Es wird Nacht über Deutschland ![]()
«Weniger Geld!» für Ärzte Diese Forderung las ich in der Feldpost, in der ich mal wieder gestöbert hatte. Zunächst regte sich Widerspruch, bin ich doch der Meinung, daß Mediziner, zumindest die der Krankenhäuser, für Einsatz und Leistung zuwenig Lohn erhalten; auch von manch einem Allgemeinarzt meine ich das. Doch dann tat ich, was eben getan werden muß, ich las weiter. Und ich begann, angesichts der geschilderten Erlebnisse nicht nur zu verstehen, auch setzte der bei mir mittlerweile gefürchtete Mechanismus der Erinnerung ein und begann zu relativieren. Anfang der Neunziger folgte ich, wie sich das gehört für einen sich zwar in Richtung Jahre bewegenden, aber eben dennoch zukunftsorientierten Mann, der Gefährtin. Sie bewegte sich auf zwei, ich hinterher auf vier Rädern. Ein anderer Verkehrsteilnehmer stieg aus seinem Automobil aus, vergaß dabei allerdings, vorab in den Rückspiegel zu schauen. Worauf meine Schönheit mit einem Mal nicht mehr so zauberhaft aussah, denn durch Außergewöhnlichkeit verursachte Schmerzen, wie ich gerade wieder lesen mußte, können Gesichter entstellen. Der Lenker der Voiture war recht entsetzt über seine zweifelsohne unvorsätzliche Körperverletzung und über alle Maßen bemüht, seine Schuld anzuerkennen. Aber ins Krankenhaus wollte ich meine Geliebte dann doch lieber selber fahren, zumal ich meinen Wagen direkt hinter der Gestürzten zum Stehen gebracht hatte. Es folgten unangenehme Stunden im Schwabinger Krankenhaus, nicht so sehr für die Gefährtin, deren Schmerzen abgeklungen waren, wir aber sichergehen wollten, daß am Bein oder gar am Kopf möglicherweise nicht doch etwas Schlimmeres kaputtgegangen sein könnte, sondern wegen des wartenden Stöhnens der anderen ihrer Not wegen Aufgenommenen, denen es seit langem weiterhin wehtat, wobei vereinzelt nicht einmal dem Blutfluß ernsthaft Einhalt geboten wurde. Man könne es eben nicht ändern bei dem Andrang, teilte mir eine junge Ärztin lakonisch auf meinen Hinweis auf die vier oder fünf jammernd auf Bahren Herumliegenden mit. Die seinerzeit von mir nicht Trennbare wurde als leicht lädiert entlassen, wurde später dann auch Mutter, wenn auch nicht von mir. Gute fünf oder sechs Jahre später, sie befand sich längst in besserer Obhut an einem anderen Ort, lag ich am Boden, ganz woanders und sicherlich noch immer ein wenig beeinflußt von den Spätfolgen dieser Trennung. Kein unachtsamer Autofahrer hatte mich niedergestreckt, auch nicht die Kunst in Massen, der ich zu diesem Zeitpunkt ansichtig zu sein hatte, sondern ein Defekt in mir, der sich zunächst wie ein Kreislaufversagen anließ. Es hätte auch eines des Herzens sein können, nicht unbedingt der entzückenden champagnerservierenden Dame, sondern (m)einer möglicherweise schadhaften Pumpe wegen. Wäre es so gewesen, ich Glücklicher hätte mich mitten in all den kunstvollen Gemälden und Plastiken und Skulpturen und Videos verabschiedet, wie der Cowboy, der mit den Stiefeln voraus aus dem Saloon getragen werden möchte, denn die im Haus stationierten Sani-Täter benötigten für ihre Anreise fast eine halbe Stunde, um mich zum um die Ecke ausgerechnet auf mich wartenden Notarzt zu transportieren. Zwar war ich nicht ganz bei Sinnen, aber an die Witzchen über mich und meinen Zustand erinnere ich mich noch heute recht gut. Nun, in diesem Beruf benötigt es wohl den Panzer des Zynismus, um diesen Alltag nicht in sich eindringen zu lassen. Flugs, also etwa eine Stunde später, schließlich war zunächst die Versicherungsfrage zu klären, da die Technik