Mehrstimmiges Gebläse

Sicher, es war einmal mehr eine Wiederholung; es fragt sich ohnehin, ob noch anderes angeboten wird. Allerdings hat das manchmal auch seine Vorteile. Zum einen gibt es Beiträge, die gut und gerne ein zweites oder drittes Mal angesehen werden möchten. Und zum anderen geht doch einiges an einem vorüber; man kann ja nicht ständig vor der Glotze hocken.

Ich tat es gestern früh, das ist mein Frühstückfernsehen oder auch Fernsehen zum Frühstück oder auch Gute-Nacht-Fernsehen, habe ich doch einen etwas anderen Rhythmus oder mittlerweile auch gar keinen mehr. Auf jeden Fall ging es (auch) um Rhythmus, frühmorgens um sechs. Albert Mangelsdorff kam ins artistische Programm. Dessen Bruder Emil kam nicht vor; was aber verzeihlich ist, stand er doch ziemlich im Schatten des jüngeren, auch wenn er es war, der ihm nicht nur den später legendären Frankfurter Jazzkeller zeigte. Emil wirkte eher im Stillen, auch im Pädagogischen, wofür's unter anderem ministerielle Ehrung gab. Zudem war er als der ältere wohl eher noch der Swingboy.

Swing Boys waren junge Menschen, die von der Gestapo verhaftet und weggesperrt wurden, weil sie gerne Negermusik hörten, ein Begriff, der in der deutschen Kultursprache sich so richtig allerdings in der Zeit nach dem Niedergang des anderenorts entlehnten Tausendjährigen Reiches entfalten sollte. Ich hatte davon zum ersten Mal über Emil Mangelsdorff gehört, dem damals allerdings keine weitere Bedeutung zugemessen. Erst sehr viel später wurde ich erschreckt aufmerksam, als K.R.H. Sonderborg davon erzählte, beispielsweise von einem Schreiben Himmlers an Heydrich: «Anliegend übersende ich Ihnen einen Bericht, den mir Reichsjugendführer Axmann über die ‹Swingjugend› in Hamburg zugesandt hat. Ich weiß, daß die Geheime Staatspolizei schon einmal eingegriffen hat. Meines Erachtens muß aber das ganze Übel radikal ausgerottet werden. [...] Der Aufenthalt im Konzentrationslager muß länger, 2–3 Jahre sein. Es muß so klar sein, daß sie nie wieder studieren dürfen.»

Im Juli 2005 ist Albert Mangelsdorf gestorben. Deshalb wohl wurde an ihn erinnert. Und es ist dann doch etwas anderes, diesen Erneuerer der Posaunentöne nicht nur zu hören, wie ich das immer wieder mal gerne tue, sondern ihn auch mal dabei beobachten zu dürfen, wie er im Sessel sitzend Muskeltraining vorführt, indem er mit dem Munde gespielt, also ohne Mundstück ein Bild seiner Polyphonie malt. Er gehörte zu den ruhigeren, überdies ungemein disziplinierten Vertretern sein Faches. Allerdings dürfte es sich ohnehin um ein Mißverständnis handeln, diese Musik sei nicht anders als chaotisch zu empfinden (zumal es da schließlich noch die Chaos-Theorie gibt). Das trifft nichtmal beim Free Jazz zu, auch wenn der Eindruck entstehen möchte, daß die wild durcheinandertröten wie beim Punk. Sehr gut war das zu erkennen in diesem Film, als Albert Mangelsdorff bei einem gleichwohl nicht unbedingt kammermusikalischen Zusammentreffen der siebziger Jahre mit Alexander von Schlippenbach zu sehen und zu hören war.

Den Büroschläfern zum kurzzeitig temporären Wachwerden zugeeignet.
 
Do, 16.07.2009 |  link | (3762) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: La Musica



 

Abnehmender Mond

Sätze, die mich seit gestern arg beschäftigen:

«Vor zwei Wochen wusste ich noch nicht mal, dass die Wissenschaft, die sich mit bösartigen Tumoren im weitesten Sinne befasst, Onkologie heißt. Inzwischen habe ich auch noch dazugelernt, dass man von Palliativmedizin spricht, wenn es darum geht, Schwerstkranken das Leben (und den Abschied von selbigem) etwas zu erleichtern (gestern habe ich noch gedacht, es heißt «pallitativ» ...). Worauf ich hinaus will: Auf einer Website zum Thema Speiseröhrenkrebs habe ich gelesen, Chemotherapie fällt im so weit fortgeschrittenen Stadium wie bei mir bereits unter Palliativmedizin.

