Über das Denken beim SchnellSprech

Vom französischen Radio und Fernsehen her bin ich das ja seit je gewohnt, zumindest im Nachrichtensektor. Da lugt eben, wie in anderen Bereichen teilweise auch, etwa der Ärmerenspeisung und manch anderer Gesetzgebung, das nicht wegzuätzende Gras der Revolution aus jeder erdenklichen Ritze hervor. Man muß das alles noch loswerden, bevor das Mundwerk, an dem der Kopf dranhängt, unters Messer gerät. Aber im bedächtigen Land der Dichter und Denker? In dem die Kulturgeschichte mich gelehrt hat, daß alles wohlbedacht angegangen sein will. Aber mittlerweile wetzen sogar deutschredende Gernsehköche ihr Mundwerk derart stakkatohaft, als ob auch sie die Schärfe ihrer Gedanken gegen die Guillotine zurechtschneiden müßten. Als Beispiel bietet sich dieser, mir durchaus nicht unsympathische, mittlerweile nicht nur in die Fernsehjahre gekommene Jungkoch aus Hamburg an. Er kam mir unter, als es eine Woche lang um das Essen ging, das immer mehr Menschen nur noch aus eben nicht zum Garen gedachten Röhren kennen. Da redete er fortwährend in einer Geschwindigkeit, als führe gerade der Zug ohne ihn ab, in dessen Gepäckwagen er gerade sein gesamtes Wissen verfrachtet hatte, das er auf einem internationalen Kongreß für friedliche Küchenrevolutionen einzurühren gedachte.

Oder ist das Schnellsprechen schlicht ein Nachweis für die mittlerweile gar in Betagtere fahrende jugendliche Dynamik, die übers in Eile geratene Land gekommen ist? Immer öfter frage ich beim Zuhören: Weshalb reden die so schnell? Wovor rennen die weg? Haben die Angst, man würde am Ende gar verstehen, was sie von sich geben, und sei es auch nur die Hälfte?

In den Siebzigern, zu Beginn meiner Tätigkeit beim Rundfunk saß ich dem Irrtum auf, ich könnte durch schnelleres Reden mehr hineinpacken von dem, von dem ich meinte, es hineinpacken zu müssen. Also schrieb ich immer ein paar Zeilen pro Manuskriptseite mehr und versuchte, durch schnelleres Reden im vorgegebenen zeitlichen Rahmen zu bleiben. Lächelnd wies mich der erfahrene Redakteur beim zweiten oder dritten Versuch, die Zeit niederzureden, darauf hin, es sei unnötig, ich könne rattern wie ein Maschinengewehr, ich würde allenfalls die Hörer damit abschießen. Dreißig Zeilen à sechzig, also insgesamt eintausendachthundert (inclusive Leer-)Zeichen ergeben exakt zwei Minuten, plus minus fünf, allenfalls zehn Sekunden, wobei letztere verlangsamt Luft zum Atmen und Lust zum Hören bringen, in beschleunigtem Tempo bereits Unverstehen und damit Unverständnis ergeben. Jede Zeile mehr bringt somit Verwirrung, im ärgsten Fall schaltet der Adressat ab, im Kopf oder das Gerät. Also lieber streichen. Jedenfalls, wenn's über den Äther soll.

Der Vortrag als solcher, ob vorm Mikrophon oder in den Saal hinein, ist etwas künstliches, er will gebaut, rhythmisiert sein, Tempiwechsel weisen den (Zu-)Hörer auf bestimmte Aspekte hin, die zusätzliche Verlangsamung bestimmter Passagen will die Aufmerksamkeit erhöhen, die (gleichwohl erforderliche) Redundanz verträgt etwas mehr Rasanz. Aber in der Plauderei unterläßt man diese dramaturgische Selbstkontrolle, ob da nun ein Tonbandgerät (oder Sauger von Nullen plus Einsen) mitläuft oder nicht. Reden und sprechen sind ohnehin zweierlei. Die Menschen im Off des Radio- oder Fernsehstudios sind, anders als ihre Bezeichnung, keineswegs Sprecher, sondern Reder.

