Im Traum schreiben,

das ist nichts neues für mich. Da habe ich jahrzehntelange Erfahrung. Brillante Aufsätze habe ich früher im Schlaf verfaßt. Anderen erging es nicht anders. Ein Freund und Kollege selig berichtete mir von seinen geradezu traumatischen Bemühungen, die jeweiligen grandiosen Über- beziehungsweise Niederlegungen festzuhalten. Dazu gehörte, daß er sich Zettel und Stift aufs Nachtkästchen legte, um sofort nach dem Erwachen das perfekt Ausgearbeitete zu fixieren. Allerdings hatte er mir nie verraten, wie erfolgreich er dabei war. Selbst mußte ich die bittere Erfahrung machen, nämlich die, daß es keine Möglichkeit dazu gibt. Alles ist entschwunden, hat man auch nur ein Auge geöffnet. Sämtliche traumhaften Texte blieben ein Traum. Nichts blieb als die Erinnerung an etwas Großartiges. Irgendwann habe ich es aufgegeben, habe sie sein lassen, die quasi schlafwandlerische Dichtung.

Sehr lange Zeit hatte ich Ruhe. Doch nun geht das wieder los, mit einem Mal, nach vielen Jahren. Zwei durchträumte Nächte habe ich damit verbracht, herausragende Texte zu verfassen, perfekt ausformuliert, druckreif hat man das früher genannt. Allerdings sitze ich nicht mehr wie einst an meiner guten alten rasenden IBM mit ihren Kugelköpfen, sondern neuerdings liegend am Computer, und es geht auch nichts mehr in Druck — alle möglichen Blogs schreibe ich voll. Ob es daran liegt, daß ich zwei Tage nicht im Internet war? Mir schwant Schreckliches: Entzugserscheinungen.
 
Mo, 25.01.2010 |  link | (2751) | 13 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Seltsamkeiten



 

Räuber! Diebe!

Meine höfische Unterhalterin Madame Comtesse Mimi de Schwerin, von sehr, sehr altem mecklenburgischen Geschlecht, ist das, was gerne emanzipiert genannt wird. Seit sie ihre Kleinen großgekriegt hat, hält sie nichts mehr, und ich muß seitdem wieder selber lesen, wenn ich mich in meiner Revolutionskate aufhalte. Es gibt weit und breit keinen Kater, der an ihre Umtriebigkeit hinreichte. Je nach Lust und Laune sucht sie sich ein Plätzchen. Das kann, wie mir der Concierge kürzlich berichtete, inmitten der Pellets sein, die wir seit letztem Sommer für die Befeuerung benötigen, wenn die Sonne sich mal wieder über der offenen Ostsee herumtreibt und unser Dach ignoriert. Auch im ehemaligen Schweinestall hat sie sich eine Hütte im Holz gebaut. Gerne besucht sie auch den Schwarzen von nebenan, der sie offensichtlich, wenn auch äußerst widerwillig, in Ruhe läßt, da sie ihren Graugetigerten und Erzeuger ihrer Vier nach wie vor zu lieben scheint, vielleicht auch deshalb, weil er sich ab und zu mal blicken läßt. Nichts zu befürchten hat sie auch von dem der unteren Nachbarn, weil der froh ist, daß er überhaupt noch liegen kann. Deshalb wohl liegt sie dort bevorzugt daneben, sicherlich auch, weil es so praktisch, nämlich ebenerdig ist, Bäume hat sie Tag und Nacht, da muß sie nicht auch noch Treppen steigen. Angenehm ist's obendrein, einfach auf die Bettdecke der Nachbarin zu hüpfen, die immer so kalte Füße hat. In ihrem ureigenen Zuhause ist das nämlich verbotene Zone. Ließe bei diesen Tierliebhabern die Küche nicht zu wünschen übrig. Überhaupt kriegt sie überall was, offenbar sogar von Madame Lucette, die es mit diesen Tieren eigentlich nicht so hat, weil die nächtens gerne die Lichtkontakte auslösen. Manchmal gehe es zu wie bei den andauernden Illuminationen am Hof von Versailles, meinte die höfisch Erfahrene einmal in den Anfängen meines Daseins in unser aller Diaspora. Mimi scheint das allerdings rasch herausgefunden zu haben und unterläuft deshalb wie im französischen Film sämtliche Laserstrahlen. Und verzückend mit den Wimpern spielen kann sie ebenfalls.

