Gewaltige Liebe Wie ein Panoptikum sieht das Bühnenbild aus: Skulpturen, Gemälde, Figuren, alles ist in Bewegung und wird effektvoll be- und ausgeleuchet. Über den Dia-Projektor erscheint mal eine Filmszenerie oder eine beschauliche Landschaft an der Wand. Aus den Lautsprechern dröhnt Rockmusik, abgelöst von Flötentönen der Renaissance und elektronischen Klängen ähnlich denen von Steve Reich. Nacheinander treten drei Frauen auf, die allesamt einen gewaltsamen Bühnentod sterben. Die erste endet im Kugelhagel eines Maschinengewehrs, die zweite wird erstochen, und die dritte segnet unter Wasser das Zeitliche. Es geht um die Liebe. Renaissance Radar lautet der Titel dieser Theaterperformance der kalifornischen Künstlergruppe Soon 3, deren völlig neue Darstellungsform beim Festival von Pistoia in der Nähe von Florenz bestaunt wurde. «Nach dem traditionellen amerikanischen Theater», so Alan Finneran, Spiritus rector der 1972 von ihm formierten Gruppe, «nach der San Francisco Mime Troupe und dem Teatro Campesino wollen sich die Leute jetzt eine neue Generation amerikanischen Theaters anschauen.» Seine Arbeit repräsentiert die gesamte Bandbreite zeitgenössischer Kunst, die bislang mit der Bühne ein wenig fremdelte. Er stellt visuelles Theater her, das die herkömmlichen Besucher allerdings eher erschreckt. Zentrales Thema dieser aktuellen Produktion ist die Gewalt. Darin prallen das heutige Kalifornien und das Italien des 16. Jahrhunderts heftig aufeinander, die Illusion des Hollywood-Kinos kollidiert mit südeuropäischer betulicher Beschaulichkeit. Frauen spielen dabei die Hauptrollen. Männer wirken nur noch hinter den Kulissen mit. Als Drahtzieher. Flohmarkt: Savoir-vivre, 1981 Weibliche Emanzipation Liebe in San Francisco Gewalt in der Renaissance
Vom kalten Spaltenfüllen erzählte ich nebenan bei der immerwährend kopfschüttelnden und rührenden Dame. Wie ich meinen Kontrollmechanismen entnommen habe, interessieren sich einige für das Thema. Es kann allerdings auch die Lust an noch mehr Knigge gewesen sein. Doch mit dem geht man heutzutage schließlich nie fehl. Da ich also mal wieder im nachhinein nachgedacht habe, kroch durch meine organische Festplatte der Gedanke, vielen könnte der Begriff aus dem Holzmedienchinesischen möglicherweise doch nicht so geläufig sein wie zunächst vermutet. Deshalb trage ich als in den siebziger Jahren mal fest bestallter kalter Spaltenfüller mit Option auf Nachrufe zu Lebzeiten das, auch wegen des einnehmenden kostbaren Platzes, hier nach. (Sollte ich der irrigen Annahme unterlegen und der Sachverhalt dennoch bekannt sein, dann lassen Sie bitte Gnade walten, liebe Kopfschüttlerin. Aber auf jeden Fall dient die Erklärung dann der allgemeinen Aufklärung, der ich als Zeitgenosse Oswald Kolles mich verpflichtet sehe.) Wird eine Zeitung gestaltet, entstehen des öfteren Löcher, die aufgefüllt sein wollen. In heutigen Zeiten hat das in der Regel einen einfacheren Verlauf, da sich mehr Bilder in den Blättern befinden, die man beliebig vergrößern oder verkleinern kann, so daß entstehende «weiße Flecken» im Layout auf diese Weise ausgeglichen werden können. Entstehen können die allerdings auch dann, wenn ungeplant eine Celebrität oder anders auf sich aufmerksam gemacht habende Person des öffentlichen