Verlängerte Intelligenz ![]() Der Neurologe hat nach mehrfacher Inbetriebnahme sämtlicher Apparaturen und dem gleichermaßen häufigen Anlegen aller erdenklichen Saugnäpfe und Schläuche festgestellt, einer meiner Hirnlappen sei, wie bei Albert Einstein, extrem verlängert, und setzte seine Diagnose dahingehend fort, möglicherweise sei ich deshalb so außergewöhnlich intelligent. Er hat zugestandenermaßen eine nicht ganz billige und überdies nicht eben aufwandlos geführte Praxis, in der einige junge, zweifelsohne wohlgestaltete Damen um mein Wohlergehen besorgt sind und zur Kreislaufberuhigung mir immer gerne ein Gläschen mit Duménil ins angstverschwitzte Händchen zu drücken bereit sind. Nachdem ich mir die Aufnahmen näher angeschaut habe, bevor ich die duplizierten sechs 50 mal 35 Zentimeter messenden Blätter zur Rahmung beziehungsweise Fixierung in Leuchtkästen entsprechenden Formats weggebe, die jeweils ihren Platz am Hamburger Jungfernstieg und, selbstverständlich, vor dem Phantéon auf dem Hügel der Heiligen Geneviève haben werden, mußte ich feststellen, daß er insbesondere auf die Region verwiesen hat, in der die Schizophrenie ihr Zuhause hat; aber möglicherweise habe ich die falsche Stelle begutachtet, und es handelt sich lediglich um den Bereich, der meine Sätze so dramatisch in die Länge zieht und mir deshalb immerfort die Zunge zeigt.
Mensch und Vieh Der Mensch an sich ist wie das Vieh, das er, je nach geographischer beziehungsweise kulturell ursächlicher, also durchweg religiöser Gegebenheit am liebsten verspeist. Er steht im Weg herum und gerät in der Regel nur dann Bewegung, wenn ihn jemand oder etwas antreibt. Das kann ein Unformierter sein oder ein anderes verhärmtes Würstchen. Schwerfällig bewegt er sich, wenn ihm eine Buße, volksmundig auch Strafe genannt, in welcher Form auch immer, angedroht wird. Kregelig wird's dann, wenn's eine Belohnung gibt für etwas, das ihm gar nicht gebührt. Egal, Hauptsache kostenlos. Dann ist es ihm auch wurscht, ob ein Mitmensch da im Weg herumsteht. Der magazinal Informierte nennt das dann gerne alles fließt, Hintergründe interessieren nicht weiter, Hauptsache das dazu gereichte Bier läuft umsonst aus dem Hahn. Dem Gebildeteren fließt es als panta rhei aus dem gespitzten Mündchen, wobei auch er in der Regel vernachlässigt, was diese sprachliche Bewegung verursacht haben könnte, denn irgendwie ist auch ihm das egal, zumal er nicht den Wandel konstatierend anstrebt, sondern daß es immer so bleiben möge: billig, besser noch ohne Bezahlung, auch, wenn das Würstchen nicht mehr Würstchen heißt, sondern petite bouchée, hierzulande gemeinhin wohl besser bekannt als canapé, und es dazu ein petite gorgée, ein Schlückchen aus der guten Pulle gibt. Dann treibt die Avantgarde einen Keil in den Block der Herumstehenden; irgendein Bock ist immer bereit, die Hörner zu senken. Es spielt bei alldem keine Rolle, ob man sich auf einer landwirtschaftlichen oder anderskulturellen Veranstaltung befindet. Diese Gesetzmäßigkeiten gehen durch alle gesellschaftlichen Schichten. Zumindest rechtsrheinisch. Dennoch kann man auch überrascht werden, interessanterweise im protestantischen Norden dieser