Hin und wieder erinnert sie sich ihrer eigentlichen Behausung oder ihres ursprünglichen Untergebenen oder sucht schlicht Abwechslung vom Vielerlei ihrer Herumtreiberei. Dann setzt sie sich unabhängig irgendwelcher Temperaturen oder Bodenzustände unten hin und schaut, bei geradezu aufreizendem Augenaufschlag, hinauf zu den Fenstern meiner Türmerei, von denen sie weiß, daß meine Vorstellung, es könnte doch irgendwann irgendetwas geschehen, mich immer wieder dorthin treibt. Wenn es ihr zu lange dauert, was geschehen kann, wenn ich mich mal wieder im Tiefschlaf meiner Welt der Dichtung befinde, dann ruft sie kurz. Das geht durch jedes noch so alte Gemäuer. Ein kurzer Schrei, beweg dich, du dröges Stück Verantwortungslosigkeit, und es reißt mich aus meinem romantischen l'art pour l'art. Sie weiß genau, daß ich mich dann flugs zum Fenster hin aufmache, es, die Spinnweben meiner Eremitage vorsichtig, um sie nicht zu zerstören, beiseite schiebe, öffne, ihr in die Augen schaue, kurz nicke, das Fenster wieder schließe, sofort hinuntereile, um sie einzulassen. Oben angekommen, putzt sie sich zunächst die Natur einer oder zweier Nächte an meinen Beinen ab, legt sich auf den Rücken, um sich den Bauch kraulen zu lassen, erhebt sich anschließend und gibt in der Folge einen Laut von sich, der befiehlt: Ab in die Kammer, ich bin des Zeugs überdrüssig, das die anderen mir fortwährend vorsetzen, von dem sie unüberprüft immerfort glauben, was ihnen die geschäftstüchtige Werbewirtschaft ohn' Onterlaß via allabendlicher Fernsehunterhaltung einflößt, es täte uns edlen Geschöpfen gut, uns von den alten Ägyptern vergötterten, das jedoch nichts ist als der Abfall der Menschheit mit zwei Prozent Fleischanteil, angereichert mit Geschmacksstoffen. Nach vierzig, fünfzig Prozent mindestens ist mir, du weißt es alleine durch meine Anwesenheit, heute nach Kaninchen, die Feiglinge haben sich alle in ihren Löchern verkrochen, nicht einmal ein paar Mäuse und Ratten sind unterwegs bei diesem lauen Lüftchen, was sind schon zehn Grad minus. Also mache ich mich auf und hole ihr von nebenan das Gewünschte. Nach der Hälfte des Mahls putzt sie sich den Dreck ab, den ich beim Bauchkraulen hinterlassen habe, räkelt sich ein wenig neugierig auf ihrem Ausguckkissen, um anschließend in ihr altangestammtes Lager über den Büchern zu entschwinden, was sich im Gegensatz zu früher nicht mehr ganz so einfach gestaltet, da sie schließlich vierfach gebärt und auch noch ein wenig Winter-, na, nennen wir's Fell zugelegt hat. Dort schläft sie ihren Kaninchenrausch aus, kommt eine Weile später gemächlich herunter und bedeutet mir, gefälligst die Türen zu öffnen, um sie in die ihr gebührende Freiheit hinauszulassen, schließlich sei sie keine Stadtkatze. Die Resthappen nähme sie später unten. Allez, vite ! An die mecklenburgischen Höfe ist die Revolution irgendwie nicht so recht angelangt, weshalb weiterhin bedenkenlos französisch befohlen wird.