noch in den Anfängen steckte und folglich die in dem Kärtchen verborgenen Daten nicht lesen wollte, karrte man mich ins nächstgelegene Krankenhaus. Dort rätselten die Fachleute, auch sie ständig witzelnd, quer durch alle Körperfunktionen jedes Erdenkliche, das seinen Höhepunkt schließlich in einer Magenspiegelung fand, die am nächsten Tag vorgenommen werden sollte. Für diesen Zweck legte man alle möglichen Pipelinen hin mich hinein und schmiß mich nach wie vor bekleideten Corpus delicti anschließend samt Schuhen an den Füßen lieblos in ein Bett der Intensivstation, direkt neben einen frisch Operierten, den sie ohne weitere Maßnahmen wieder zugeklappt hatten, weil die Metastasen in ihm bereits wie weiland die Germanen zur Wanderung quer durch den europäischen Körper unterwegs waren, hier einer, der die Nacht vermutlich nicht überstehen würde. Einiges an Kenntnissen und Erfahrungen zum Thema hatte ich, da mein Bekanntenkreis sich immer irgendwie zumindest teilweise aus Medizinern zusammensetzte; seltsamerweise hat sich das bis heute gehalten. Mir war nicht wohl, nicht nur bei dem Gedanken an diese Diagnostiker und die sich möglicherweise im weiteren ergebenden ärztlichen Maßnahmen, hörte ich doch aus vielen Gesprächen mit denen heraus, die immer gerne in der Nähe unklarer Fälle herumstehen: Chirurgen haben ihren Beruf deshalb ergriffen, weil sie vor allem eines wollen: anderen tief ins Fleisch schneiden. Deshalb entfloh ich frühmorgens heimlich aus dem Hospital und ließ mich ins Hotel fahren. Dort rief ich eine medizinisch versierte Freundin an und bat sie, mich von diesen ganzen lästigen Kanülen zu befreien. Mit dem Taxi schaffte ich es bis in deren Wohnung, wo ich ihr eine Stunde später von der Couch rutschte, dabei alle erdenklichen Körperflüssigkeiten abgebend. Sie wußte, welche Nummer sie zu wählen hatte. Wie mir später berichtet wurde, waren die Blaulichtler von der Apoplexieabteilung eine Minute später bei mir, holten mich zunächst einmal ins Leben zurück, setzen mich anschließend in einen Rollstuhl und fuhren mich, jedes Schlagloch umschleichend, auf daß kein eventuelles Gerinnsel sich lösen möge, in die neurologische Station der örtlichen Universitätsklinik. Ein genetischer Defekt in meinem Gehirn, erklärte mir später der tatsächlich witzige, weil ohne Zynismen auskommende, zudem offenbar etwas mehr wissende und weniger ahnende Chefarzt, habe sich gut über fünfzig Jahre Zeit gelassen, mein Oberstübchen ins Chaos zu stürzen und mir dabei gar kurzzeitig gänzlich das Licht ausgeknipst; was mir zu jenseitigen Erfahrungen, manch einer nennt das Transzendenz, verholfen hat. Es folgten einige Wochen Klinikaufenthalt mit anschließendem Flug zur Hotelkur im Murnau des Blauen Reiters, das sich mir Liebhaber bestimmter Kitschvarianten zuliebe auch noch völlig einschneien ließ. Der Gehirnspezialist mit Vollausstattung in kunstumwehter Praxis in bester Lage, dem ich mich auf Empfehlung (s)eines Kollegen für kaputte Hälse, Nasen, Ohren zur Überwachung meiner in Unordnung geratenen Ganglien anvertraute, schaffte es dann allerdings, den wiederlangten Glauben an die göttlichen Weißkittel wieder zunichte zu machen. Er ließ mich Medikamente einnehmen, die in der verabreichten Kombination zu temporären Depressionen führten, begleitet von heftigen Schüttelanfällen einzelner Gliedmaßen, die sich als Symptome Parkinsonscher Krankheit bemerkbar machten. Diese Diagnose stellte allerdings nicht er, sondern mein alteingesessener Hausapotheker kam darauf, als er die Verträglichkeit der mir verordneten