Zwar bin ich seit langem nicht mehr aktiv; bereits Mitte der Achtziger habe ich dem attraktiveren Druck nachgegeben, meine Eitelkeit in Holtz gespiegelt zu sehen, und funke seither nur noch sporadisch hinein. Aber ich habe das Äther-Wissen mitgenommen in den anderen Alltag, es dann auch privat umgesetzt. Seit langem spreche ich als der, der ich bin, wie ich auch denke und schreibe: langsam. Und am liebsten sage ich auch nur dann etwas, wenn es (vermeintlich) was zu sagen gibt, ohnehin nur dann, wenn's nicht bereits gesagt ist. Auch, hier mit Kleist: «Ich sehe dich zwar große Augen machen, und mir antworten, man habe dir in frühern Jahren den Rat gegeben, von nichts zu sprechen, als nur von Dingen, die du bereits verstehst.»

Das Gequassle um des Quasselns willen war ohnehin meine Sache gar nie nicht. Als Alleinunterhalter in der nächtlichen An- und Absage mehr oder minder melancholischer Lieder oder Wörteraustauscher in einer immerfröhlichen Magazinsendung zur Erweckung anderer wäre ich eine absolute Fehlbesetzung. Zur Talg*-Show am Abend würde man mich einmal einladen und dann nicht wieder. Sie hätten Angst, ich spräche sowohl die heitere Gesprächsrunde als auch das zu unterhaltende Publikum drinnen und draußen in den Schlaf. Unsere Kinnings verdrehen so manches Mal die Augen, weil es ein Weilchen dauert, bis ich auf ihre Fragen antworte. Es dauert eben immer eine Zeit, da ich nunmal lieber vorher das Gehirn einschalte. Aber sicherlich kommt zu deren Leidwesen auch das vor (um nochmal den oldschulen Heinrich zu bemühen): «Ich mische unartikulierte Töne ein, ziehe die Verbindungswörter in die Länge, gebrauche wohl eine Apposition, wo sie nicht nötig wäre, und bediene mich anderer, die Rede ausdehnender, Kunstgriffe, zur Fabrikation meiner Idee auf der Werkstätte der Vernunft, die gehörige Zeit zu gewinnen.»**

Irgendwann muß ich wohl die kleistsche Rezeptur verinnerlicht haben: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Vielleicht sollte ich mal mit jemandem darüber sprechen, woran es liegen könnte, weshalb ich schon als Kind immer gerne lieber älter gewesen wäre. Aber ich nehme nicht an, daß ich, auch bei diesem jungen Thema, zum Schnelldenker oder gar -sprecher würde.


* «... Talg-Shows (so spricht's der Franke aus, korrekt, wie ich meine) ...», meinte Hans Pfitzinger selig, nicht nur in Blickrichtung auf seinen fränkischen Landsmann Jean Paul.

** Kleist meinte allerdings, ein gutes Gespräch sei der Schreibtischtäterschaft im Hinterstübchen vorzuziehen: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Werke in einem Band. Kleine Schriften. Carl Hanser Verlag, München 1966, S. 810 ff. (hier nachzulesen)

24.11.08

 
Sa, 06.11.2010 |  link | (4200) | 18 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Seltsamkeiten



 

Genuß- und andere Fähigkeiten im Neuen

So manch schönes Vorurteil stößt seine erste Silbe ab, wenn die Erfahrung einmal über es gekommen ist. Oder so: Hin und wieder erweist es sich als Lebenshilfe, grundsätzlich mißtrauisch zu sein. Noch anders: Zunächst wollte ich mich dazu gar nicht äußern, obwohl es mich schon sehr hat den Kopf schütteln lassen, zumal es nach kaum zur Kenntnis genommenen Andeutungen anderswo nun nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern gar kommentiert wurde. Es hat den Anschein, als ob es der Andeutung der intellektuellen Großmeisterei bedurfte, hinter der sich bekanntlich immer ein großer kluger Kopf verbirgt. Die Mauselöchlein öffneten sich, der Berg begann zu kreisen, und katzengleich begab sich die meinungsstarke Bloggergemeinde in den Speakers Corner der Kultur und behauptete ihr reserviertes Eckchen im Hyde Park. Denn endlich hatte es mal einer gesagt: Im Keller brennt Licht.

