Sitten und Gesetze

Wer umzieht — aus welchem Grund auch immer —, der wird bemüht sein, vorher auszumisten. Dabei wird er jedoch auf das eine oder andere Stückchen stoßen, das er nicht unbedingt weggeschmissen sehen will. Das hier gehört dazu:

«Wo die guten Sitten aufhören, müssen die Gesetze anfangen.»

Gestern abend (29. April 2007) war ich — neben dem äthiopischen Autor Asfa-Wossen Asserate und Fritz J. Raddatz — zu Gast beim Philosophischen Quartett, bei Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk (der, wie es den Anschein hat, der einzige lebende deutschsprachige Philosoph zu sein scheint). Zugestanden, ich bin etwas spät, in die letzten zehn, fünfzehn Minuten hineingeplatzt, und Asserate, Raddatz sowie die beiden Wortführer saßen im Fernsehgerät, während ich — wie es neudeutsch heißt — mich «außen vor» befand (wenn auch im vermutlich bequemeren Sessel), also nicht «vor Ort». Deshalb durfte ich auch nicht mitreden. Allerdings war das auch nicht weiter vonnöten, denn Raddatz sprach für mich aus, was ich seit langer, langer Zeit an meine Umgebung hinrede und -schreibe, was mich zusehends mehr in Rage bringt. In Rage: Sogar die übernahm Raddatz für mich.

Das Thema war, grob umrissen: Gute Manieren — wozu können, wozu sollen sie heute noch und überhaupt taugen? Das Fazit vorweg: Von irgendwoher muß es ja kommen ...

Zum Ende des Gespräches hin verwies Raddatz darauf — und er war dabei sichtlich erregt —, daß man täglich zugemüllt werde mit historisch falschen Aussagen und schlechtem Deutsch. Mittlerweile käme einem das sogar aus Blättern wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder der Zeit entgegen (ich möchte die Süddeutsche Zeitung hinzufügen, das auflagenstärkste Blatt; womit eben nicht jenes gemeint ist, auf das sich täglich Millionen Fliegen stürzen). Wenn ich mich recht erinnere, erwähnte er auch die Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk- beziehungsweise Fernsehanstalten. Es käme — ich verdichte die Aussage — einem Kulturverfall gleich, der einen manierlichen Umgang nicht mehr möglich mache.

Kulturverfall — ich höre sie schon wieder aufjaulen, unsere Dynamisch-Progressiven. Kulturverfall gleich Leitkultur oder so ähnlich. Oder wie der ganze ewiggestrige Denk-Moder sonst noch heißen mag ... Aber Moder — das ist nunmal die Vorstufe zum Humus, zur Erde. Das ist das, woraus wir uns ernähren. Aber wenn ich nur Chemie-Industrie-Yoghurt in den Kompost gebe, dann ziehen demnächst vermutlich auch die Ratten um in den nächstgelegenen Bio-Bauernhof ...

Wenn der Freund erzählt, einer seiner Studenten habe ihm — einige! Jahre ist das bereits her — auf eine (etwas) schlechte(re) Note für seine Dissertationsschrift entgegnet, er solle sich doch nicht so haben wegen der paar Rechtschreibfehler (schlappe fünfzehn pro Seite; ist ja auch nicht so schrecklich viel für einen Doktoranden der Germanistik), er solle doch mal ins Internet schauen ... — dann krist es mich schon arg. Und es fällt mir wieder die Begebenheit ein, die unter Anekdoten abgelegt werden könnte, wäre es nicht so fatal für unsere Humus-Entwicklung. Fünfzehn, vielleicht auch nur zwölf Jahre liegt es zurück, daß ich einer jungen Frau einen Pressetext zu einem Blättchen vorlegte, von dem es damals im Zürcher Tages-Anzeiger hieß:

«Alles atmet den Geist einer kauzigen, wohl auch ein wenig elitären Gelehrtenrepublik, die zur eigenen Kurzweil und in durchweg geschliffenem Deutsch Fundstücke oder Sottisen [...] austauscht. [...] Die [...] sehen ihr Blatt in der Tradition der klassischen Feuilletons: eine Festung gegen den Unrat der Mediengesellschaft [...].»

Sie gab diese Presseankündigung nach ein paar Minuten zurück mit der Bemerkung, sie verstünde das nicht, das sei ihr zu kompliziert. Das wäre keiner weiteren Erwähnung wert, hätte es sich bei dieser jungen Frau nicht um eine Studentin der Germanistik im fünften Semester gehandelt!