Zwar fläzt sie sich ganz gerne inmitten der Literatur herum, aber Staubmäuse werden ihr auf Dauer zu langweilig. Dann bekomme ich sie tage-, nächtelang nicht zu sehen, sie benötigt eben ihre natürlichen Räume. Deshalb stelle ich ihr immer ein Schälchen mit mindestens Vierzigprozentigem unten hin, machmal auch was zum Knabbern, das mag sie zwischendurch ganz gerne; sie schaut ja ebenfalls ständig in die Ferne. Heute nun ein Anruf von Madame Lucette, von unten hinauf zu mir, auch auf dem Dorf geht man nicht mehr so die weiten Wege, vor allem, wenn sich einem Treppen als Hindernisse auftun. Ganz aufgeregt und entgegen ihrer sonstigen Zurückhaltung auch noch so laut, daß gar ich Hörrohrbenutzer Distanz herstellen mußte, rief sie den Hörer: Brigands ! Voleurs ! Aber bei uns doch nicht, entgegnete ich. Uns finden doch keine Räuber und Diebe. Die verlaufen sich doch auf dem Gelände während der Suche nach lohnendem Gut und fallen in den Hausteich; na gut, das ginge gerade nicht wegen der Beschaffenheit des Wassers ... Nein, solche meine sie ja auch nicht, ihr Gatte beherrsche schließlich nicht nur den Golfschläger, sondern auch sein Gewehr; dieses französische Ritual, das sie ihm mühsam beigebracht habe, sei hinreichend bekannt. Die Vögel machten sich über Mimis Menue her! Raben, Krähen, sogar Amseln hätten keinerlei Ehrfurcht mehr vor dem Eigentum anderer Geschöpfe.

Ich versuchte, sie zu beruhigen, indem ich ihr die natürlichen «Vereinbarungen» zwischen Mimi und dem Federvieh erläuterte, die sie mir mal verraten hatte. Für jeden Napf ihres Vierzig- oder lieber noch Fünfzigprozentigen oder mehr, den diese Räuber und Diebe, allen voran diese schwarz-weiß bemalten Masken, die ja bekannt seien für ihre hemmungslosen Klauereien, ihr wegfräßen, hole sie sich im Frühjahr eines ihrer Jungen. Und wenn das Schälchen mal wieder leergepickt sei, dann habe sie ja immer noch deren Leckereien. Die letzte Wild-Paté sei übrigens ausgezeichnet gewesen. Der darin enthaltene Cognac sei vielleicht ein bißchen alt gewesen, das erinnere sie zu sehr an die Familiengeschichte, sie bevorzuge zudem eher das Frische. Aber so langsam gewöhne sie sich an ihre Küche.
 
Do, 21.01.2010 |  link | (3843) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Katzenleben



 

Steinbrüche der Formen

Fortsetzung der Ursachenforschung zu Bau- und anderen Häuslern

Das Prinzip Hoffnung nannte Ernst Bloch das mal. Dort hinein hat er unter anderem geschrieben: «Architektur insgesamt ist und bleibt ein Produktionsversuch menschlicher Heimat.» Zwischen 1938 und 1947 schrieb er das. Alle dahingefahrene Hoffnung scheint ein guter Nährboden zu sein. Erst kamen die Trümmerfrauen, dann wurde auf-, wurde neu gebaut. Und wie! Die Architekten und deren Helferlein rasterten sich die Finger wund. Bis in die siebziger Jahre. Doch bereits zehn, fünfzehn Jahre zuvor hatte die Kritik eingesetzt. Karl Pawek, damals Chefredakteur der angesehenen Zeitschrift magnum, schrieb von der absolut vertanen Chance, ein menschenwürdiges neues Deutschland entstehen zu lassen. Einhellig waren einige der Meinung, Architekten, Bauherren aller Art und die Bauindustrie hätten eine Tristesse ohnegleichen geschaffen. Auch der selbsternannte «Schwätzer» hatte in die Diskussion eingegriffen. Bazon Brock, später Professor für Ästhetik und Kunstvermittlung in Wuppertal und mittlerweile emeritiert, fragte laut und vernehmlich: «Wie kommt es zu dieser Kaninchenstallarchitektur, zu der Legebatterienarchitektur oder, wie ich damals geschrieben habe [wenn ich mich recht erinnere in einer Schrift der Gesamthochschule Kassel], zu dieser Pissoirhausarchitektur, sprich München-Perlach, sprich Nordweststadt Frankfurt, sprich Gropiusstadt in Berlin et cetera.» Ich fragte ihn, wie es seiner Meinung nach dazu kommen konnte. Er kam zu einer, wie er meinte, «einfachen» Antwort:

«Es kommt zu einer solchen desastreusen Architektur, weil die Architekten tatsächlich das bauten, was sie für modern hielten. Des Rätsels Lösung hieß schon damals für uns: Diese Leute haben ein falsches Verständnis des Verhältnisses von Plan und Realisierung Das sind alles KZ-Bauplaner, nämlich deckungsgleiche Umsetzung von Plänen in die Wirklichkeit. Sie sind nur am Plan orientiert, sie verfertigen das Ganze auf dem Reißbrett wie ein Schreibtischtäter, und die hundertprozentige Umsetzung in die Wirklichkeit muß selbst dann zu einem KZ führen, wenn der Täter am Reißbrett der liebe Gott persönlich gewesen wäre.»

