Noblesse oblige

Photographie: Allie Caulfield (CC)


Vor zwei Tagen bezeichnete mich jemand als Adelsexperte. Nun gut, ich hatte mich unglücklicherweise «enttarnt», indem ich ihm davon erzählt hatte, daß ich eine Zeitlang in einem blaublütig durchseelten Haus Wein gesoffen habe und dessen Produzenten auch noch sympathisch fand. Da muß man dann eben mit ätzender Ironie leben, vor allem, wenn sie von jemandem verspritzt wird, der sich wissenschaftlich mit dieser Degeneration beschäftigt. Nur gut, daß ich nicht darüber berichtet habe, wieviel wohler noch es mir erging bei diesen Florentinern in ihrem Palazzo, nicht nur, weil die noch um einiges besser kochten als die rheingauische Gräfin. Ach, was soll's, Adlige sind auch nur Menschen.

Das dachte ich jedenfalls bis gestern abend. Da plazierte sich eine Frau mittenrein in mein Gedankengut, von der ich zuvor noch nie gehört und auch nicht gelesen hätte, wäre ihr Name nicht just während dieser brieflichen Frozzelei gefallen. Normalerweise schaue ich mir so etwas nicht an, aber während des Switchings blieb ich an einer Talgshow (das ist fränkisch und heißt Fernsehunterhaltung) hängen, weil ein Reizname fiel. Da saß dann ein weibliches Wesen, das auf den ersten Blick auf mich wirkte wie eine Anja-Tanja, die sich aus Mümmelmannsberg hinaus hinauf an den Rand dieser besseren Gesellschaft gearbeitet hat — nein, das wäre eine schiefe Metapher, das Hasenbergl käme dem näher, stammt der Name der Dame doch aus Bayern, der von der Anna von Bayern.

Sie hat ihresgleichen heftig oder auch vehement verteidigt, da ihm das offenbar selber nicht mehr gelingen will, jedenfalls vor keiner rigorosen Prüfungskommission mehr. Sich die Frage zu stellen, warum auch sie an dieser Runde teilnehmen mußte, ob es an der intensiven Freundschaft zum Delinquenten oder an dem Buch gelegen haben mag, das sie über ihn geschrieben hat, ist vermutlich ebenso müßig wie die Frage nach dem Wahren, Guten und Schönen innerhalb eines dokumentarischen Filmchens innerhalb der Sendereihe Deutsche Dynastien. Da gilt offensichtlich auch nur das dauerhaft oder auf ewig gültige winckelmannsche Edle Einfalt, stille Größe, vielleicht auch: innen zwar hohl, aber es glänzt so schön. Auf jeden Fall wurde ich an den Satz erinnert, den dieser wirkliche Adelsexperte mir noch zukommen ließ und den ich leicht abwandele: «Außerdem bietet diese Form der filmischen (im Original schriftlichen) Erinnerung dem einzelnen auch die Möglichkeit der nachträglichen Sinngebung des gelebten Lebens und somit die Einbindung in den kollektiven Prozeß bürgerlicher Identitätsbildung.»

Wenn ich dem Bürgerlichen noch ein kleines Spießchen hinzufüge, dann verdeutlicht das möglicherweise die Lage einer Nation. Ach was, die Lagen vieler Nationen! Wir wären doch allesamt so gerne auch von blauem Blut, allen voran die Franzosen, die möglicherweise etwas zu voreilig dem Adel den Kopf abgeschnitten haben. In Deutschland wurde der edle und erhabene Geist zwar hundertwanzig Jahre später geköpft, nein, das macht man dort nicht, man schafft auf andere Weise ab, aber auf jeden Fall steckt er dennoch tief in uns, in unserem Blut eben. Man muß doch nur mal in unsere Wohnungen schauen. Überall prangen die Seh(n)süchte, selbst unter eine für Germanen viel zu tiefe Decke paßt immer noch irgendwie ein Kronleuchter, zu dem aufzublicken wäre. Teil dieser knapp einem Prozent der jeweiligen Bevölkerung wollen wir sein.

Gestern fiel im Rahmen der allgemeinen Erregung irgendwo der Vorschlag, am besten gleich allen einen Doktorgrad mit auf den Lebensweg zu geben. Ergänzend hinzufügen möchte ich: Alle in den Adelsstand erheben. Dann wär' vielleicht endlich Ruh'. Oder auch nicht, müßten sich nach einer solchen Massenveredlung doch die Echtblütigen was einfallen lassen. Einfach einen Titel zurückgeben? Wenigstens ein «von» aus dem Namen tilgen, wie die gestern abend ebenfalls anwesende, neben dieser Anna-Tanja sitzende Freifrau das getan hat. Die hätte ich übrigens am liebsten geknutscht, so wunderbar spöttisch hat die gekuckt.
 
