Genuß- und andere Fähigkeiten im Neuen

So manch schönes Vorurteil stößt seine erste Silbe ab, wenn die Erfahrung einmal über es gekommen ist. Oder so: Hin und wieder erweist es sich als Lebenshilfe, grundsätzlich mißtrauisch zu sein. Noch anders: Zunächst wollte ich mich dazu gar nicht äußern, obwohl es mich schon sehr hat den Kopf schütteln lassen, zumal es nach kaum zur Kenntnis genommenen Andeutungen anderswo nun nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern gar kommentiert wurde. Es hat den Anschein, als ob es der Andeutung der intellektuellen Großmeisterei bedurfte, hinter der sich bekanntlich immer ein großer kluger Kopf verbirgt. Die Mauselöchlein öffneten sich, der Berg begann zu kreisen, und katzengleich begab sich die meinungsstarke Bloggergemeinde in den Speakers Corner der Kultur und behauptete ihr reserviertes Eckchen im Hyde Park. Denn endlich hatte es mal einer gesagt: Im Keller brennt Licht.

Einige Tage zuvor hatte ich anderswo über Neue Musik gelesen, es jedoch als altbackene Nichtigkeit abgeschüttelt: «Überflüssig. | Nicht, dass sie keine Ziele erfüllen würde. | Die Generalmusikdirektoren können damit ihre Progressivität unterstreichen, Opernhäuser ihre Weltoffenheit, Konzertgeher ihre Connaissance, Orchester ihre Unvoreingenommenheit ... und nicht zuletzt verdienen ein paar spinnerte Komponisten ihre Brötchen damit. Ist ja auch nichts Neues. | Nur eines tut niemand mit der Musik: niemand würde sie sich freiwillig am Samstag nachmittag in die Stereoanlage legen und sich ein paar Stunden davon berieseln lassen.»

Ich tue so etwas, dachte ich so für mich hin. Aber ich bin ja auch ein Niemand. Und ein Jemand ist man erst dann, wenn man hört, was alle hören, oder das sagt, was alle sagen. Oder so ähnlich. So empfand ich des weiteren, nachdem ich ein paar Tage später gelesen hatte, was ich eigentlich ebenso unkommentiert in seinem Sein belassen wollte. Aber irgendwie war ich dann doch zu überwältigt von solch aussagekräftiger Meinung:

«Bravo. Ich sag's und schreib's seit Jahrzehnten in meiner kleinen Musikerwelt. Drum: Danke. | Free-Jazz & ‹Free Music› sind so ähnliche Krankheiten, die Sie sich mal vorknöpfen könnten.»

Er selber, seines Zeichens Musikverleger, tut's nicht. Er bittet jemanden darum, von dem er weiß, daß ihm Neue Musik und so'n Kram halt zuwider ist. Zur allgemeinen Erheiterung schiebt er noch ein Witzchen für die Nicht-Elite nach: «Hat hier wie nebenan noch keiner angemerkt ‹Geschmäcker sind verschieden›? Schade, denn dann kann ich nicht den schönen Satz anbringen: Das sagen immer die, die keinen haben.» Das hat die Würze von Currywurst mit Champagner. Aber bitte, warum nicht. Wer's mag, hat mir der Altbayer beigebracht, für den ist's das Höchste. Womit zumindest eine Gruppenzugehörigkeit nachgewiesen wäre. (Soeben stelle ich fest, daß er sich auch in seinem Eigenheim zu dem Thema geäußert hat.)

Es gab auch leichte Moderationsversuche. Von außen. Einer davon war dann gar präzise:

«Die Grenze wird dort überschritten, wo behauptet wird, diese ganze Musik sei sowieso nur ein einziger Bluff. Eigentlich würden auch die, die sich so etwas gerne anhören, das insgeheim scheußlich finden und sich das nur des Distinktionsgewinns wegen antun. Das ist dann ungefähr so, wie wenn ein Dreikäsehoch behauptet, die Erwachsenen würden nur deshalb so Sachen wie Zwiebeln oder Roquefort essen, weil sie sich von den Kindern abgrenzen müßten, in Wirklichkeit würde sie insgeheim nach Nudeln mit Ketchup lechzen.»

