?
In Ihren Beiträgen, das steht außer Frage. Mir ist diese europäische Perspektive sehr sympathisch doch scheint sie letztenendes den Praxistest nicht bestehen zu können, wie (nicht nur) die aktuellen Nord-Süd-Debatten wieder einmal deutlich zeigen. Das goldene Kalb in seiner sinnlichen Wahrnehmbarkeit ist eben attraktiver als jede Idee. Und darauf zielte meine Anmerkung: Der interkulturelle Anspruch wird klar und vernehmlich geäußert, doch oft genug von denen, die selbst nicht herauswollen- oder können aus den tiefen, deutschen Wäldern. Es ist ja alles so gemütlich hier! Auch dank IHM, natürlich!


jean stubenzweig   (26.02.12, 18:42)   (link)  
Gestutzt habe ich
zunächst, als ich «schlecht erfunden» las. Danach begriff ich glücklicherweise gerade noch, daß es ja von mir kam beziehungsweise von Glucksmann (auf den ich irgendwann noch zurückkomme).

Aber unterm Strich argumentiert er bei aller Weitgereistheit ebenso aus dieser «europäischen Perspektive». Sie scheint mir der springende Punkt. Sie haben zwar Kontinente erobert, waren jedoch nie wirklich daran interessiert zu erfahren, wie den dortigen Menschen zumute ist, wie sie denken, wie sie leben. Das einzige Ziel waren ihre Güter, heute heißt das beschönigend Ressourcen, die es auszubeuten galt (und gilt). Allen voran die Pfaffen, die Erfüllungsgehilfen ihrer Kirche.

Ein guter Bekannter, eher ein Freund, hat samt Familie rund zehn Jahre als Stiftungsrepräsentant, letztlich eine Art Entwicklungshelfer, in verschiedenen Ländern Lateinamerikas gelebt (alleine die Tatsache, daß durchweg die USA gemeint sind, wenn von Amerika die Rede ist, regt mich seit Jahrzehnten auf, und in letzter Zeit wird immer häufiger ganz auf den US-Hinweis verzichtet). Sicher, er hat priviligiert gelebt, hat sich jedoch nie gescheut, beschwerlich lange Wege durch die Anden oder andere unwegsame Gebiete zu nehmen, um Menschen und deren Lebensweise kennenzulernen (1, 2, 3). Wenn er in Europa, in Deutschland zu Besuch weilte, spürte ich (und andere sicher nicht minder) in zunehmendem Maße die Veränderungen an ihm, ebenso an seiner Frau und seinem Sohn; dem ging logischerweise ohnehin alles Alte-Welt-Gehabe ab. Alleine diese Gelassenheit ließ mich von der hiesigen Hektik, von der obligatorischen Rechthaberei letztendlich ebenso Beeinflußten bisweilen neidisch werden, vor allem im Hinblick auf die Tatsache, daß ich diese Charakteristika zumindest teilweise sehr bald wieder angenommen hatte, als ich zurück war in Europa, besser: in Deutschland. Die Kultivierung hatte mich bald wieder. Allerdings spüre ich die spezifische Civilisation bereits während der Fahrten in den Heimat gewordenen Süden, dort, wo die Kanonen immer gen Festland gerichtet sind, wie es mir in den Anfängen ein Marseillais erklärte. Dort ist Levante. Jean-Claude Izzo hat in seinen Büchern immer wieder verlauten lassen: Wir essen alle gefüllte Weinblätter. Was in Deutschland die Türkischstämmigen sind, sind dort diejenigen mit Wurzeln oder fest im Nordafrikanischen Verhafteten, die französischen Araber (mein Blog ist voll davon). Gegründet wurde die Stadt von Griechen. Ein wenig spürt man es noch. Alleine an sie muß ich denken, wenn das Geschimpfe wieder aufwallt, weil die Volksseele wieder einmal aufschreit, da ihrem Geld Gefahr droht. Auf diese faulen Säcke schimpfen die Europäer, allen vor diese Deutschen, die in die Türkei oder nach Mallorca oder in die República Dominicana in Billigheimerurlaub fahren, ihre Füße selten oder überhaupt nicht über den landesüblichen Jägerzaun schwingen und erwarten, daß deutsh gesproken und gekocht wird. Nach Griechenland fahren sie aus Wut auf diese Faulpelze erst gar nicht mehr, ausgenommen der Münchner Oberbürgermeister und künftige bayerische Ministerpräsident Christian Ude, aber der tut das aus Gewohnheit und ist ohnehin die Ausgeburt des SPD-typischen Verständnisses von Multikulti, wie ich es, der es als sogenannt aktiver Parteisympathisant lange genug miterlebt hat, früher skizzierte: Ein Grieche, ein Türke und ein Zypriote, allesamt seit dreißig Jahren in der Stadt ansässig, treffen sich mit ein paar Tandlern in einem Münchner Hinterhof und singen anzügliche Liedchen zur Laute, manchmal darf's auch ein revolutionäres sein, gerne eines aus Cuba oder Nicaragua, mit dem man in den Siebzigern bis in die Achtziger ff. seine Weltläufigkeit unter Beweis stellte.

Ich habe, wie oben angedeutet, wenige Menschen kennengelernt, die weitgereist oder gar länger am Ort geblieben sind, um andere Kulturen tatsächlich zu ergründen — und eben nicht zu missionieren. Sie haben's festgehalten: Die Volksseele geht lieber in tiefen deutschen Wälder, ob mit oder ohne Skistöcken, spazieren. Da sieht man das Leid nicht, das das Fremde über einen bringt. An Joseph Roth muß ich dabei denken, der sich Tannen in der Provence ersehnte, während ich mich eher dort wohlfühle, wo Horizonte keine Grenzen zulassen.















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 6023 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00



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