Dieser Schelte gegen selbsternannte Architekten der Moderne pflichtete einer bei, wenn auch um Moderation bemüht. Sicher, sagte Winfried Nerdinger mir vor längerer Zeit, «die Architektenschaft hat beim Wirtschaftswunder kräftig mitgemacht und stand da an führender Stelle. Es wurden einzelne Elemente des Neuen Bauens, der modernen Architektur, formale Elemente, Oberflächenstrukturen übernommen, Glasfassaden, Skelettstrukturen und ähnliches. Die Inhalte, die dahinter steckten, die finden sich allerdings in dieser Architektur fast nicht.» Diese Architekten haben die Prinzipien der Moderne schamlos ausgeschlachtet. Der auch soziale, gesellschaftserneuernde Gedanke des Neuen Bauens, dem das Bauhaus zuzuordnen ist, blieb völlig unbeachtet, man bediente sich lediglich der technischen Möglichkeiten wie beispielsweise kostengünstiger Teilevorfertigung. Es ging also um Kostenreduktion, sprich Profit, und weniger um Heimat. Nicht vergessen werden darf: Die Berufsbezeichnung Architekt war nicht geschützt. Wer einen Bleistift halten und damit Linien ziehen konnte, der tat es auch.

Ich hatte das Glück, zu denen gehören zu dürfen, dessen Architekten behutsamer mit den Menschen umgegangen, denen Inhalte vorrangig waren. Jahrelang war ich auf dem Weg zur im Münchner Olympiagelände lebenden Freundin an einem Haus vorbeigefahren, dessen Fassade ich als derart abscheulich empfand, daß ich jedesmal laut ausrief, in ein solches Gebäude würde ich nie einziehen. Einige Zeit später tat ich es dann doch. Ich war aus meiner fündundvierzig Quadratmeter kleinen Behausung in der Maxvorstadt ausgewiesen worden, und die Gefährtin hatte die etwas mehr als doppelt so große am Rand des geschätzten Olympiaparks aufgetan. Bereits beim Eintreten in den Hausflur nahm ich alle meine Flüche zurück. Ein via Glasdach lichtdurchflutetes Treppenhaus, in das problemlos pro Etage noch einmal jeweils zwei Wohnungen Platz gefunden hätten, hatte sie getilgt. Ganz oben unterm hervorragend isolierten Flachdach in der geradezu «raffiniert» geschnittenen Wohnung verhielt es sich ebenso. Überall Licht. Die Küche, das Bad waren kleiner gehalten, aber dorthin gelangte man, wie in alle anderen Räume, über einen zentralen Flur, der viele Male als Austragungsort von Bacchanalien dienen sollte. Nach draußen blickte man durch fassadenweite Doppel-, sogenannte Kastenfenster, die nicht nur für eine äußerst angenehme Klimatisierung sorgten, sondern obendrein als Zuchtstation für alle erdenklichen Nutzpflanzen dienten, die bei entsprechender Witterung in der etwa acht Meter langen Südloggia Platz fanden: Kartoffeln, Kürbisse, Tomaten und andere mehr, mein Kleingarten. In dieser Wohnung saß alles am richtigen Platz, auch eine Kleider- oder Vorratskammer war vorhanden, nirgendwo mußte ein Schrank hingestellt werden. Für vorübergehend Verzichtbares gab es einen Keller neben der Tiefgarage, in den ich mit dem Fahrstuhl fahren durfte. Müll mußte ich keinen hinuntertragen, nicht, weil ich keinen produziert hätte, sondern weil es dafür einen Schlucker gab. Das Haus war, das hatte ich innerhalb kürzester Zeit festgestellt, perfekt durchgeplant und Anfang der sechziger Jahre ebenso gebaut. Der Architekt hatte exakt die Vorgaben des Neuen Bauens erfüllt. Bald zwanzig Jahre war ich dort Mieter zu günstigen Konditionen, und ich wäre es noch, hätten mich die Schicksale nicht in alle Winde zerstreut.

