Wohnzimmercafé mit Ballsaalambiente

Ein x-beliebiger Sonntagnachmittag in diesem Garten, von dem man den Eindruck hat, die Natur hätte mit ihm eine Synthese aus den Spitzweg-Gemälden ‹Samstag-Nachmittag›, ‹Im Walde› und ‹Zigeunerlager› geschaffen. Drei, vier Münchner räkeln sich um einen runden Tisch, dessen Platte die Runzeln und Furchen seiner Besitzerin hat, und stöhnen über die Stadthitze, der sie gerade entronnen sind. Völlig geschafft vom wer-weiß-wievielten Tennismatch gesellt sich der Bankdirektor genannte Filialleiter der Sparkasse hinzu, gibt nach dem ersten Bier einen Kurzlehrgang über das Bankwesen im Kapitalismus und flicht eine Exkursion in die Ortsgeschichte ein. Er muß es wissen, war sein Vater doch SPD-Bürgermeister in der Diaspora. Dessen Nachfolger wollte in die sanft-hügelige, für den Münchner Norden typische Landschaft ein Industriegebiet Echinger Ausmaße setzen. Jetzt hat auch der einen Nachfolger, einen, der dem kaputtgesiedelten Ort nicht noch mehr Zugereisten-Architektur zumuten will.

Die einzige, die immer, bisweilen mit schwerstem Wortgeschütz, die Stellung gehalten hat, ist Madame, nunmehr fünfundsiebzigjährige Zerbera eines Arkadia inmitten des Brodems ökonomischer Ratio. Madame, das nachnamenlose Synonym für einen offenbar völlig in Vergessenheit geratenen altbayrischen Liberalismus, ein Fossil grantelnder Menschlichkeit, ist Wirtin eines heute namenlosen Cafés. Und darin ist sie Katalysator einer Verbindung aus anarchischer, klein- und großbürgerlicher, sowohl dionysischer als auch apollinischer Lebensart, eines Denkens, das im Grünen wurzelt und manchmal dunkelrote Blüten treibt. Das einzige, was sie an den ‹Grünen› auszusetzen hat, ist deren «g'schlamperter» Habitus.

Madame hat, Anfang der 60er Jahre, als (Werner) Enke sturzbetrunken den Baum als Stütze nahm, der heute als Uralteiche immer noch würdevoll die Krone in die Blütenpracht seines Nachbarn hält, niemals geglaubt, daß das ein Hauptdarsteller sein sollte. Enke wurde einer. Mehr noch: Zur Sache, Schätzchen, teilweise in diesem prä-zeitgeistigen Garten gedreht, sollte sogar die dröge (bundes-)deutsche Nachkriegslichtbildnerei vergessen machen.

Doch irgendwie war es Madame schon immer schnurz, ob die Namen ihrer schier endlosen Gästeliste irgendwann mal die Schlagzeilen okkupieren würden oder nicht. Doch wenn sie's dann taten, buk sie die Brezen vom Vortag nochmal so gerne auf. Diejenigen allerdings, die sich ob eines etwaigen Erfolgs aufführten wie einst der kontinuierlich fröhlich saufende Drehbuchautor Werner Thal, bekamen bei ihr nicht nur Bier-, Wein- und Whisky, sondern auch Hausverbot. Bei Madame hatten (und haben) sich alle gleich anständig zu benehmen. Ob die Schönen Gila (von Weitershausen), Helga (Anders), Kai (Fischer) oder Christl, Susi und Regine, ob Roger (Fritz), Peter (Schamoni), (Monaco-)Franze oder Abele, Huber oder Thomas et cetera: vor allen steht der Erzengel mit dem flammenden Mundwerk: Madame. Nur Putzi, der halbrundgefütterte Hausbastard übersteht die ‹Moral›-Predigt — für den Fall, daß er, anstatt das zarte Hundegebinde vor ihm zu begatten, sich aus Gründen der Trägheit selber hat bumsen lassen.

Ansonsten hat sich, die Chronisten bürgen dafür, seit der mit Ende der vierziger Jahre einsetzenden Regentschaft von Madame niemals jemand (tierisch) danebenbenehmen dürfen. Und das, obwohl dieses um die Jahrhundertwende gebaute Haus bis in die siebziger Jahre (und in den Garten) hinein ständig Stätte baccchanalen/dionysischen Treibens zu sein schien. Der von Madame im Postbus zwischen München und diesem (H)Ort fröhlicher Ernsthaftigkeit (oder andersrum) betriebenen Werbung «Besuchen Sie das Café Schmidt» hätte es wirklich nie bedurft. Denn auch so war durch Mundpropaganda genügend Baldrian ausgelegt. Bei Madame, das wußte jeder Eingeweihte (bei weitem nicht nur) münchnerischer Provenienz, gab's immer was zur Beruhigung ...