Lebens vom Himmel kommt oder aber längst nach Anzeigensschluß doch noch eine mit Gewinn winkende Reklame reinkommt, die die alteingessene Verlagsleiterin oder der allzeitbereite alerte Chefredakteur bei der sonnabendlichen Benefiz-Veranstaltung Verlegernachwuchs in Not des Interessenverbandes aus dessen Taschen oder auf dem After Working Seminar Die Elite kniggt nicht ein, veranstaltet vom in den Konzern eingebundenen Partnerschaftsunternehmen, aus dem tiefen Herzen geleiert haben. Das Verhältnis zwischen redaktionellem Anteil und Anzeigenaufkommen ist qua Kodex vorgegeben bei einer auflagengeprüften Zeitung. Wenn man das heutzutage auch nicht mehr allzu genau nimmt und der Teufel in der Not auch schonmal eine PR-Fliege der chemisch-pharmazeutischen vulgo Lebensmittelindustrie zum redaktionellen Greif umformuliert. Der Presserat, nicht zuletzt wegen ständiger Verquickung von Werbung und journalistischen Inhalten, aber auch anderer Kollateralschäden zu Lebzeiten Lieblingsfeind von Hans Pfitzinger, hatte als Tiger irgendwann alle Zähne verloren. Früher war man mangels lustigen und häufig teureren Bildchen gezwungen, diese Krater mit billigem Text aufzufüllen. So mußten (und müssen bisweilen noch) die Damen und Herren in den Redaktionen, meistens diejenigen, die laut Plan den aktuellen Dienst kurz vor Drucklegung schieben, hier und dort einige Füllwörter einfügen. Ist das Loch zu groß, friemeln sie auch schonmal eine die Seite füllende Belanglosigkeit aus dem sogenannten Stehsatz ein, also in der Schublade auf ihren Einsatz wartende Texte, oder dichtet schlicht etwas hinzu. Dann hat man kalt Spalten gefüllt. Das ist dann das, was die Nachbarin zu Recht als liderlich bezeichnet. Wenn es in unserer schönen neuen bunten Welt derart auch kaum noch wahrgenommen werden dürfte. Photographie: Transatlantikblog (CC)
Die Liebe in die Hose oder der Gnadenflick. Das hat so seine ganz eigenen Arten. Es muß was Sonderbares sein, sie so zu lieben. Im August vergangenen Jahres war ich prächtig amüsiert von Herrn Nniers zauberhaft erzählter Geschichte, die ich fälschlicherweise als Porno bezeichnete, war sie doch reine und feine Erotik, da sie mehr verbarg als nackte Tatsachen zeigte. Und außerdem sollte schließlich das der Maßstab sein: Welcher Schauspieler und Sänger könnte eine Liebe und Hingezogensein zu jemandem heute noch spielen, ohne das ganze auf Sex zu beziehen? Doch ich hab's dann eben doch getan. Reumütig zitiere ich mich selbst: «Selten bin ich so langsam, so vorsichtig, so behutsam vorgegangen (beim lesen), um zum Höhepunkt zu kommen. Kaum ein Porno ist schöner gewesen als dieser.» Aber ich hatte eben spontan an diesen anderen, vermutlich weniger bekannten Aufklärer Mirabeau gedacht, von dem ich meinte, nur der «könnte da noch mithalten»: «Es schmerzte mich ein wenig, als [...] in mich einführte, ich litt. Doch ich ertrug diesen Schmerz in der Hoffnung auf eine höchst erfreuliche Sensation.» François Bondy empfand das anders oder nicht so sensationell. Ich will in aller Unverschämtheit die Gelegenheit nutzen und erneut an dieses grandiose Kopfkino erinnern, an diese zwei wunderschönen (aber leider auseinanderfallenden) Dünndruck-Merlin-Bändchen Ausgewählte Schriften* (1970), aus deren im ersten Büchlein enthaltenen