So sieht's aus, und der Mond nimmt gerade ab.»

Was möchte man da noch, und sei sie noch so klein, an (Mehr-oder-minder-)Weisheit der Welt verkünden? Gedichte? Allenfalls ein Maldoror, ein direkter Zusammenhang ist nichtmal schlüssig, ich kann es nicht erklären, aber er zieht mir unablässig durch den Kopf. Einen moderaten Maldoror gibt's nicht. Auch wenn er manchmal in den Satzänfängen (hier bei der Übersetzerin Ré Soupault auf Seite 18) so klingen mag.

«Beim Schein des Mondes, nahe am Meer, sieht man, an einsamen Stellen der Landschaft, in bittere Gedanken versunken, alle Dinge gelbe, verschwommene, phantastische Gestalt annehmen. Der Schatten der Bäume gleitet, bald schnell, bald langsam, kommend und gehend in wechselnden Formen, sich flach an den Erdboden pressend. Einst, als ich auf den Flügeln der Jugend davonflog, schien mir dies seltsam und ließ mich träumen; jetzt bin ich daran gewöhnt. Der Wind seufzt durch die Blätter sein sehnendes Lied und die Erde klagt ihr tiefes Weh, so daß sie dem, der sie hört, die Haare sträuben.»

Die Gesänge des Maldoror
 
Mi, 15.07.2009 |  link | (1959) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Seltsamkeiten



 

Elektronik versus Mechanik

Eigentlich wäre es ja dem Bereich Fluch(t) der Mathematik zuzuordnen. Aber da in den letzten Stunden mehr oder minder heftig über diese Thematik debattiert wurde, widme ich ihm einen gesonderten Eintrag, nicht zuletzt unter Berücksichtigung der Tatsache, daß das Buch, aus dem das nachfolgende Zitat stammt, 1999 erschienen ist und ich ein Stück schmunzelnder Erinnerung hervorkramen durfte.

«Monsieur Ruche holte sein kartoniertes Heft heraus — es war schwer —, schlug es auf, blätterte darin. Zum Glück hatte er ein dickes Heft gekauft, denn es war schon ziemlich vollgeschrieben. Dick und schwer. Er packte seinen völlig neuen Federhalter aus, den ihm eine seiner ehemaligen Kundinnen kürzlich aus Venedig geschickt hatte, Ganz aus Glas! Nicht nur der Griff, sondern auch die Feder. Aus gedrehtem Glas. Er kam direkt aus Murano, ‹vor meinen Augen angefertigt›, hatte sie ihm in dem kleinen Begleitbrief versichert.

Er stellte sein Tintenfaß auf den Tisch, drehte den Deckel auf, tauchte die Feder ein und ..., überall um ihn herum wurde die Arbeit unterbrochen. Seine Nachbarn starrten ihn befremdet an. Erst jetzt bemerkte Monsieur Ruche , daß er in der Ecke mit dem Labtops saß. Er war von schwarzen Portables umgeben, deren graue Kabel in weißen Anschlußbuchsen steckten!

Glücklicherweise hatte er sich riesige mathematische Lexika und nicht weniger imposante Abhandlungen zur Wissenschaftsgeschichte bringen lassen, die einen Schutzwall bildeten, hinter dem er Deckung fand. Er tauchte seine Glasfeder in das Tintenfaß und begann zu schreiben. Die Feder knirschte. Sofort brach überall um ihn herum ein Rattern los. Auf den Tastaturen ringsherum wollten nervöse Finger ihn an die Überlegenheit der Elektronik gegenüber der Mechanik erinnern.»

Angefügt sei, daß man der Mathemathik verfallen sein, zumindest aber diesem Teil der Wissenschaftshistorie anhängen sollte, um sich diesem Buch zur Gänze hinzugeben: es läßt Mathematik und Philosophie wieder eins werden. Andererseits ist die transportierende Rahmenhandlung in einem mit dem Protagonist aussterbenden Paris, wie sie möglicherweise nur ein im Maghreb verwurzelter Autor erfinden kann, skurril genug, um allein als Erzählung genossen zu werden.


Aus: Denis Guedj, Das Theorem des Papageis, 1999 Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg; Le théorème du perroquet, 1999 Éditions du Seuil, Paris

 
Mo, 13.07.2009 |  link | (3523) | 18 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 







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