Das hat mir, der ich zugestandenermaßen den immerzu wähnenden Zusammenhängen verfallen bin, besonders gut gefallen. Sicherlich hat es damit zu tun, daß in meiner engeren Umgebung Kinder nicht nur Hummer streicheln, sondern sie auch essen, wie überhaupt alles — ausgenommen diesen mit Affenzahn in ihnen verschwindenden und gleich wieder hungrig machenden US-Weichfraß. «Genußfähigkeit», faßt der oben Zitierte das Wesentliche zusammen, «egal welcher Art ist das Resultat von Arbeit. Es erfordert Auseinandersetzung mit der Materie, ob es nun um's Essen, Kunst oder Musik geht.» Er muß sich dann allerdings noch erklären: «Arbeit ist für mich nicht Mühe und Plage, die Strafe für die Ursünde, sondern sie ist einfach Auseinandersetzung mit einem fremden Gegenstand, der mir, weil fremd, einen gewissen Widerstand entgegensetzt. Zwar ist die Überwindung dieses Widerstandes oft etwas mühselig, andererseits aber auch äußerst befriedigend, denn es verändert sich dadurch nicht nur der Gegenstand, sondern auch ich mich selbst.» Aber ein weiterer, das ist das angenehme an dieser Debatte, springt ihm schließlich bei, indem er dem nächsten anderen, der gerne und durchaus nicht haltlos über Genüsse schreibt, verdeutlicht: «Wenn man nicht gelernt hat, Aromen zu unterscheiden, gibt es keine Genußfähigkeit bei guten Weinen und schottischen Single Malts.» (Alle hier.)

Diese Debatte ist so alt wie die im allgemeinen, auch von mir, geschätzte oder einfach nur gehörgängige alte Musik. Daß auch die einmal eine neue war, wird bei solchen verbalen Wasserglasstürmchen oft vergessen, gerne auch schon mal der Wahrheitsfindung geopfert. Als Mut zur Lücke wurde das im altschuligen Journalismus mal gelehrt, schließlich war nicht ewig Platz in der Zeitung oder im Programm. Im internetten Zeitalter der Grenzenlosigkeit scheint dieses einstmalige Hilfsmittel zur Textverknappung allerdings zur Devise der Niveauabsenkung mutiert zu sein. Ein Bild sagt mehr als tausend Wörter. Zurück zu den Zeiten der Bibel für Arme, als Worte noch bildlich dargestellt werden mußten.

Die mich anfänglich versorgenden Brustduftdrüsen haben mir zwar immer allerbeste Qualität, aber ausschließlich alte eingeflößt, teilweise bis zum Erbrechen. Als es später nachließ, das manchmal Kotzen genannte abwehrende Ausscheiden, gelang es mir, mich wieder diesem Genuß hinzugeben, der mir nunmal zunächst in die Gene, dann in den Magen und somit ins Blut und schließlich auch noch in die Sozialisation hineingefahren war. Aber ich hatte eben währenddessen auch andere Küchen kennenlernen dürfen. Einen weniger strengen Vater gab es nämlich, der mir glücklicherweise quasi klammheimlich und einfühlsam, also ohne die mütterlich-pädagogischen, recht einbahnigen Direktionen, von den Vorteilen auch der durcheinandrigen Vielfalt erzählt hatte; teilweise hatte er sie sogar am Kind selbst praktiziert. Dieses feine Wissen erleichterte es mir dann in freier Wildbahn ungemein, mich in fremden Küchen nicht nur nicht wie in der Fremde zu fühlen, sondern mich auch schon mal mittendrin ungezwungen der Völlerei hingeben zu dürfen. Wohl fühle ich mich dabei primär an den blankgeputzten Holztischen jener Ärmerenspeisung, bei der es keines zelebrierenden Sternleins bedarf, um Gutes zum leuchten zu bringen, also auch ohne jene sichtverstellenden, quasireligiöse Gemütlichkeit produzierenden Kandelaber, da ich gerne sehe, was an Köstlichkeiten in mich hineinsoll. Eine Kantine habe ich irgendwann auch gefunden. Jeden Tag köchelt da jemand anderer. Momentan rührt da gerade Judith Chaine Bartok, Khatchaturian und Stravinsky zusammen, im Théâtre du Châtelet.