Medikamente prüfte. Bereits auf den Beipackzetteln wurde davor gewarnt, das eine mit dem anderen Präparat zu kombinieren. Bestätigt wurde dieser Verdacht nach Telephonaten meines liebsten pharmazeutischen Drogenhändlers mit den Herstellern. Nun gut, sie sind nicht alle so (un)fähig. Das weiß ich. Manch eine(r), vielleicht besser: ein paar wenige haben auch heute mein uneingeschränktes Vertrauen; was jedoch auch an freundschaftlicher Verbundenheit liegen kann, die zwischen Arzt und Patient mehr Zeit mitbringt. Und die Zweiklassengesellschaft der Krankenversorgung ist mir sehr wohl bekannt, beinahe täglich wird mir davon berichet. Entgegen den Verlautbarungen vieler Politiker existiert sie. Ich kenne die ärztliche Formulierung des Arztes am Telephon, der den Kollegen wegen einer dringenden Überweisung sagt: «Er ist ein Lieber.» Das ist der verbale Schlüssel zum Schnelleintritt in eine weitere Untersuchungsstation, während der Nichtliebe wochen-, oft genug monatelang wartet. Aber das Phänomen schludriger bis unverantwortlicher, möglicherweise unzureichend ausgebildeter Mediziner ist kein neues. Denn wenn ich zurückdenke, war alles noch viel schlimmer, genauer betrachtet war das da oben lediglich eine Skizze für eine lange Erzählung mit dem Schluß: Ins Krankenhaus? Nur über meine Leiche. Deshalb oder auch dennoch kann ich den eingangs per Link erwähnten Ärger nur zu gut nachvollziehen.
Französisch föderal Mit Jack Lang geschah in den achtziger Jahren in Frankreich Wundersames. Vor allem während der Zeit von François Mitterand als Président de la République begann er als Kulturminister das Land zu entzerren oder auch zu dezentralisieren. Das war mehr als ungewöhnlich, führten doch bis dahin grundsätzlich alle Wege nach Paris. Mit ihm kam sogar die zeitgenössische bildende Kunst, eine bei der eher dem Theater oder der Literatur zugeneigten Bevölkerung nicht übermäßig geliebte Disziplin, in die Provinz. Auch dürfte er Einfluß an der entsprechenden Besetzung neuer Häuser gehabt haben wie dem Musée de Grenoble hoch oben in den Bergen, auch Alpen genannt, das Mitte der Neunziger nach langer Planungszeit endlich erweitert worden war und umziehen durfte; in mehr als angenehmer Erinnerung habe ich die Zeit unter Serge Lemoine (der später das Pariser Musée d'Orsay übernahm). Es geschah einiges, das vor der Zeit des agilen, im jüdisch (und somit bastardisch) wurzelnden Lorrain aus Nancy undenkbar schien. So durften, was früher unter Strafe verboten war, beispielsweise an Schulen tief unten im Südwesten wieder Okzitanisch gesprochen und sogar unterrichtet werden; das langue d'oc (daher der Name der Région) sollte über lange Zeit hin ausgerottet, zumindest aber unterdrückt werden. Die Sprache der Könige (bis hin zu Mitterand) war eben langue d'oic. Jack Lang erinnerte daran, daß das Land, bevor Gott zum französischen Katholizismus konvertierte, schließlich zum einen von Barbaren aus dem Norden gegründet wurde, die im Süden auch heute noch so bezeichnet werden, nicht nur weil sie so stottern oder auch stammeln, also unverständlich barbasieren, was dem prahlerischen oder lautstarken, Johann Fürchtegott Gellert zugeschriebenen Bramabarsieren nahezukommen scheint, das dann sogar schon wieder piefkesche Züge aufweist, vergleichweise für den sich dem südsüdostlichen Nachbarn eher verbundenen Bayern, der den japanischen Preiß nicht versteht; und zum anderen, daß, bevor dieser unstete Germane ins Land kam und seine Krieger um sich versammelte, um daraus später die Grande Nation entstehen zu lassen, die verschiedenen