Republik. Ausgerechnet dort hört man nach einem Rippenstoß oder Fußtritt des öfteren mal das Wörtchen Tschulligung; Berlin, das sei nebenbei angemerkt, gehört nicht zum Norden, es liegt mittendrin in der deutschen Kulturlandschaft, die anderswo Civilisation geheißen wird. Messen habe ich in meinem Berufsleben viele besucht, jahrzehntelang im Schnitt fünf bis sechs pro Jahr. Zum ersten Mal war ich jedoch ohne freien Eintritt, also inclusive Kassenschlangestehen auf einer Messe — auf einer für Landwirtschaft. Das Ereignis Mitte der siebziger Jahre kann nicht hinzugezählt werden, da es sich um die Randbeschönigung des vermutlich größten alljährlichen Besäufnisses der Welt handelte und es mich nicht wirklich interessierte. An die Folgen des letzteren erinnere ich mich bis heute: von Wiesn-Bier erholt man sich nur schwer. (Vermutlich geht vom dunklen Gebräu der nicht minder trinkfreudigen Mecklenburg-Vorpommern keine solche Gefahr aus, denn die anwesenden Chinesen genossen es ausgiebig. Aber es war ja auch noch früh am Morgen.) Und ich stellte rasch fest, daß sich so ein Bauern-Event in keiner Weise von einer Kunst- oder Buchmesse unterscheidet. In der Kleidung vielleicht. Die Landbevölkerung läuft nicht ganz so arg uniformiert herum. Obwohl ... ![]() Auf jeden Fall sind die Verhaltensweisen nahezu identisch. Jeder will der erste und am nächsten dran sein. Gedrängelt und geschoben wird bereits vor dem Gelände. Nun ja, etwas mehr Rücksicht als drinnen wird durchaus noch genommen. So direkt gerempelt und gestoßen wie in den Messehallen wird vor und auf den Parkplätzen nicht. Dem Reisegefährt könnte sonst ja Schaden entstehen. Aber vor den Boxen wird geboxt; wahrscheinlich heißen sie deshalb so. Dabei ist es unerheblich, ob's Bücher, Kunstwerke oder Rindviecher zu begutachten gibt. Und so manches Mal möchte man selber mit dem Boxen beginnen, wenn sie in der Mitte des Ganges die Nachbarn aus dem Dorf getroffen haben, die sie so lange nicht mehr gesehen haben und sich deshalb genau dort gegenseitig ausführlich berichten müssen, wie das gestern ausgegangen ist beim ziemlich feuchten Grillen (oder Golfen, je nach Erbmasse). Ganz arg wird's, wenn das Gerücht in Umlauf gerät, da würde jemand was verschenken. Die Hähne hören auf, genervt zu krähen, die gezierlichten Hybriden lassen sich hinten auf den Schinken gucken und käuen vorne in aller Ruhe wider, denn ihre Hallen sind geradezu verwaist, weil alles unerbittlich in jene strebt, in denen regionale Verkostung stattfindet. Und wenn sich dann herausstellt, daß es nur Verkostpröbchen sind, die kostenfrei angeboten werden, dann steht der eine oder andere auch schonmal breitschultrig sein Revier behauptend vor dem Käsestand und stopft sich die Stückchen handvollweise in den Mund. Ab frühem Nachmittag, weil's dann im Fernsehen beginnt, das Qualifying, wird's auf dem Messegelände ruhiger, dann wird es auf dem Nachhauseweg anderwegig geprobt: das alltägliche Training des allgemeinen Sozialverhaltens, hier dann auf den Straßen (aber das hatten wir bereits, zumindest teilweise). Deshalb und wohl auch aus Verbundenheit zu ihrer ländlichen Herkunft hat sich Frau Braggelmann ein neues Fahrzeug zugelegt.