Die Architekten des Neuen Bauens wollten ihren Teil zu einem neuen gesellschaftlichen Bewußtsein beitragen. Es ging «danach» schließlich auch darum, das sogenannte Dritte Reich und dessen Wegbereitung vergessen zu machen. Das sollte nicht immer gelingen, viele Gebäude aus der Zeit des Übergangs zur Nazi-Architektur haben sich unter den Bomben weggeduckt, und manch eine dieser «gemütlichen» Kleinteiligkeiten wurde fortgesetzt. Die Bauherren der späteren Nachkriegszeit, Wohnungsbaugesellschaften und dann Versicherungsunternehmen, hatten ohnehin nur Sinn für die Immobilien des Mehrwerts. Nicht vergessen werden darf dabei, daß es die Volksvertreter in den Rathäusern waren, die Bebauungspläne verabschiedeten und Genehmigungen erteilten. Oft genug saßen sie in Juries, die über das architektonische Wohlbefinden der gesamten Bevölkerung entschieden. Der Leverkusener Architekt Ulrich von Altenstadt erzählte mir einmal von seiner Nebentätigkeit: «Ich bin häufig in Preisgerichten, wo ja immer die Fachpreisrichter, die Fachleute, mit den Laienpreisrichtern, das sind dann meistens die Vertreter des Bauherrn, ob's nun Ratsmitglieder sind, Mitglieder des Vorstands einer Industrie oder was auch immer, sich zusammensetzen, um nun eine Auswahl unter einem Angebot von Architekturplänen zu treffen. Und ich muß regelmäßig feststellen, daß über Fragen von Architekturqualität oder Baukunst bei den Laien sehr viel weniger Kenntnisse vorhanden sind wie über den letzten Tabellenstand der Fußballauseinandersetzungen oder sonstige Dinge.»

Doch die fachliche Qualifikation von Ratsherren und Vorstandsmitgliedern ist es nicht allein, die mit beigetragen hat zu Beschlüssen, über deren Verwirklichung seit Jahrzehnten geklagt wird. Es gibt diese unselige Verquickung von Architektur und Geld, die einen ganz erheblichen Anteil an dem so beklagten Dilemma hat. Der ehemalige Wiesbadener Stadtbaurat Paulgerd Jesberg verriet mir zu Lebzeiten: «Die Wettbewerbe sind ja zuallererst und meistens immer von der öffentlichen Hand, von den Kommunen, in der Nachkriegszeit meistens auch von den Kirchen ausgeschrieben worden. Nun ist es aber so: Die Gemeinde als Hoheitsträger oder der Bauherr, welcher auch immer, ist anderen Einflüssen ausgesetzt als denjenigen Entscheidungen des Preisgerichts. Und dann wird es sicherlich den vierten Preisträger oder den Ankauf bevorzugen, weil der gerade in seinem Ort ansässig ist, alle Fäden zu den ansässigen Bauunternehmern besitzt und deshalb mit Sicherheit auch den Preis dann zugespielt bekommt durch irgendwelche Entscheidungen, die die Gemeindeverwaltung dahingehend zu treffen hat. Daraus möchte ich auch entnehmen, daß von dieser Seite aus sehr viel Einfluß auf die Architektur, auf die Qualität von Architektur und vor allen Dingen auf die ästhetische Qualität von Architektur genommen worden ist.»