Gut? Was ist eigentlich gut? Aus dem erwähnten Gerangle hat sich einer absentiert, der zu dem relativierenden Fazit kam: «[...] es ist ein Streit über Haltung und Geist, über Sozialisation, Normen und Denkmuster.» Ich höre zum Beispiel unter anderem sehr gerne Sibelius; der war irgendwie mit hineingeraten in den Kleinstkindcocktail. Heutzutage darf man den wieder hören wie man wieder Nietzsche lesen darf. Aber früher geriet man mit solch seltsamen Gelüsten rasch in eine No-Go-Area. Wegen meiner Sympathie gegenüber diesen Tondichtungen bin ich des öfteren belächelt worden. Nicht zuletzt von einem, der mich einmal eine ganze Nacht lang bei Schubert-Liedern davon zu überzeugen versuchte, daß italienische Rotweine besser seien als französische. Näher kamen wir uns bei einem Barolo, der fast so alt gewesen sein dürfte wie der Komponist dieser kunstvollen Lieder. Was er nicht wußte: Dieser Wein gehört zu denen, die ich geschmacklich durchaus zu den bevorzugten zähle. Vielleicht liegt es ja daran, daß im Piemont auch langue d'oc und auch Französisch gesprochen wird. Lachend in die ermatteten Arme gefallen sind wir uns dann mit Miles Davis' von Puritanern einst so gescholtenem (und über die Tube leider nicht mehr erreichbaren) Bitches Brew, diesem stellenweise tatsächlich fast noch ein wenig rock'n'rollenden späten Bebop, der mich auch heute noch direkt durchpulst und mir reinfährt wie früher diese vielen SevenAndSeven, die mich in dunklen Spelunken trunken — ach, in solchen coolen jazzigen Amikellern eben, die's überall gab, sogar in den USA.

Neue Musik. Etwa zwanzig Jahre habe ich gebraucht, bis ich annähernd begreifen durfte, was das meinen könnte. Sicher, ein bißchen John Cage und Philip Glass ging durchaus zuvor schon. Aber so richtig in mich hinein wollte sie einfach nicht. Bis ich mich eines Tages auf die Gespräche mit einem Komponisten dieser Musikrichtung einließ. Sachlich und fundiert erläuterte der mir dann seine Leidenschaft. Und eines Tages befand ich mich in einem Konzertsaal wieder, in dem Musik von ihm und anderen aufgeführt wurde. Am Ende des Konzerts fühlte ich mich sogar teilweise beglückt. Da war es mir ähnlich ergangen, als mich einige Zeit zuvor ein sogenanntes Erdferkel zur (s)einer Performance verführt hatte. Damals kam es zwar zu meinem bis heute anhaltenden Gehörschaden, aber ich hatte begriffen, was Punk ausmacht. Ich möchte dieses Erlebnis nicht aus meiner Erinnerung tilgen müssen.

Möglicherweise tat ich mich leichter als andere, da ich mich bereits in jüngeren Jahren mit dem Free-Jazz einer Musikrichtung zugewandt hatte, die auch schonmal als Krankheit bezeichnet wird. Sicher doch, Menschen, die breitbeining ganzarmig Klavier spielen, mögen taktlos sein. Aber meiner Gesundheit tat es zu diesem Zeitpunkt keinen Abbruch. Im Gegenteil, nicht nur über das Piano forte drang via Alexander von Schlippenbach einiges an Erkenntnis in mein Ohr und den anhängenden Kopf. Mit der Folge, auch die Töne des völlig desolaten Jazz Composer's Orchestra/ besser auseinanderhalten zu können.

Nicht täglich muß ich das haben. Aber ich hüpfe ja auch nicht jeden Tag mit dem Fahrrad über die Berge. Allzeit soviel Gesundheit würde mich krank machen. Auch lese ich nicht täglich Apollinaire, Baudelaire oder Lautréamont, obwohl ich die nun wirklich gerne mag. Lieblicher Eintopf aus der Auvergne schmeckt mir ebenfalls; es gibt erwiesenermaßen auch US-Amerikaner(innen), die köstlich sind. Den deftigen aus der Provence mochte die einwandernde florentinische Caterine de Medici überhaupt nicht. Weshalb Frankreich auch zu seiner heute so vielgerühmten Cuisine kam. Und ich vermag mich mittlerweile bei den Alten Meistern nicht nur Afrikas von den Neuerungen durch Pablo Ruiz und dessen Nachkreativen frohgestimmt lächelnd erholen.

Sogar der Kreischsäge meiner Kindheit höre ich mittlerweile (altersmilde?) wieder zu. Auch Bach lasse ich schonmal in mein Gehör hinein, obwohl es bei dem eigentlich ziemlich fremdelt. Ach, genaugenommen höre ich alles, bis auf Musical, Popularia, KlassikRadio, NDR-Kultur, was diese ganzen Antennensender für kommende bildungswillige Stände eben an Pralinchen so aufführen im schimmernden Schein der romantischen Schlaglichter. Aber ich bin es ja auch, der niemand ist und krank im Kopf.