Das sind die Menschen, die heute in den Redaktionen sitzen. An denen sich einige jüngere sprachlich orientieren. So steht's in der Zeitung (und damit ist nicht das Blatt der geistig Blinden gemeint), so hat die Nachrichtensprecherin es gesagt, also muß es doch wohl korrekt sein.

Solches hat Raddatz in etwa gemeint: «Gestern noch konnte ihn kein Mensch mehr ertragen. Aber heute, wo alle wissen, daß er sein Amt bald aufgeben wird ...» (Süddeutsche Zeitung vom 23.04.07, Seite 1, im Streiflicht, der — na ja, früher mal — sprachartistischen Kolumne dieser Zeitung schlechthin). Das sei falsch, wütete Raddatz (zu recht), das sei schlechtes Deutsch, nein: kein Deutsch. (Wobei Sloterdijk kurz darauf eben dieses schlechte Deutsch sprach. Aber der Herr Hochschulrektor hat ohnehin ein paar Probleme mit dem Deutsch, das er später in seinen Schriften schleifen darf.)

Apropos Philosophen, Philosophisches Quartett: Der Begriff Philosophie wird fast nur noch im Zusammenhang mit Produkten ausgesprochen — unsere Firmenphilosophie ..., anglostammeln die Pressesprecher der großen Unternehmen den Journalisten in die Mikrophone (über die diese Sprachgülle ungereinigt in die Medienkanäle fließt), beispielsweise Jil Sander. Thomas Hoof hat vor einigen Jahren in den Hausnachrichten von ManuFactum über die Klamotten-Dame geschrieben:

«Frau Jil Sander etwa, einer Modeschaffenden, die ‹etwas Weltverbesserndes› in sich verspürt und möglicherweise deswegen in ihren öffentlichen Verlautbarungen die verheerenden Folgen langjährigen Modemachens, Werbungstreibens, Trendsettens und Cityhoppens dramatisch illustriert:

‹Mein Leben ist eine giving-story. Ich habe verstanden, daß man contemporary sein muß, das future-Denken haben muß. Meine Idee war, die handtailored Geschichte mit neuen Technologien zu verbinden. Und für den Erfolg war mein coordinated concept entscheidend, die Idee, daß man viele Teile einer collection miteinander combinen kann. Aber die audience hat das alles von Anfang an auch supported. Der problembewußte Mensch von heute kann diese Sachen, diese refined Qualitäten mit spirit auch appreciaten. Allerdings geht unser voice auch auf bestimmte Zielgruppen. Wer Ladyisches will, searcht nicht bei Jil Sander. Man muß Sinn haben für das effortless, das magic meines Stils.›»

Hoof warnte: «In einer unappetitlichen Mischung aus Sprachmasochismus, Jugendlichkeitswahn und schlichter Verblödung taumeln Medien, Werbung und alle anderen Trendbesoffenen in einen Sprachgebrauch, dessen Folgen man in 15 Jahren wird besichtigen können — wenn die heutigen Jugendlichen, denen dieser Müll in die Lebensphase geschüttet wird, in der Sprachgefühl und Sprachstil sich bilden, zu sprechen, zu schreiben und ‹zu sagen› haben werden.» Hoof schrieb das Anfang der Neunziger. Es ist wie beim angekündigten Klima-Kollaps: ein paar Jährchen haben ja wir noch.

«Das muß man sich mal auf der Zunge zergehen lassen!» Gehört von einem Politiker, der sich (inhaltlich wie formal) anhört, wie er heißt: Wiefelspütz (der gerne redende Mann ist Innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, also mit verantwortlich für die bundesrepublikanische Sicherheit ...!) in der WDR-Sendung Hart aber fair und gelesen im Stern in einem Interview mit einer jungen Schriftstellerin (an deren Namen ich mich nicht mehr erinnere). Die beiden — und seit langem höre und lese ich das allerorten in diesem Zusammenhang — meinten das negativ, im Sinne von Kritik an einer Aussage. Sie wird ins Gegenteil verkehrt, denn es bedeutet eigentlich: etwas genießend langsam in sich aufnehmen. Ich sehe es kommen, lange wird es nicht mehr dauern — und Wiefelspütz wird es runtergehen wie Öl, wenn das Bundesverfassungsgericht die (nächsten) Angriffe seines geistigen Verwandten Schäuble auf die Haushaltscomputer (und das Grundgesetz) abschmettert. Mir dann auch, wenn auch in der ursprünglichen Bedeutung.