Wie im Kino Das hier immer wieder mal ein bißchen allzu gerne erwähnte Marseille entstand vor gut zweitausendsechshundert Jahren. Bei mir machte es sich etwas später bemerkbar, und zwar, als die Bilder bereits laufen konnten. Hoch oben im Nordwesten, etwa auf dem Breitengrad von Venedig, genauer: in einer zwar nicht touristen-, aber doch reklamefreien und deshalb bevorzugt als Kulisse für filmisch historisch ummantelte Degenfechtereien genutzten Zone des Périgord ging ich mit Freunden in ein Kino, das es dort wider Erwarten gab und in dem ich später noch andere Zaubereien sehen sollte. Der Film führte uns in ein ehemaliges Fischer- und somit Künstlerdörfchen, das allerdings, wie ich erst später erfahren sollte, längst Rockzipfel einer großen Stadt war. Und der begeisterte mich dann derart, daß ich nur noch dorthin wollte. Als ich angekommen war, war der Rest der Welt für mich unbewohnbar geworden. Ich erinnere mich, daß ich oft die Zeitungen studiert habe, La Provence und La Marseilaise. Ich weiß noch, daß mir die kleine, ein bißchen kämpferischere, wohl eher links und sozial orientiertere Zeitung, der auch Jean-Claude Izzo redaktionell einmal vorstand, immer sympathischer war als dieses Allerwelts- und Massenblatt La Provence mit seinen Ausgaben für den gesamten Bouches-du-Rhône, Hérault und Vaucluse, also Avignon. Wenngleich La Marseillaise es ebenfalls versucht, bis in die Haute-Provence, in den Luberon hineinzureichen. Aber so richtig wahrgenommen wird sie dort nicht. Sie wird zwar auch im knuddeligen Geburtsstädtchen von Jean Giono angeboten, aber gekauft wird die Konkurrenz. Wie auch immer — ich war sicher, daß nur dort eine Wohnung von Menschen für Menschen angeboten werden könnte. Heute weiß ich natürlich, daß es illusorisch oder auch töricht war. Denn La Provence hat nunmal den Anzeigenmarkt fest im Griff. ![]() Die Bourgeois aus den besseren Arrondissements von Marseille, dem achten, also Perier oder die Corniche, mit seinen Villen und den Reichen hinaus aufs Meer bis bald nach Afrika blickend, oder der neubürgerliche, schnieker gewordenen Teil des altehrwürdigen siebten Arrondissements, also der behütete Part von Endoume, Saint Victor oder Roucas Blanc oder Vallon des Auffes mit seinem geradezu werbefilmreifen kleinen feinen Hafen inmitten der Wirklichkeit, sie alle blieben weg, weil sie ihren Kindern das nicht zumuten konnten — eine Gegend, in der sich aufgelassene Fabriken und das dazugehörende Gesindel befinden, hinter dem Städtchen, das seit 1946 als sechzehntes Arrondissement zu Marseille gehört. Im langsam gewachsenen sechsten um die Préfecture leben einige mit etwas tiefer geschwärzten Bankkonten, die ihren Kindern ein Leben vor dem Tod gönnen würden, die den Begriff Heterogenität nicht nur buchstabieren können. Aber weshalb sollten die nach l’Estaque? Hier existierte ja bereits die Erkenntnis, daß es unterschiedliche Menschen gibt. Vor allem bergan in Richtung Notre-Dame du Mont, um die Place Cézanne oder den Cours Julien wird's ja ausgesprochen gemischt. Jedoch auch immer jünger. Zumindest in den Terrassencafés. Außerdem, wenn man auf die im Sommer doch arg stickige Metro verzichtete, um die zwei Stationen zum Quai des Belges zu fahren, und müßig die Rue de Rome oder die Rue Paradis oder vielleicht sogar diese Budengasse Rue Saint-Ferréol, die mit ihrem Markennamenterror versteckt Sehnsüchte aufwedelt, nach Westen hinunter mehr oder minder lustwandelte, war man von der Place Castellane in zwanzig Minuten am Vieux Port, am Alten Hafen. Im — für Marseille allerdings eher ungewöhnlichen — Schnellgang hätte man's auch in der Hälfte erledigt. Wie auch immer — Marius und Jeannette würden zwar nicht freiwillig hierherziehen, aber auch nach einer Zwangsumsiedlung könnten sie hier in Frieden leben. Gezogen bin ich dann an den Cours Belsunce.
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