Einige Tage zuvor hatte ich anderswo über Neue Musik gelesen, es jedoch als altbackene Nichtigkeit abgeschüttelt: «Überflüssig. | Nicht, dass sie keine Ziele erfüllen würde. | Die Generalmusikdirektoren können damit ihre Progressivität unterstreichen, Opernhäuser ihre Weltoffenheit, Konzertgeher ihre Connaissance, Orchester ihre Unvoreingenommenheit ... und nicht zuletzt verdienen ein paar spinnerte Komponisten ihre Brötchen damit. Ist ja auch nichts Neues. | Nur eines tut niemand mit der Musik: niemand würde sie sich freiwillig am Samstag nachmittag in die Stereoanlage legen und sich ein paar Stunden davon berieseln lassen.»

Ich tue so etwas, dachte ich so für mich hin. Aber ich bin ja auch ein Niemand. Und ein Jemand ist man erst dann, wenn man hört, was alle hören, oder das sagt, was alle sagen. Oder so ähnlich. So empfand ich des weiteren, nachdem ich ein paar Tage später gelesen hatte, was ich eigentlich ebenso unkommentiert in seinem Sein belassen wollte. Aber irgendwie war ich dann doch zu überwältigt von solch aussagekräftiger Meinung:

«Bravo. Ich sag's und schreib's seit Jahrzehnten in meiner kleinen Musikerwelt. Drum: Danke. | Free-Jazz & ‹Free Music› sind so ähnliche Krankheiten, die Sie sich mal vorknöpfen könnten.»

Er selber, seines Zeichens Musikverleger, tut's nicht. Er bittet jemanden darum, von dem er weiß, daß ihm Neue Musik und so'n Kram halt zuwider ist. Zur allgemeinen Erheiterung schiebt er noch ein Witzchen für die Nicht-Elite nach: «Hat hier wie nebenan noch keiner angemerkt ‹Geschmäcker sind verschieden›? Schade, denn dann kann ich nicht den schönen Satz anbringen: Das sagen immer die, die keinen haben.» Das hat die Würze von Currywurst mit Champagner. Aber bitte, warum nicht. Wer's mag, hat mir der Altbayer beigebracht, für den ist's das Höchste. Womit zumindest eine Gruppenzugehörigkeit nachgewiesen wäre. (Soeben stelle ich fest, daß er sich auch in seinem Eigenheim zu dem Thema geäußert hat.)

Es gab auch leichte Moderationsversuche. Von außen. Einer davon war dann gar präzise:

«Die Grenze wird dort überschritten, wo behauptet wird, diese ganze Musik sei sowieso nur ein einziger Bluff. Eigentlich würden auch die, die sich so etwas gerne anhören, das insgeheim scheußlich finden und sich das nur des Distinktionsgewinns wegen antun. Das ist dann ungefähr so, wie wenn ein Dreikäsehoch behauptet, die Erwachsenen würden nur deshalb so Sachen wie Zwiebeln oder Roquefort essen, weil sie sich von den Kindern abgrenzen müßten, in Wirklichkeit würde sie insgeheim nach Nudeln mit Ketchup lechzen.»