Heute, rund fünfzehn Jahre nach der Hoch-Zeit dieses Wohnzimmercafés, liegt der gastliche Akzent mehr auf Ruhe. Selbst die Unverzagten kommen immer später und gehen immer früher. Auch hier herrscht heterogen-harmonischer Gleichklang: Auch Madame muß immer zeitiger zu Bett, um die Kraft zu sammeln, die sie braucht, ihre Schäfchen so weit trocken zu halten, auf daß sie nicht (polizeilich) blasen müssen. Denn sie will ja, daß sie diese Sechziger-Jahre-Faschingsdekoration, von der der Bildhauer-Huber jedes Wochenende sagt, man müsse sie endlich erneuern, in Atem gehalten wird.


Münchner Stadtzeitung (wöchentliche Beilage der Süddeutschen), anno 1986
 
Sa, 30.10.2010 |  link | (2206) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Land.Leben



 

Katholische Methoden

Vier dieser an Eisen und Stahl und Stein gewohnten Hände packten ihn, zwei an der linken, zwei an der rechten Schulter, vier weitere zogen ihm die Füße vom Boden weg, alle zusammen zwängten ihn auf den Tisch. Andere kamen hinzu, um ihn zu fixieren. Ein großes Tuch wurde ihm um den Hals und vor die Brust gelegt. Jemand bewegte eine mit gelblicher Flüssigkeit gefüllte Karaffe in die Nähe seines Gesichtes. Noch flacher drückte man ihm die Schultern auf die Tischplatte. Es spürte die Sinnlosigkeit seiner Gegenwehr. So schloß er die Augen. Laut und vernehmlich drang ein lateinischer Singsang an sein Ohr. Die ängstliche Neugier ließ ihn die Augen öffnen. Die Litanei kam von diesem auffallend gutaussehenden Schwarzgelockten, dem er ein solch hämisches Grinsen nicht zugetraut hätte; allen anderen Umherstehenden durchaus, aber nicht ihm, den er immer für fleischgewordene Sanftmut gehalten hatte. Unbeirrt setzte dessen ritualisierendes Gebrabbel sich fort. Das Gefäß mit dem unangenehm aussehenden Inhalt näherte sich seinem Gesicht, bewegte sich über seinen Kopf. Er ergab sich seinem Schicksal, schloß die Augen wieder. Ölig ergoß die Flüssigkeit sich über ihn. Sie roch extrem nach Knoblauch.

Dieselben Hände, die ihn niedergerungen und in die Horizontale gezwungen hatten, stellten ihn wieder auf, wischten ihm die Rückstände aus dem Gesicht, nahmen ihm das Tuch ab, klopften ihm auf die Schulter. Unter laut lachendem Beifall der Zuschauer verkündete der schöne Exekutor, es sei vollbracht.

Vollbracht worden war das, was als Voraussetzung genannt worden war für die offensichtlich unbedachte Antwort auf die Frage, ob er getauft sei. An einem der letzten alkoholseligen Abende hatten der Kritiker und sein kunstdozierender Freund geäußert, wenn sie, die allesamt anderes als Künstler seien, sondern nichts als taugenichtse Zauberlehrlinge, weiterhin so massiv Front gegen die gemeinsam geäußerte Opposition machten, würde man aus Protest zur Ehe fahren. Auch oder gerade deshalb, da Kunst gesellschaftlich so obsolet sei wie Kirche.

Diesem aus dem Alkohol aufsteigenden Brodem war als Argumentation von der Runde begeistert bis grölend zugestimmt worden. Die Vereinigung von Kritik und Kunst, das war es. So könne man, meinte einer noch, von den anderen unverstanden, die beiden Möchtegernanarchen endlich vereint in ihren jüngerschen Kanal schicken, aus dem man sich vermeintlich aus der Meinung der Masse graben könne. Im Rahmen der Abschlußfeier der überaus erfolgreichen Gemeinschaftsausstellung der rund vierzig Bildhauer sollte die Hoche Zeit vollzogen werden. Das traditionsreiche, altehrwürdige Gemäuer böte zudem dafür den idealen Rahmen.

Die Exekution unter ritueller Lateinei und Knoblauchöl, erklärte man ihm, sei die für eine gutbürgerliche Ehe erforderliche Taufe gewesen; beim Partner sei das bereits im Vorstadium der Kindheit vonstatten gegangen, wenn auch weniger gewürzt und nicht so dickflüssig. Er nahm es samt der Huldigung an seine Vorliebe für mediterrane Würze lächelnd zur Kenntnis, sich hin und wieder Ritualreste des studentischen Ulks aus Ohren und Augen wischend. Solange es sonst nichts sei, grummelte er, sich in die hochzeitliche und sonstige Feierei bis in die frühen Morgenstunden hineinbegebend ...

Der Tag zeigte sein Gesicht. Das des Exekutors rückte nahe an das seine, darin wieder dieses feixende Grinsen. Er wisse doch, so sein wohlgestaltetes, feingeschnittenes Gegenüber, daß er parallel zum Studium der Kunst auch das der katholischen Theologie absolviert habe? Bestätigendes Nicken. Aber ob er auch wisse, daß ein Magister dieses Studienganges einen priesterähnlichen Status innehabe? Verneinendes Kopfschütteln, begleitet von ahnungsvoll aufkommender Atheistenpanik.

Ja, die am frühen Abend vorgenommene, für die Ehe erforderliche (Not-)Taufe sei gültig ...