«Da: wie er die roten Noten im vierten Takt ausspielt; die darin enthaltene Bewegung in den letzen beiden Roten auspendeln läßt und sicher austariert bis zur Oktave in der Linken, dafür könnte ich vor ihm auf die Füße fallen. Absatz bis zur ersten großen Steigerung.

— HÖLLISCH!»
 
Do, 04.11.2010 |  link | (4262) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ohrensausen



 

Auf Wasser wandelnd ...

Das Gespenst, 1982 (DIF)


Das sieht nicht nur so aus, es entspricht der Tatsache: Dieser Mann konnte sogar auf dem Wasser stehen. Der ist so leicht, der setzte einst Naturgesetze außer Kraft. Zwei Jahre, bevor sein Gespenst in Bayern für Windstärken sorgte, daß man meinen konnte, der Starnberger See befände sich kochend kurz vor Helgoland, da heizte er mir mit einem Buch die Seele. Ich habe im Anschluß alles von ihm gelesen, alle seine großartigen kleinen Filme und viele seiner Bilder gesehen; von letzteren sind, das ist mehr als bedauerlich, fast überhaupt keine im weltweiten Netz hängengeblieben. Meines Erachtens ist er der einzige überhaupt existierende wirkliche Bayer. Er ist derart er selbst, daß manch einer ihn heute eine Kunstfigur nennen würde. Aber das käme einer Herabwürdigung gleich. Oder es wäre eine Selbsterhöhung derer, die sich so bezeichnen.

Herbert Achternbusch ist der einzige Mensch, der mir glaubhaft vermitteln konnte: Es ist ein leichtes beim Gehen den Boden zu berühren.

Im Vorwort bittet er den Leser, «das Buch zu zerlegen und nach eigenem Gutdünken zusammenzustellen». Und wirklich: Es ist ein Kompendium, ein Führer durch die Gedankengänge des um die Ecke schreibenden und filmenden Bayern von den Ufern des Starnberger Sees.

Wie in seinen Filmen und Gemälden herrscht auch in diesem Buch eine Art geordnetes Chaos vor. Drehbücher und Theaterstücke werden zusammengehalten von einer Prosa, die in etwa von dem bestimmt ist, was er in seinem Film Der Atlantikschwimmer (wahrscheinlich war's doch eher in Servus Bayern?) so formulierte: «Dieses Land hat mich kaputtgemacht. Jetzt bleibe ich so lange hier, bis man es ihm ansieht.»

Ich bin geflohen. Er ist geblieben. Aber das eine oder andere Erinnerungsstück ist heimlich mit auf Reisen gegangen. Nachdem ich die letzten Tage so seltsam fiebrige Träume mit bayerischem Hintergrundgeräuschen hatte, schob es mich in der nicht minder seltsamen Phase der Rekonvaleszenz auf den Dachboden, und da kam er mir gespenstisch aus einem Bücherkarton entgegen. Und tatsächlich: der Geist ist der alte; auch ließe sich sagen: der lebt nicht nur, sondern er ist richtig lebendig. Mir scheint, ich hätte es gelesen wie damals. Sollte es jemanden aus einer Antiquariatsecke her anblinzeln, lächeln Sie nicht nur zurück, das mag der Grantler nicht so sehr, steigen Sie ein: Es ist ein leichtes beim Gehen den Boden zu berühren.
 
Di, 02.11.2010 |  link | (5480) | 15 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 

Wohnzimmercafé mit Ballsaalambiente

Ein x-beliebiger Sonntagnachmittag in diesem Garten, von dem man den Eindruck hat, die Natur hätte mit ihm eine Synthese aus den Spitzweg-Gemälden ‹Samstag-Nachmittag›, ‹Im Walde› und ‹Zigeunerlager› geschaffen. Drei, vier Münchner räkeln sich um einen runden Tisch, dessen Platte die Runzeln und Furchen seiner Besitzerin hat, und stöhnen über die Stadthitze, der sie gerade entronnen sind. Völlig geschafft vom wer-weiß-wievielten Tennismatch gesellt sich der Bankdirektor genannte Filialleiter der Sparkasse hinzu, gibt nach dem ersten Bier einen Kurzlehrgang über das Bankwesen im Kapitalismus und flicht eine Exkursion in die Ortsgeschichte ein. Er muß es wissen, war sein Vater doch SPD-Bürgermeister in der Diaspora. Dessen Nachfolger wollte in die sanft-hügelige, für den Münchner Norden typische Landschaft ein Industriegebiet Echinger Ausmaße setzen. Jetzt hat auch der einen Nachfolger, einen, der dem kaputtgesiedelten Ort nicht noch mehr Zugereisten-Architektur zumuten will.