Das hat mir, der ich zugestandenermaßen den immerzu wähnenden Zusammenhängen verfallen bin, besonders gut gefallen. Sicherlich hat es damit zu tun, daß in meiner engeren Umgebung Kinder nicht nur Hummer streicheln, sondern sie auch essen, wie überhaupt alles — ausgenommen diesen mit Affenzahn in ihnen verschwindenden und gleich wieder hungrig machenden US-Weichfraß. «Genußfähigkeit», faßt der oben Zitierte das Wesentliche zusammen, «egal welcher Art ist das Resultat von Arbeit. Es erfordert Auseinandersetzung mit der Materie, ob es nun um's Essen, Kunst oder Musik geht.» Er muß sich dann allerdings noch erklären: «Arbeit ist für mich nicht Mühe und Plage, die Strafe für die Ursünde, sondern sie ist einfach Auseinandersetzung mit einem fremden Gegenstand, der mir, weil fremd, einen gewissen Widerstand entgegensetzt. Zwar ist die Überwindung dieses Widerstandes oft etwas mühselig, andererseits aber auch äußerst befriedigend, denn es verändert sich dadurch nicht nur der Gegenstand, sondern auch ich mich selbst.» Aber ein weiterer, das ist das angenehme an dieser Debatte, springt ihm schließlich bei, indem er dem nächsten anderen, der gerne und durchaus nicht haltlos über Genüsse schreibt, verdeutlicht: «Wenn man nicht gelernt hat, Aromen zu unterscheiden, gibt es keine Genußfähigkeit bei guten Weinen und schottischen Single Malts.» (Alle hier.)

Diese Debatte ist so alt wie die im allgemeinen, auch von mir, geschätzte oder einfach nur gehörgängige alte Musik. Daß auch die einmal eine neue war, wird bei solchen verbalen Wasserglasstürmchen oft vergessen, gerne auch schon mal der Wahrheitsfindung geopfert. Als Mut zur Lücke wurde das im altschuligen Journalismus mal gelehrt, schließlich war nicht ewig Platz in der Zeitung oder im Programm. Im internetten Zeitalter der Grenzenlosigkeit scheint dieses einstmalige Hilfsmittel zur Textverknappung allerdings zur Devise der Niveauabsenkung mutiert zu sein. Ein Bild sagt mehr als tausend Wörter. Zurück zu den Zeiten der Bibel für Arme, als Worte noch bildlich dargestellt werden mußten.

Die mich anfänglich versorgenden Brustduftdrüsen haben mir zwar immer allerbeste Qualität, aber ausschließlich alte eingeflößt, teilweise bis zum Erbrechen. Als es später nachließ, das manchmal Kotzen genannte abwehrende Ausscheiden, gelang es mir, mich wieder diesem Genuß hinzugeben, der mir nunmal zunächst in die Gene, dann in den Magen und somit ins Blut und schließlich auch noch in die Sozialisation hineingefahren war. Aber ich hatte eben währenddessen auch andere Küchen kennenlernen dürfen. Einen weniger strengen Vater gab es nämlich, der mir glücklicherweise quasi klammheimlich und einfühlsam, also ohne die mütterlich-pädagogischen, recht einbahnigen Direktionen, von den Vorteilen auch der durcheinandrigen Vielfalt erzählt hatte; teilweise hatte er sie sogar am Kind selbst praktiziert. Dieses feine Wissen erleichterte es mir dann in freier Wildbahn ungemein, mich in fremden Küchen nicht nur nicht wie in der Fremde zu fühlen, sondern mich auch schon mal mittendrin ungezwungen der Völlerei hingeben zu dürfen. Wohl fühle ich mich dabei primär an den blankgeputzten Holztischen jener Ärmerenspeisung, bei der es keines zelebrierenden Sternleins bedarf, um Gutes zum leuchten zu bringen, also auch ohne jene sichtverstellenden, quasireligiöse Gemütlichkeit produzierenden Kandelaber, da ich gerne sehe, was an Köstlichkeiten in mich hineinsoll. Eine Kantine habe ich irgendwann auch gefunden. Jeden Tag köchelt da jemand anderer. Momentan rührt da gerade Judith Chaine Bartok, Khatchaturian und Stravinsky zusammen, im Théâtre du Châtelet.

