Umhüllungen musikalischen Begehrens

Es wird in unserer Überflußgesellschaft außerordentlich viel Überflüssiges dokumentiert, und das oft genug mehrmals. Nahezu jeder Verlag, der mit seinem Programm irgendwann einmal die bildende Künste streifte, meint, unbedingt noch ein Verzeichnis des Pablo Ruiz, am liebsten die (noch) guernicaferne blaue Periode, oder den zigtausendsten Jahreskalender nach dem allergrößten Baumeister des 20. Jahrhunderts auf den Markt bringen zu müssen. Schwer hingegen tut sich, wer Kleinode für die Nachwelt erhalten möchte und dafür einen Verlag benötigt, der für Produktion und Vertrieb verantwortlich zeichnet, also ein Risiko einzugehen bereit ist. In der Regel zucken vor einem solchen Wagnis die renommierten Verlagshäuser zurück.

Die schweizerischen Lars Müller Publishers in Baden haben dies nicht nur nicht getan, sondern sich hingegeben. Sie haben der edlen und hochwertigen Solitaire-Sammlung des Münchner Musik-Produzenten Manfred Eicher und seiner Firma ECM ein angemessenes Behältnis geschaffen und es unter dem Titel Sleeves of Desire — A Cover Story der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Lars Müller selbst hat dieses Unternehmen mit dem — dem Objekt der Begierde vieler adäquaten — Satz begründet: «Die Übersicht über die ECM-Covergestaltung der vergangenen 25 Jahre begeistert mich.»

Er ist es auch, der in der darauffolgenden Sentenz die Irritation vieler ausspricht, die vor diesem Faszinosum stehen: «Vor dem Hintergrund einer einschlägigen beruflichen Erfahrung als Gestalter macht sie mich in gewisser Hinsicht auch ratlos: Da breitet sich etwas aus, was doch offensichtlich visuelle Kommunikation darstellt und sich trotzdem einer Beschreibung nach den Kriterien der Disziplin widersetzt.» Dem letzten Teil der Müllerschen Aussage sei jedoch widersprochen: So manches Mal wird auch schon vor zehn, fünfzehn oder mehr Jahren ein anderer Begeisterter auf den abendlichen Kneipenbesuch verzichtet haben.


Einen kenne ich persönlich sehr gut. Wenn ich mich recht erinnere, war es 1973 (da existierte ECM Records bereits vier Jahre), als ich in einem Aachener Plattenladen Chick Coreas LP Return to forever in der Hand hielt, sie erstand — und so die fulminante Stimme von Flora Purim kennenlernte. Ähnlich ging es mir mit Ralph Towners Old Friends, New Friends, eine Platte, mit der ich verschiedene Besucher nervte, da sie immerfort kreiste. Und so manch ein Plattenkauf, zu dem mich häufig zusätzlich das Cover inspirierte, animierte mich zu einem Konzertbesuch — später vor allem zu den glorreichen Jazzer-Auftritten im Münchner Amerika-Haus, die der ehemalige Bassist mit Studium der klassischen Musik Manfred Eicher veranstaltet hatte.

Das Durchblättern dieses Kataloges bzw. das darin Verweilen fördert einen verblüffenden und doch zugleich logischen Effekt zutage, der die Brillanz dieses Design-Konzeptes unter Beweis stellt: den des Wiedererkennens. Auf Anhieb weiß der Freund der ECM-Produkte, welches er im Plattenschrank, im CD-Regal stehen hat und möglicherweise, welches er noch erstehen muß von den über 500 erschienenen Titeln, bespielsweise diejenigen, die einen Keith Jarrett mit dem Hilliard-Ensemble vereinen, Arvo Pärt und/oder ...

Es hat einige Versuche gegeben, diese Gestaltungs-‹Philosophie› (die mit dem Diktum von Paul Celan «alles ist weniger, als es ist, alles ist mehr» im Buch so treffend unterlegt ist) zu übernehmen. Doch dürften sie von der Konsequenz und der Stringenz, mit der Barbara und (dem verstorbenen) Burkhart Wojirsch sowie, seit 1978, Dieter Rehm die ECM-Cover ‹komponieren›, in die Schranken verwiesen worden sein. (So, wie man vielen Buchumschlägen ansieht, daß ihre Gestalter das Innenleben ihrer Produkte nicht studiert haben, ist bei vielen Plattenhüllen offensichtlich, wie wenig sich ihre Gestalter in die Musik einzufühlen vermochten; sie sind Designer, die das Produkt, die den Anspruch ihrer Profession nicht verstanden haben, der nach Ganzheit verlangt.)