Die einzige, die immer, bisweilen mit schwerstem Wortgeschütz, die Stellung gehalten hat, ist Madame, nunmehr fünfundsiebzigjährige Zerbera eines Arkadia inmitten des Brodems ökonomischer Ratio. Madame, das nachnamenlose Synonym für einen offenbar völlig in Vergessenheit geratenen altbayrischen Liberalismus, ein Fossil grantelnder Menschlichkeit, ist Wirtin eines heute namenlosen Cafés. Und darin ist sie Katalysator einer Verbindung aus anarchischer, klein- und großbürgerlicher, sowohl dionysischer als auch apollinischer Lebensart, eines Denkens, das im Grünen wurzelt und manchmal dunkelrote Blüten treibt. Das einzige, was sie an den ‹Grünen› auszusetzen hat, ist deren «g'schlamperter» Habitus.

Madame hat, Anfang der 60er Jahre, als (Werner) Enke sturzbetrunken den Baum als Stütze nahm, der heute als Uralteiche immer noch würdevoll die Krone in die Blütenpracht seines Nachbarn hält, niemals geglaubt, daß das ein Hauptdarsteller sein sollte. Enke wurde einer. Mehr noch: Zur Sache, Schätzchen, teilweise in diesem prä-zeitgeistigen Garten gedreht, sollte sogar die dröge (bundes-)deutsche Nachkriegslichtbildnerei vergessen machen.

Doch irgendwie war es Madame schon immer schnurz, ob die Namen ihrer schier endlosen Gästeliste irgendwann mal die Schlagzeilen okkupieren würden oder nicht. Doch wenn sie's dann taten, buk sie die Brezen vom Vortag nochmal so gerne auf. Diejenigen allerdings, die sich ob eines etwaigen Erfolgs aufführten wie einst der kontinuierlich fröhlich saufende Drehbuchautor Werner Thal, bekamen bei ihr nicht nur Bier-, Wein- und Whisky, sondern auch Hausverbot. Bei Madame hatten (und haben) sich alle gleich anständig zu benehmen. Ob die Schönen Gila (von Weitershausen), Helga (Anders), Kai (Fischer) oder Christl, Susi und Regine, ob Roger (Fritz), Peter (Schamoni), (Monaco-)Franze oder Abele, Huber oder Thomas et cetera: vor allen steht der Erzengel mit dem flammenden Mundwerk: Madame. Nur Putzi, der halbrundgefütterte Hausbastard übersteht die ‹Moral›-Predigt — für den Fall, daß er, anstatt das zarte Hundegebinde vor ihm zu begatten, sich aus Gründen der Trägheit selber hat bumsen lassen.

Ansonsten hat sich, die Chronisten bürgen dafür, seit der mit Ende der vierziger Jahre einsetzenden Regentschaft von Madame niemals jemand (tierisch) danebenbenehmen dürfen. Und das, obwohl dieses um die Jahrhundertwende gebaute Haus bis in die siebziger Jahre (und in den Garten) hinein ständig Stätte baccchanalen/dionysischen Treibens zu sein schien. Der von Madame im Postbus zwischen München und diesem (H)Ort fröhlicher Ernsthaftigkeit (oder andersrum) betriebenen Werbung «Besuchen Sie das Café Schmidt» hätte es wirklich nie bedurft. Denn auch so war durch Mundpropaganda genügend Baldrian ausgelegt. Bei Madame, das wußte jeder Eingeweihte (bei weitem nicht nur) münchnerischer Provenienz, gab's immer was zur Beruhigung ...

Heute, rund fünfzehn Jahre nach der Hoch-Zeit dieses Wohnzimmercafés, liegt der gastliche Akzent mehr auf Ruhe. Selbst die Unverzagten kommen immer später und gehen immer früher. Auch hier herrscht heterogen-harmonischer Gleichklang: Auch Madame muß immer zeitiger zu Bett, um die Kraft zu sammeln, die sie braucht, ihre Schäfchen so weit trocken zu halten, auf daß sie nicht (polizeilich) blasen müssen. Denn sie will ja, daß sie diese Sechziger-Jahre-Faschingsdekoration, von der der Bildhauer-Huber jedes Wochenende sagt, man müsse sie endlich erneuern, in Atem gehalten wird.


Münchner Stadtzeitung (wöchentliche Beilage der Süddeutschen), anno 1986
 
Sa, 30.10.2010 |  link | (2427) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Land.Leben



 







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