Gut? Was ist eigentlich gut? Aus dem erwähnten Gerangle hat sich einer absentiert, der zu dem relativierenden Fazit kam: «[...] es ist ein Streit über Haltung und Geist, über Sozialisation, Normen und Denkmuster.» Ich höre zum Beispiel unter anderem sehr gerne Sibelius; der war irgendwie mit hineingeraten in den Kleinstkindcocktail. Heutzutage darf man den wieder hören wie man wieder Nietzsche lesen darf. Aber früher geriet man mit solch seltsamen Gelüsten rasch in eine No-Go-Area. Wegen meiner Sympathie gegenüber diesen Tondichtungen bin ich des öfteren belächelt worden. Nicht zuletzt von einem, der mich einmal eine ganze Nacht lang bei Schubert-Liedern davon zu überzeugen versuchte, daß italienische Rotweine besser seien als französische. Näher kamen wir uns bei einem Barolo, der fast so alt gewesen sein dürfte wie der Komponist dieser kunstvollen Lieder. Was er nicht wußte: Dieser Wein gehört zu denen, die ich geschmacklich durchaus zu den bevorzugten zähle. Vielleicht liegt es ja daran, daß im Piemont auch langue d'oc und auch Französisch gesprochen wird. Lachend in die ermatteten Arme gefallen sind wir uns dann mit Miles Davis' von Puritanern einst so gescholtenem (und über die Tube leider nicht mehr erreichbaren) Bitches Brew, diesem stellenweise tatsächlich fast noch ein wenig rock'n'rollenden späten Bebop, der mich auch heute noch direkt durchpulst und mir reinfährt wie früher diese vielen SevenAndSeven, die mich in dunklen Spelunken trunken — ach, in solchen coolen jazzigen Amikellern eben, die's überall gab, sogar in den USA.

Neue Musik. Etwa zwanzig Jahre habe ich gebraucht, bis ich annähernd begreifen durfte, was das meinen könnte. Sicher, ein bißchen John Cage und Philip Glass ging durchaus zuvor schon. Aber so richtig in mich hinein wollte sie einfach nicht. Bis ich mich eines Tages auf die Gespräche mit einem Komponisten dieser Musikrichtung einließ. Sachlich und fundiert erläuterte der mir dann seine Leidenschaft. Und eines Tages befand ich mich in einem Konzertsaal wieder, in dem Musik von ihm und anderen aufgeführt wurde. Am Ende des Konzerts fühlte ich mich sogar teilweise beglückt. Da war es mir ähnlich ergangen, als mich einige Zeit zuvor ein sogenanntes Erdferkel zur (s)einer Performance verführt hatte. Damals kam es zwar zu meinem bis heute anhaltenden Gehörschaden, aber ich hatte begriffen, was Punk ausmacht. Ich möchte dieses Erlebnis nicht aus meiner Erinnerung tilgen müssen.

Möglicherweise tat ich mich leichter als andere, da ich mich bereits in jüngeren Jahren mit dem Free-Jazz einer Musikrichtung zugewandt hatte, die auch schonmal als Krankheit bezeichnet wird. Sicher doch, Menschen, die breitbeining ganzarmig Klavier spielen, mögen taktlos sein. Aber meiner Gesundheit tat es zu diesem Zeitpunkt keinen Abbruch. Im Gegenteil, nicht nur über das Piano forte drang via Alexander von Schlippenbach einiges an Erkenntnis in mein Ohr und den anhängenden Kopf. Mit der Folge, auch die Töne des völlig desolaten Jazz Composer's Orchestra/ besser auseinanderhalten zu können.

Nicht täglich muß ich das haben. Aber ich hüpfe ja auch nicht jeden Tag mit dem Fahrrad über die Berge. Allzeit soviel Gesundheit würde mich krank machen. Auch lese ich nicht täglich Apollinaire, Baudelaire oder Lautréamont, obwohl ich die nun wirklich gerne mag. Lieblicher Eintopf aus der Auvergne schmeckt mir ebenfalls; es gibt erwiesenermaßen auch US-Amerikaner(innen), die köstlich sind. Den deftigen aus der Provence mochte die einwandernde florentinische Caterine de Medici überhaupt nicht. Weshalb Frankreich auch zu seiner heute so vielgerühmten Cuisine kam. Und ich vermag mich mittlerweile bei den Alten Meistern nicht nur Afrikas von den Neuerungen durch Pablo Ruiz und dessen Nachkreativen frohgestimmt lächelnd erholen.