Mi, 23.02.2011 |  link | (12011) | 65 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ich schau TeVau



 

Die Windrose • Rose des vents


Ich habe den Titel (erneut) geändert in der Hoffnung, bei Heilssuchenden die Hoffnungen reduzieren zu können.

Hilferuf! • Hilferuf! • Hilferuf!
Da hat jemand falsch abgeschrieben, und nun befinden wir uns inmitten der Katastrophe.

Der Reihe nach: Unser Jüngster hat sich — frage mich bitte niemand nach meiner Meinung zu diesem Tun, ich mache es wie Carlo Schmidt, ich warne Sie — stechen lassen. Nachdem er herausgefunden hat, daß er nicht zu den Jeti-Rittern gehört, sondern er sich in der allerdirektesten Erbfolge der piratischen Störtebekers befindet, mußte neben den Totenkopf noch eine handtellergroße Windrose auf des heroischen Jünglings andere Brust. Die präsentierte er nun stolz. Doch bei näherer Betrachtung fiel auf, daß dieses edle Gewächs einen (genetisch bedingten?) Webfehler hat. Die Fachfrau, neudeutsch Expertin, hatte vermutlich ihr Navigationsgerät nicht zur Hand. Nord und Süd hatte sie noch, wie das heutztage heißt, auf dem Radar, Aber der Osten ist ihr nach West gerutscht. Peking liegt nun quasi mitten im Konsumismus. Begründung: Sie habe von der Vorlage falsch abgeschrieben.

Nun wären das vermutlich nicht mehr als die Lacher, der Hohn und der Spott, die zwar tief unter die Haut gehen. Aber da kommt die Angst des Jüngsten hinzu: die analphabetische Stecherin könnte ihm klammheimlich einen radikalen Rechtsruck als Code in die Brust genagelt haben. Kennt sich da jemand aus — könnte diese Ostwestumkehrung Symbol einer bestimmten politischen Gesinnung sein?

Helfen Sie uns, wenigstens nicht deshalb die Schleifmaschine ganz schnell ansetzen zu müssen.
 
Do, 17.02.2011 |  link | (255530) | 65 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Seltsamkeiten



 

Das Doppelleben des Herrn Palomar

oder Vom Verlust der Sinne
«Die Gegenwart aber, die in der Mitte liegt, ist so kurz und unfaßlich, daß sie keine Länge annimmt und nicht mehr zu sein scheint als die Verbindung des Vergangenen und Künftigen und außerdem auch so unbeständig, daß sie nie am selben Ort ist; und alles, was sie durchläuft, nimmt sie von der Zukunft weg und legt es der Vergangenheit zu.»
Henri Bergson, Zeit und Freiheit, Paris 1920. Frankfurt am Main 1989, S. 171

Als wenn es das Zu-Ende-Spielen der Tonleiter bedurft hätte, versteht er — mit einem Mal? — diese Intentionen. Gewiß, erkennende Schmunzeleien ergaben sich bereits bei Italo Calvinos hilflos in sich und der Literatur Verlorenem, der die Welt wahrlich hätte begreifen können, aber dann doch die ‹virtuelle› der Literatur bevorzugte. Ob Dummheit oder Lebensuntüchtigkeit den von diesem Buch Ergriffenen davon abhielt, mit Genuß in den dargereichten Apfel zu beißen, oder schlichte, vom Kardinalsmantel des an der Literatur Interessierten einhüllende Schüchternheit, das läßt der Italiener die Treppe der ironischen Distanz hinunterfließen.

Das definitive Urteil quillt ohnehin aus allen Furchen der eigenen Erfahrung, verknüpft mit diesem schiefen deutschen Sprichwort vom Spatz in der Hand und der Taube auf dem Dach. (Ist der kleine Sperling nicht ohnehin sehr viel begehrenswerter? Sollten wir nicht seinetwegen aufs Dach schielen? Doch vermutlich ist er zu flatterhaft, zu sprunghaft, zu behende, zu flink, und so träumen wir von der scheinbar Unerreichbaren hoch oben in der Ferne und bilden uns in unserer Bequemlichkeit ein, dieses feiste, gerade mal ein wenig mehr schillerndere Tier verkörpere die Sehnsucht.) Doch da ist doch noch diese ganz andere, sehr viel tragischere, im nachhinein sicher auch um so komischere, also tragikomische Erinnerung: die ausreichend Möglichkeiten bietet, diese männliche (?) Unbeholfenheit zu interpretieren.