Sie würde Folgen haben, diese Geschichte. Aber das ist nochmal eine andere Geschichte. Erzählt ist sie innerhalb dieser Geschichte.


18.06.08 | 277

 
Mi, 27.10.2010 |  link | (3015) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unglaubliches



 

Pisa und Bologna, Rom und Mekka

In meinen jüngeren Autorenjahren, da meinte mir gegenüber ein erfahrener Redakteur als höfliche Reaktion auf meinen leicht bürokratisch verklausuliert geratenen Bericht für die Hörermassen des Rundfunks, ich solle es doch besser vielleicht mal als Lehrling bei der Presseabteilung mit dem Ziel eines -sprechers des Bauernverbands versuchen. Das versetzte mir einen derartigen Hieb in die Mördergrube, daß mein Herz davonlaufen wollte. Ich hielt es fest und nahm mir vor, über meinen Leisten zu springen. Ich landete in einer Flickschusterei, die man heute vielleicht als Life-Style- oder auch Arsch-und-Tittenblatt bezeichnen würde. Dort lernte ich Texte schmieden, solange, bis sie heiß wurden. Dann ging ich wieder zurück zum Radio und wurde Redakteur und Autor. Dort schreibt man aber völlig andere, eben ins Ohr gehende und keine verschrobenen Texte, die man zweimal lesen muß; die Welt ist schließlich so zeitlos geworden. Daraufhin bin ich zurück in die Branche, derentwegen man heute auch schonmal angeklagt wird, man sei mit Verursacher der Grünen; davon, daß Bäume vermehrt in Kuscheligkeit produzierenden Öfen landen oder anderen, tiefergelegten Baumaßnahmen weichen müssen, wird in solchen Fäällen eher weniger gesprochen. Unverdrossen machte ich also weiter, gab in der beruflichen Zeit den Überwacher von Büchern und machte in der freien Zeitung. Für alle Zeit geblieben ist mir, nie Pressetexter für den Bauernverband oder Quotenjäger werden zu wollen.*

«Manche», schrieb Roland Barthes in seinem Le Plaisir du Texte, «wollen einen Text (eine Kunst, eine Malerei) ohne Schatten, der getrennt ist von der «herrschenden Ideologie»; aber das wäre ein Text ohne Fruchtbarkeit, ohne Produktivität, ein steriler Text (siehe den Mythos von der Frau ohne Schatten). Der Text braucht einen Schatten: dieser Schatten, das ist ein bißchen Ideologie, ein bißchen Darstellung, ein bißchen Subjekt: notwendige Geister, Luftblasen, Streifen, Wolken: die Subversion muß ihr eigenes Halbdunkel hervorbringen.»

Multikulti ist tot, heißt es. Ich bin gegenteiliger Meinung, war immer, auch aus eigener Erfahrung, ein Befürworter der Bastardisierung der Menschheit, da sie frisches Blut in sklerotische Domaines bringt. Wir, die einen früher, die anderen später, sind weltweit seit Jahrhunderten ein einziges Konglomerat, nur die gesellschaftlich Zurückgebliebenen oder an den Rand Gedrängten leiden unter den Defiziten, die ihm die (mittlerweile) vermeintlich Gebildeten oktroyiert haben. Wer gelernt hat, so zu lesen und zu schreiben und zu hören, daß ihm auch Zwischentöne nicht nur nicht entgehen, sondern auch als der Gesang der Sirenen in seinem Gehör ankommen, der wird wissen, daß sogenannter Klartext ihm häufig als ein monokulturelles, beruhigendes Kardinalsmäntelchen über den Kopf gelegt werden, das ihn bereit machen soll, so zu funktionieren, wie andere das wünschen. Gegen alle diese (Rechtschreibhör-)Schwächen hilft nur eines: über die Türme von Pisa und Bologna, Rom und Mekka hinaus zu schauen, von denen zu lernen, die das Denken, nicht das Glauben erfunden haben. Das waren nicht unbedingt diejenigen, die den geleerten Knast von Paris gestürmt haben, gedacht hatten bereits zuvor ein paar andere. Gut, das hatte Folgen, nicht nur für Europa. Aber wir können gut und gerne noch einige Jahrhunderte oder auch Jahrtausende in der Geschichte zurückgehen. Dann landen wir am Ende bei denen, die das Rad und noch ein paar andere nützliche Dinge mehr erfunden haben, auf die wir uns heute stützen, wenn von Wirtschaftswachstum die Rede ist. Dessen Erfinder und Erdenker aber, die wollen wir allesamt nicht haben bei uns, denn das sind allesamt Wirtschaftsflüchtlinge, die obendrein unser Blut durcheinanderbringen, unser edles, reines, rassiges.

* Ich bin Ihnen beiden sehr verbunden, daß dieses Streben nach vierzig Jahren angekommen ist, wahrgenommen wurde. Mein Dank sagt Ihnen: Lieber klein und wenig als reine Masse und nach draußen drängende Übersättigung.
 
Sa, 23.10.2010 |  link | (2198) | 14 K | Ihr Kommentar | abgelegt: lingua franca



 







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