Nach dem Wiederaufbau mit allen seinen Monströsitäten, die zweifelsohne Ideologien geschuldet sind, die keine Differenzierungen zuließen, kam die Postmoderne, dieser «Steinbruch der Formen», wie der Stuttgarter Architekturlehrer Jürgen Joedicke diesen Versuch der Verschlimmbesserung genannt hat. Die Postmoderne, das hieß nicht, wie ein von mir hochgeschätzter ehemaliger Kollege einmal köstlich witzelte, daß die Post nun modern baut. Es ist ein ursprünglich aus der US-amerikanischen Literaturwissenschaft kommender Begriff aus den sechziger Jahren, geprägt vom Bruder des Publizisten Charles Jencks, der ihn später in seine Branche überführte. Damit sollte, in der hier stark vereinfachten Erklärung, signalisiert werden: Es muß ein Ende haben mit diesem phrasenhaften Gedresche von gesellschaftlichen Neuerungen, die den besseren Mensch hervorbringen solle, am Ende gar mit einer neuen Formensprache (um die es hier geht, alles andere ist alles andere). Endlich sollte wieder alles möglich sein. Alles ist machbar, Herr Nachbar, so übersetzte des Volkes Mund das anything goes, bekannter geworden durch Andy Warhol. So durfte, wie eingangs erwähnt, auch die Architektur wieder Kunst sein, präziser: endlich flügges Einzelkind der Kunst werden, weg vom Rockzipfel der «Mutter aller Künste» (Vitruv), herausgelöst aus gesellschaftlichem Anspruch auch der Bauhäusler, den Begriff l'art pour l'art ganz im postmodernen Sinn aus dem Steinbruch der Geschichte nehmend und in das neue Weltbild hineinklebend.

Ein gigantischer Rummel setzte ein, den Charon treffend als «das Phänomen der ‹stararchitecture›» charakterisierte. Es war der Beginn einer Verpackungsarchitektur, die auf Inhalte keinerlei Wert mehr legte. Neben- oder Abfallprodukt waren dubiose «Phantasien», etwa die Künstlerei eines Hundertwasser, der selbst zehn Jahre nach seinem Tod von da oben herunter noch durch Städtchen und Städte eiterpickelt, nicht nur der wirtschaftlichen Gesundung, sondern auch der der lieben Kleinen dienend; und lange wird's nicht dauern, bis ein holsteinischer oder niederrheinischer oder badischer Dorfbürgermeister auf die Idee eines Gedenkbrunnens kommen wird. Schließlich hat auch Keith Haring die Schulen erobert, wie mittlerweile die Kunst die Märkte der Freiheit von jedem tieferen historischen Bezug. Wer mag denn daran noch denken, wie Charon gestern anmerkte, daß die Bauhaus-Siedlungen wie beispielweise die in Frankurt am Main «ursprünglich einmal als sozialer Wohnungsbau konzipiert worden waren, dann aber rasch von der kreativen Klasse übernommen wurden»? Die Martensteins dürften ihr nicht zuzurechnen sein, es sei denn, die monetäre Gestaltungsfreiheit der Postpostmoderne machte die Tore weit(er). Immerhin begann am «gestalterischen» Rand der geradezu ausufernden Diskussion, während der Jürgen Habermas vom (mittlerweile längst wieder vergessenen) unvollendeten Projekt Moderne schrieb, auch der Laie sich ein wenig für das zu interessieren, das ihn die vierundzwanzig Stunden eines Tages umschließt, Und er stellte fest, daß er wieder mehr liebens- und lebenswerte Architektur haben möchte, in der er sich zuhause fühlen, in der er wieder flanieren kann. Man begann wieder Passagen, Arkaden und Galerien zu bauen, entwarf wieder Plätze, die dem Miteinander dienen sollten. Doch man braucht sich nur die Prosa der Immobilienhändler anzuschauen, um zu wissen, was mit dieser «galanten» und «noblen» Architektur gemeint ist: Wohnen in der Welt des Shoppings.