Hier die in der Anfangsblüte stehende Schönheit und dort diejenige, die bereits die Nacht in der Hand des Verkäufers durchlebt hatte, dessen feingeschnittenes Gesicht eben jene, seiner Ware ähnlichen, Pigmentierung kennzeichnete, die aus Säften entstanden ist, deren Wurzeln aus tiefem Sand gerissen und zwischen den Kalkstein und den Lehm des französischen Jura verpflanzt worden waren.

Heute ist ihm klar, daß der senegalesische Herrscher über die weibliche Welt seines Reiches, die kleine Bar, es arrangiert hatte. In fürstlicher Gastfreundschaft hatte er dem Besucher gestattet, im dargebotenen Zelt die Jungblüte zu bewässern. Und wie reagiert der? Er wendet sich in stoischer Dämlichkeit der bereits fest im Beet Verankerten zu, ihr, die bereits Literatur war. Der aufscheinende Glanz der Zukunft hatte ihn derart geblendet, daß ihm auf einmal auch die Gegenwart in die uneinholbare Vergangenheit entflattert war. Der Gedanke an die so nahe, neben ihm sitzende Taube in der Hand war offensichtlich reizvoller, und weg war er, der Spatz, und putzte sich oben auf dem Dach fröhlich sein Gefieder.

«Es wurde dunkel. Unten endeten die Felsen, schräg abgleitend, in einer kleinen Bucht. Sie war jetzt dort hinuntergegangen und stand im Wasser. ‹Komm her, laß uns noch einmal schwimmen ...› Amadeo biß sich auf die Lippen und zählte die Seiten, die er bis zum Schluß noch zu lesen hatte.»*

Eigentlich fehlte nur noch der in Calvinos Palomar personalisierte Härtefall, jener «diskrete Zeitgenosse», der «weiß, daß Frauen in solchen Situationen, wenn ein Unbekannter daherkommt, sich häufig rasch etwas überwerfen», daß «aus halbrespektierten Konventionen mehr Unsicherheit und Inkohärenz im Verhalten als Freiheit und Zwanglosigkeit erwachsen», der seinen wiederholten Wandel-Gang über das immerselbe Stück Strand begründet: «Das dürfte genügen, um die einsame Sonnenbadende definitiv zu beruhigen und alle abwegige Schlußfolgerungen auszuräumen. Doch kaum naht er sich ihr von neuem, springt sie auf, wirft sich rasch etwas über, schnaubt und eilt mit verärgertem Achselzucken davon, als fliehe sie vor den lästigen Zudringlichkeiten eines Satyrs.» Und so quadratiert er sein ‹moralisches› Kreisen denn: «Das tote Gewicht einer Tradition übler Sitten verhindert die richtige Einschätzung noch der aufgeklärtesten Intentionen.»**

Dabei ist's ihm wohlergangen. Denn er vermochte sich vor der Brandung anlandender Aufwallung hinter dem Fels verbergen, dem ihm sein bißchen bürgerlich-aufgeklärte Erziehung hingestellt hatte. Gänzlich hilflos wäre er gewesen als jener in den Servennen. Als dieser hätte er die langen Philosophenwege am Ufer des Flüßchens erst gar nicht auf sich genommen, sondern hätte, seinem hugenottischen Gedankenfluß folgend, den Fels in dessen Einzelteilen protestierend genutzt und damit die ruchlose Nacktheit in die züchtige Bekleidetheit zurückgejagt. Die Gegenwart köchelte nach wie vor im Tiegel einer Vergangenheit, die selbst einer noch glimmenden Schlafzimmerglut den Hut der apodiktischen Dunkelheit aufsetzt. Unvorstellbar ist es für diesen ‹Traditionalisten›, daß es eine Gegenwart gibt, in der eine zweisame Nacktheit im grellen Bühnenlicht und noch dazu von einer Frau gesungen wird: «Pépère tellement pépère / Pas pressé d'arriver /Se laisser la riière / Gentiment déborder / Nager c'est magnifique / Même s'il y a qu'l'océan / Qui reste pacifique / Et pas pour très longtemps. // Reste sur moi / Que je respire avec toi /Reste sur moi / Que je respire avec joie.» (Ruhig, ganz ruhig / Es nicht eilig haben, anzukommen /Den Fluß ganz langsam / Übertreten lassen / Schwimmen, das ist herrlich /Auch wenn nur / Das Meer friedlich bleibt /Und das nicht für sehr lange Zeit. // Bleibe auf mir / Damit ich mit dir atme / Bleibe auf mir / Damit ich mit dir Freude atme.)*** Dies bedeutet ihm das Höllenfeuer Zukunft. Ihm ist die Vergangenheit immerwährende, gültige Gegenwart.