Niemand könne mehr das Gleiche und das Selbe unterscheiden, schäumte Raddatz unter anderem gestern abend — ist es denn weiter erstaunlich? Denn nicht einmal die (Bildungspflicht-)Sendung mit der Maus hat es geschafft, das der Allgemeinheit klarzumachen (obwohl sogar ich das begriffen habe). Raddatz kippte vor Ärger beinahe den Inhalt des Wasserglases seines Gegenübers aus, als er es hochhob, um zu sagen: Wenn ich aus Ihrem Glas trinke, dann ist es dasselbe Wasser — und nicht das gleiche. — Die Maus nahm einfach ein paar Eier: ein Ei gleicht dem anderen! Aber es hat eben nichts genützt. Und außerdem klingt es irgendwie schicker, zu sagen: Wir sitzen im gleichen Boot. Auch ließe sich vortrefflich formulieren: Wir Lebendigen reden denselben lebenden Müll.

Raddatz verwies auf weitverbreitete Irrtümer. Unter anderem darauf, daß der aus der französischen Revolution hervorgegangene Gleichheitsgrundsatz (égalité) nicht die allgemeine Gleichheit des Menschen bedeute, sondern lediglich die Gleichheit des Menschen vor dem Richter.

Wenn der Franzose aber nicht weiß, welchen Hintergrund der National-Feiertag am 14. Juli hat, wenn er die Fête Nationale feste feiert, die place de la Concorde oder de la Bastille mit Plastik- und sonstigem Müll überhäuft, aber nicht weiß, was er da feiert, was vor diesem Hyperknast damals los war — dann dürfen wir uns nicht weiter wundern ...

Was bleibt? Werner von Bergen schreibt im Text zu diesem Philosophischen Quartett «‹Wo die guten Sitten aufhören›, so lehrt Machiavelli, ‹müssen die Gesetze anfangen›. Da gäbe es heute wohl Handlungsbedarf. Denn gute Manieren und Respekt füreinander gibt es, so eine These von Sloterdijk und Safranski, nur, wo der öffentliche Raum in Ansehen steht. Das scheint aber kaum mehr der Fall zu sein. Dort haben inzwischen Hemmungslosigkeit und schlechter Geschmack ein gutes Gewissen bekommen.

Schlechte Zeiten für gute Manieren. Da aber der Mensch für den Menschen in der Regel zu den Umweltbelästigungen zählt, wird es in Zeiten zunehmender Populationsdichte zu einer Überlebensfrage, ob Manieren und Höflichkeit wieder eine Chance bekommen.»

Machiavelli. Vielleicht ist das — nach meiner Vorstellung — ja nicht eben das Positivbeispiel. Denn dieser Clan schreibt ja fleißig neue Gesetze.
 
Sa, 28.06.2008 |  link | (3336) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ich schau TeVau


chat atkins   (28.06.08, 11:27)   (link)  
Lieber Jean, du hast ja recht und abermals recht - nur beim Thema 'Bastillensturm', da sitzt du einem Mythos auf. Hier ein Text, den ich mal für mein inzwischen verblichenes 'Wörterblog' schrieb.


jean stubenzweig   (28.06.08, 12:56)   (link)  
Daß Marie Antoinette allenfalls Brioche gemeint haben dürfte, wenn sie überhaupt von Kuchen sprach, das wußte ich ja. Aber das ist ja wahrhaftig mehr als interessant. Nichts als Zurechtgebiege von Geschichte demnach.

Auch war mir bekannt, daß Launey gemetzelt wurde. Aber alles andere? Mich – und viele (offensichtlich nicht alle) – wurde das Bastillegestürm nicht nur anders gelehrt und wird ja weiterhin, na ja, kolportiert, und das nicht nur von der Schmeißfliegenpresse. Vom alljährlichen Getöse, das ich mitfeire, mal abgesehn.

Daraus muß ich schließen, daß Du in schwer zugänglichen Archiven geforscht hast. Oder wie? Oder was? frage ich da doch mehr als verblüfft.


chat atkins   (28.06.08, 14:12)   (link)  
Als Starter-Set gibt es erst einmal das 'Lexikon der Geschichtsirrtümer' von Jörg Meidenbauer. Die 'Französische Revolution in Augenzeugenberichten' hilft aber auch weiter. Das Leben aber steht nicht im Schulbuch, da steht immer nur die 'Staatslehre' ;-)















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 5817 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



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