Daran hatten bereits kurz nach dem letzten Krieg einige Städteplaner gedacht, als sie das planten, allerdings eher im Sinn des Produktionsversuchs menschlicher Heimat. Dafür konnte Winfried Nerdinger «ganz konkret den sogenannten Abel-Plan nennen. Adolf Abel war Nachfolger Theodor Fischers auf dem Lehrstuhl für Städtebau an der Technischen Universität München und war in den zwanziger Jahren der Architekt Konrad Adenauers für den Aufbau eines neuen Köln. Er hat im Auftrag des Oberbürgermeisters in München eine Planung entwickelt für den Wiederaufbau, der von einer konsequenten Trennung von Fahrverkehr und Fußgängern ausgeht. Und zwar wollte er die ganzen oder zumindest Teile der Wohnblöcke im Innern öffnen und Fußgängerzonen durch diese geöffneten Wohnblöcke hindurchführen. Und diese Fußgängerzonen, dafür hatte er ein ganzes sternförmiges System entwickelt, von einer neuen Stadtmitte aus, die hätten nun nach seinen Vorstellungen die Möglichkeit zu einer enormen architektonischen und urbanen Vielfalt geboten, mit Passagen, Durchgängen, Ladenzonen, mit Bereichen für Straßentheater, Straßencafes usw., all das, was man eben heute wieder künstlich versucht zu bauen.» Daß der Abel-Plan nicht realisiert wurde, erscheint fast logisch. Denn dann, so Nerdinger, hätte man «natürlich in die Besitzverhältnisse eingreifen müssen. Man hätte eben die Blöcke aufbrechen und den Blockinnenraum gleichsam verstaatlichen müssen. Und davor ist man eben zurückgeschreckt.»

Die Grundvoraussetzungen für solche Vorhaben wurden in den Länderparlamenten später verabschiedet — bis auf das bayerische, dort schaltete man sich schon damals aus dem gemeinsamen Programm aus. Doch das entsprechende Gesetzesinstrumentarium, das weniger auto- und dafür mehr menschenfreundliche Innenstädte hätte schaffen können, wurde nicht genutzt. Die Wiederaufbaugesetze vergilbten in den Schubladen der Ministerien, ohne das man je Gebrauch davon gemacht hätte. Stuttgart, Köln, Hamburg, Hannover, Frankfurt am Main, aber auch kleinere Städte machen deutlich, wie man in der Nachkriegszeit und noch viele Jahre danach die gute Stube einzurichten gedachte. Ein falsches Festhalten am Eigentumsbegriff hatte städtebauliche und architektonische Häßlichkeiten entstehen lassen, die die Menschen in die Randzonen getrieben haben. Und selbst dort, in dieser «desastreusen Architektur», wie Bazon Brock die Satellitenstädte genannt hat, mußten sie dann irgendwann Mieten zahlen, die den innerstädtischen nahe kamen, ohne jedoch die Vorteile urbaner Vielfalt genießen zu können.

In der Mietpreisentwicklung bundesweit ganz vorne steht seit langem München, früher gerne selbsternannte «heimliche Hauptstadt» oder als «größtes Dorf der Welt» bewitzelt. Dort zwackt heute, auch in Randbereichen, eine Dreizimmerwohnung vierzig Prozent und mehr eines Durchschnittseinkommens ab. Im Norden der Republik sieht es nicht anders aus. Selbst im Speckgürtel Hamburgs kommt man, je nach Lage, etwa in Lütjensee, wo die besserverdienende SUV-Gesellschaft einen Trutzberg bewohnt und deshalb alle anderen auch tiefer ins Portemonnaie greifen müssen, teilweise an Chefredakturs-Mieten heran, an die der Isestraße; etwas günstiger wird es in der Verlängerung über den Eppendorfer Baum, die dann Misestraße genannt wird. Speckgürtel, das heißt auch: mit dem Auto hinein nach Hamburg. Denn wer monatlich fünfzig Euro Miete weniger zahlen möchte oder wegen der hohen Mietkosten auf dem Land ein Kind, einen Baum, Sie wissen schon, in welcher Reihenfolge auch immer, dann der biblischen Diktion auch des Hausbaus gefolgt ist, der ist in der Regel abgehängt. Die S-Bahn fährt nicht bis ins Dorf, auch nicht der Bus aus oder in die nächste Kleinstadt, denn wenn Schulferien sind, geht gar nichts mehr, nicht einmal die vier Verbindungen täglich.

Aber jetzt befinden wir uns bereits auf dem Dorf, von dem viele Städter sich gesagt haben: Bei solchen Mieten schaffe ich mir doch lieber Eigentum — und zersiedele ein bißchen Land. Was auch die alteingesessenen Dörfler tun, «denn in so einen alten Kasten», wie Dieter Wieland das einmal beschrieben hat, «würde sie nicht hineinheiraten».


Und das ist ein Thema für sich. Das sollte ich besser gesondert behandeln. So sich überhaupt jemand dafür interessiert ...
 
Sa, 16.01.2010 |  link | (8472) | 29 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn



 







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