Palomar darf sich also glücklich schätzen, nicht in einer solchen festen Burg wohnen zu müssen. Palomar darf sich überall in seinen geistigen Umwandlungen ergehen — und auch inmitten der großen Stadt wieder in sein Fazit zurückgejagt werden. Da war er, von der idealen Aussichtsplattform eines Straßencafés aus, gerade dabei zu konstatieren, daß, «obwohl Angehöriger einer älteren Generation, für welche sich Nacktheit des weiblichen Busens mit der Vorstellung liebender Intimität verband, dennoch mit Beifall diesen Wandel der Sitten begrüßt, sei's weil sich darin eine aufgeschlossene Mentalität der Gesellschaft bekundet, sei's weil ihm persönlich ein solcher Anblick durchaus wohlgefällig erscheinen kann», daß es ihm also «gelingen möge, genau diese uneigennützige Ermunterung in seinem Blick auszudrücken». Die Hoffnung auf eine demgemäße Erwiderung für diese erbrachte ihm die wild um sich blickende Flucht des Objekts seines Urteils «vor den lästigen Zudringlichkeiten eines Satyrs» in ein nebenliegendes Ladenlokal. Vielleicht war die Ermunterung in seinem Blick falsch ausgelegt worden? Und sehr verwirrt erschien ihm Herr Palomar auch, als sich die Stimme eines Körpers, der seinen bewegungsreichen, lasziven Gang direkt im Stuhl neben ihm beendet hatte, auf sein Ohr zubewegte und ihm bedeutete, es sei wohl eine angenehme Tagesbeschäftigung, den Mädchen, den Frauen zuzuschauen.

Herr Palomar tat ihm nachgerade leid. Wie er seine Anordnungen auch reihte, sie schienen zu mißlingen. Dabei hätte er sich nur erinnern müssen. Er hatte sich in der Cafeteria eines Kaufhauses einen dieser Säfte aus der Auslage genommen, die vornehmlich der Gesundheit vorbehalten waren (und dennoch durchaus schmackhaft waren). Und als er den Kopf wieder gehoben hatte, stand sie auf einmal da. Da er sich der Gefahr bewußt war, wiederum als Satyr eingestuft zu werden, wandte er den Kopf rasch zur Seite, wobei sein Blick allerdings hineingerieht in eine ganze Ansammlung von Anmut und Schönheit. Da die drei Generationen jedoch ins Gespräch vertieft waren, ließ er seinen betörten Gedanken auf ihnen ruhen und faßte dann den Mut, sich wieder umzudrehen in der Hoffnung, die dunkelhäutige Schönheit könnte sich bereits an einen anderen Ort begeben haben. Doch schier verzweifelt stellte er fest, daß sie, wohl nach dem passenden Getränk suchend, noch immer vor der Kühlvitrine verharrte. In einem Anfall von Mut ruhte sein nachgerade verstörter Blick eine Weile auf ihr — den sie erwiderte. Nein, sie lief nicht weg. Sie bedeckte nicht ihren Busen (was derzeit auch nicht unbedingt notwendig gewesen wäre) oder ihr vollendet geschnittenes Gesicht. Sie schaute ihn an. Und als sie an dem Platz vorbeikam, an dem er sich niedergelassen hatte, erwiderte sie seinen Blick nicht nur nochmals, sie lächelte ihn gar an. Dabei stand in seinem Gesicht sicherlich nicht unbedingt jene uneigennützige Ermunterung, sondern vermutlich eher eine ratlose Hilflosigkeit, wie sie einen befällt, wenn man nicht Herr seiner Sinne ist.


*Italo Calvino: Abenteuer eines Lesers, in: Der verzauberte Garten, Berlin 1998, S. 48
**ders., Der nackte Busen, a. a. O., S. 9 f.
***Patricia Kaas, Je te dis vous, 1993

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählungen

 
Mi, 16.02.2011 |  link | (3687) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage



 







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