Stämme so schlimm unterschiedlich waren und noch unverständlicher sprachen als Asterix und Obelix. Bekanntermaßen schafften es nicht einmal die Römer, diesen ganzen von lauter Miraculixen verhexten Götzenanbeter ordentliches Latein beizubringen. Vieles hat Jack Lang in Bewegung, in die Provinz gebracht. Bis hinein in, nach deutscher Gradmessung, winzige Städtchen von einigen hundert Einwohnern am südlichen Rand der Servennen flossen Gelder gar für zeitgenössische Kunst. Alle erdenklichen Ecken und Winkel auch des Südens profitierten somit von diesem allumfassenden kulturellen Interesse dieses von mir überaus geschätzten Mannes, der sich dennoch dem Norden verbunden scheint; im Département Pas-de-Calais hat er seinen Wahlkreis, dort, wo Andersprechende definitif mißverstanden werden. So muß ich vermuten, daß auch die Wiederbelebung oder überhaupt die Belebung seiner Heimat Lorraine auf seinen nach wie vor währenden Einfluß zurückzuführen ist. Denn wer käme sonst auf die Idee, ein derartiges Museumskathedrälchen, eine Filiale des Centre Pompidou kurz vor der Grenze zu Deutschland zu errichten? Ohne jeden Zweifel ist es ein Genuß, nicht nur für mich, der ich diese (eben landestypische) Oppulenz auch im Kleinen schätze, die bei mir jedenfalls diese große, ja fröhliche Architekturassoziation auslöst. Sicher, es gibt in der Stadt selbst seit langem Faux Mouvement, gegründet Anfang der achtziger Jahre von jungen Begeisterten, die keinerlei Markt, sondern Kunst bewegte und die nach und nach ihre Räume erweitern konnten, so daß es immer wieder lohnte, auch mal ohne andere Absichten anzureisen. Aber selbst deren zwar südlich gelassenenes, aber auch geradezu katalanisch anmutendes, also sehr bestimmtes Agieren dürfte kaum ausgereicht haben, Paris soviel Geld aus den Boubou-Rippen zu leiern, daß eine solche Architekturlust ausgerechnet kurz vor der zwar sympathischen, aber insgesamt doch etwas weniger aufregend ausgestatteten Stadt der Brüder und Schwestern aus dem Norden postiert würde. Nun, es dürfte ein vom Fremdenverkehr bestimmter und damit wesentlicher Aspekt hineingespielt haben in dieses schöne Stück Architekturtheater. Auch im parisischen Stammhaus fahren am liebsten oder überwiegend Touristen die Rolltreppen hinauf, um die Internationale der Kunst nachzuträllern. Franzosen, auch Pariser singen eher landestypische, theatratralische Lieder, sie haben's nicht unbedingt so mit der Westkunst, gleich gar nicht mit der zeitgenössischen im Kanon der sich zwar grenzenlos gebenden, aber letztendlich doch der okzidental verhafteten Welt; das Bißchen an Civilisation, das man benötigt, hat schließlich die ureigene Geschichte der Postrevolution geschaffen. Da mag man die Städte landauf, landab noch so (unerkannt) aufhübschen mit den paar wenigen einheimischen Künstlern weltweiten Renommées (was nichts an deren nicht-zentralistischer Bedeutung ändert). Die wahrlich gut besuchten Museen vor allem der größeren Kommunen füllen sich mit denjenigen, die dieses Land der Kultur unwissentlich auch mit bildender Kunst von heute verbinden. Sie haben keine Kenntnis darüber, daß innerfranzösische Kunstinteressen allenfalls dann in die Breite gehen, wenn es dabei etwas zu essen gibt. Ähnlich dem vielzitierten Abspann wird Troubadix zunächst einmal schweigend zur Reifung nach oben (ab)gehängt. Wenn dann irgendwo noch Buchstaben drinnen vorkommen, dann kann man sich immer noch irgendwann damit beschäftigen. ![]() Ich weiß schon, weshalb ich konvertiert bin.
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