Sogar der Kreischsäge meiner Kindheit höre ich mittlerweile (altersmilde?) wieder zu. Auch Bach lasse ich schonmal in mein Gehör hinein, obwohl es bei dem eigentlich ziemlich fremdelt. Ach, genaugenommen höre ich alles, bis auf Musical, Popularia, KlassikRadio, NDR-Kultur, was diese ganzen Antennensender für kommende bildungswillige Stände eben an Pralinchen so aufführen im schimmernden Schein der romantischen Schlaglichter. Aber ich bin es ja auch, der niemand ist und krank im Kopf.

«Da: wie er die roten Noten im vierten Takt ausspielt; die darin enthaltene Bewegung in den letzen beiden Roten auspendeln läßt und sicher austariert bis zur Oktave in der Linken, dafür könnte ich vor ihm auf die Füße fallen. Absatz bis zur ersten großen Steigerung.

— HÖLLISCH!»
 
Do, 04.11.2010 |  link | (3776) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ohrensausen



 

Auf Wasser wandelnd ...

Das Gespenst, 1982 (DIF)


Das sieht nicht nur so aus, es entspricht der Tatsache: Dieser Mann konnte sogar auf dem Wasser stehen. Der ist so leicht, der setzte einst Naturgesetze außer Kraft. Zwei Jahre, bevor sein Gespenst in Bayern für Windstärken sorgte, daß man meinen konnte, der Starnberger See befände sich kochend kurz vor Helgoland, da heizte er mir mit einem Buch die Seele. Ich habe im Anschluß alles von ihm gelesen, alle seine großartigen kleinen Filme und viele seiner Bilder gesehen; von letzteren sind, das ist mehr als bedauerlich, fast überhaupt keine im weltweiten Netz hängengeblieben. Meines Erachtens ist er der einzige überhaupt existierende wirkliche Bayer. Er ist derart er selbst, daß manch einer ihn heute eine Kunstfigur nennen würde. Aber das käme einer Herabwürdigung gleich. Oder es wäre eine Selbsterhöhung derer, die sich so bezeichnen.

Herbert Achternbusch ist der einzige Mensch, der mir glaubhaft vermitteln konnte: Es ist ein leichtes beim Gehen den Boden zu berühren.

Im Vorwort bittet er den Leser, «das Buch zu zerlegen und nach eigenem Gutdünken zusammenzustellen». Und wirklich: Es ist ein Kompendium, ein Führer durch die Gedankengänge des um die Ecke schreibenden und filmenden Bayern von den Ufern des Starnberger Sees.

Wie in seinen Filmen und Gemälden herrscht auch in diesem Buch eine Art geordnetes Chaos vor. Drehbücher und Theaterstücke werden zusammengehalten von einer Prosa, die in etwa von dem bestimmt ist, was er in seinem Film Der Atlantikschwimmer (wahrscheinlich war's doch eher in Servus Bayern?) so formulierte: «Dieses Land hat mich kaputtgemacht. Jetzt bleibe ich so lange hier, bis man es ihm ansieht.»

Ich bin geflohen. Er ist geblieben. Aber das eine oder andere Erinnerungsstück ist heimlich mit auf Reisen gegangen. Nachdem ich die letzten Tage so seltsam fiebrige Träume mit bayerischem Hintergrundgeräuschen hatte, schob es mich in der nicht minder seltsamen Phase der Rekonvaleszenz auf den Dachboden, und da kam er mir gespenstisch aus einem Bücherkarton entgegen. Und tatsächlich: der Geist ist der alte; auch ließe sich sagen: der lebt nicht nur, sondern er ist richtig lebendig. Mir scheint, ich hätte es gelesen wie damals. Sollte es jemanden aus einer Antiquariatsecke her anblinzeln, lächeln Sie nicht nur zurück, das mag der Grantler nicht so sehr, steigen Sie ein: Es ist ein leichtes beim Gehen den Boden zu berühren.
 
Di, 02.11.2010 |  link | (4964) | 15 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 







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