Erzählung Lauras Erziehung ich die beiden Sätzlein (Seite 486) zitiert hatte, zu denen ich sofort hingesprungen war, nachdem es (leider) mit Herrn Nniers Sätzen ein Ende gehabt hatte. Alleine die sexual-pschologischen Kommentare der Frau Dr. Johannna Fürstauer, die mir ähnlich mal anderswo begegnet zu sein scheinen, ich meine bei Alphonse Daudet — sogar der Autor der Briefe aus meiner Mühle hat einen über dreihundert Seiten starken Roman titels Sappho verfaßt, in dem der junge Jean Gaussin der älteren Fanny Legrand «zärtlich, lüstern und eigensüchtig» verfällt —, die mir als Verfechterin der Prüderie aufgefallen ist, schlagen Bondy um Längen. Letzerer hat es wohl nicht ertragen, daß einer wie der Abgeordnete Gabriel de Riqueti, Comte de Mirabeau, mal an was anderes gedacht haben könnte als an die einzige Art der Aufklärung. Es ist aber auch typisch für die Zeit, in der man durchaus mit dem Ausschluß aus der Gesellschaft des Fortschritts rechnen mußte, las man anderes als Karl Marx. Aber François Bondy war 1971 bereits ein altersfortgeschrittener Herr. Was nicht heißen soll, daß er nicht auch Lesevergnügen bereiten konnte. Nur eben ein bißchen anders orientiert. Wie auch immer — der großartige und von mir durchaus ein wenig verehrte Verleger Andreas J. Meyer kannte sich (nicht nur) in der abseitigen französischen Literatur bestens aus. Bereits 1960 hatte er ein Verfahren am Hals wegen «Verbreitung unzüchtiger Schriften». Die Staatsanwälte und Richter, die auch anderenorts aktiv wurden, hatten wohl durchweg die Bibel, in deren Namen sie ja häufig klammheimlich mit (be)urteilten, recht selektiv gelesen. Lauras Erziehung, verfaßt zwischen 1777 und 1781, vorangestellt hatte der Comte de Mirabeau*: Zieht euch zurück, ihr eifernden Zensoren,Neuerlich auf all das gekommen bin ich allerdings über diesen am vergangenen Montag erschienenen, nicht minder köstlichen Blick auf die in die Hose gehende Liebe, durch der geschätzten Nachbarin Gnadenflick. Er stellt eine an die Sterblichkeit erinnernde Variante dieser Gnadenlosen Liebe dar: «Grau ist sie geworden, und dunkel war sie einst, wie dunkel, das lässt der ungebleichte, freie Fleck am Hinterteil erahnen, und lange wird die Hand brauchen, sich zu gewöhnen an eine Tasche weniger, das Alter fordert Tribut und Abschied.» So langsam erschallt (in mir) der Ruf nach einer eigenen literarischen Gattung, die in die Philosophie dieses Alltags greift wie eine Hand beim Hineingleiten in ein Loch ungeahnten Ausmaßes. * Aus dem Inhaltsverzeichnis des Merlin-Verlags: Honoré Gabriel Graf von MIRABEAU — AUSGEWÄHLTE SCHRIFTEN — Herausgeberin und Übersetzerin Dr. Johanna Fürstauer, 2 Bände, 596 u. 702 S. Lw. EUR 24,50 ISBN 3-87536-016-8 Seine wohlhabende Frau zwang der heißblütige junge Graf gegen ihren Willen zur Ehe, indem er sie kompromittierte. Als er wenig später wegen seiner Verschwendungssucht und seiner Ausschweifungen inhaftiert wurde, verliebte er sich in die Gattin des Gefängniskommandanten und entführte sie ins Ausland. Dort ernährte er sich von der Abfassung pornographischer Schriften und der Veröffentlichung unerschrockener politischer Pamphlete. Die 2-bändige Dünndruckausgabe bietet eine repräsentative Auswahl dieser Texte.
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