Zu Recht schreibt Lars Müller in seinem Katalogbeitrag ‹Was zählt, ist der zweite Blick›: «Diesen Schallplattenhüllen ist eher mit der Sprache der bildenden Kunst beizukommen. [...] Einige dieser Cover zeigen Arbeiten von Burkhart Wojirsch oder gehen auf solche zurück; strukturale Malerei, minimalistische Interventionen auf der Fläche, einschliesslich deren Verletzung. Das Aufbrechen der Oberfläche macht die Hülle zu einer visuellen Membran, die das Hören und Sehen von Musik zwingend in Zusammenhang bringt. [...] Die [...] Cover sind Prototypen eines bis heute erfolgreichen Gestaltungsprogrammes; dessen Merkmale einer auf Reduktion beruhenden Bildauffassung lassen sich auf typografischen Cover ebenso nachweisen wie auf fotografischen oder auf frei künstlerischen. Das Fehlen von grafischer Effekthascherei und unbedingtem Informationszwang bestätigt das ECM-eigene Verständnis der Covergestaltung als künstlerische Disziplin.»

Entscheidend für diese ‹Musikumhüllungen› ist jedoch, daß, wie Müller in seiner Skizze der Arbeitsweise von Dieter Rehm anreißt, sie «nie ausdrücklich einen musikalischen Inhalt» andeuten. Es ist immer «das Ahnungsvolle, das Hinter-dem-Bild-Liegende, das die Gestaltung auf die Absicht zurückführt, Verpackung für Musik zu sein».

Diese Aussage erleichtert es auch, für dieses Werkverzeichnis die richtige Zuordnung im Bücherregal zu finden. Es wird seinen Platz unter den Design-Standards haben — auch oder gerade weil Peter Kemper (‹An den Rändern des Lauschens›, Peter Rüedi (‹Die hörbare Landschaft›), wie bereits erwähnt Lars Müller (‹Was zählt, ist der zweite Blick›) sowie Steve Lake (‹Looking at the Cover›) mit ihren Texten Verbindungen herstellen zwischen den Disziplinen, die in und um das Thema Musik greifen.

Im Hinblick auf die internationale Verkaufbarkeit eines Buches, das Standard sein will (und soll!), ist es nur richtig, die Texte in deutscher und englischer Sprache zu drucken. Um so unverständlicher wird es aber dann, wenn ein Text wie der von Steve Lake lediglich in Englisch erscheint. Hat der Autor sein Manuskript so spät geliefert, daß keine Zeit mehr war für eine Übersetzung durch Catherine Scheibert, die alle anderen Texte ins Englische übertragen hat? Sollte der (italienischen) Druckerei das Papier ausgegangen sein; hat sie sich in der Bogenkalkulation vertan?

Eine deutliche Grußadresse wegen ‹Typesetting and production› bzw. Layout soll an das Atelier Lars Müller bzw. an ihn persönlich gehen: Für eine Groteskschrift einmal Anführungen aus ebensolchem Fundus und zum anderen aus dem der Serifenschriften? Das ist eine unschöne Mischung. Wie man auch ein wenig sorgfältiger auf die teilweise häßlichen Sperrungen hätte achten sollen bzw. sie beseitigen; was ein Computer-Layout-Programm nicht mehr bewältigt, schafft ein selbst durchschnittlicher Lektor alle Male (wie es ihm überhaupt gelingen dürfte, die Einheitlichkeit von Schreibweisen et cetera herzustellen).

Genug der Erbsenzählerei. Es ist ein ansonsten sorgfältig gemachtes, übersichtliches, ja teilweise schönes Buch mit guten Farbabbildungen, das nicht nur Dokumentation ist, sondern dem Faszinosum ECM-Cover inhaltlich und formal durchaus verwandt ist.

Und deshalb lege ich jetzt, als CD (auch das Problem der Verkleinerung auf das CD-Format hat das ECM-Cover-Team gemeistert), auf: I Took Up The Runes mit Jan Garbarek, Rainer Brüninghaus, Eberhard Weber, Nana Vasconcelos, Manu Katché, Bugge Wesseltoft und Ingor Àntte Àilu Gaup und fahre ab — durch südliche Landschaften.

ECM — Edition of Contempory Music
Lars Müller Publishers, CH-Baden 1996
© Abbildungen: ECM

Flohmarkt: savoir-vivre, 1996


Nachtrag viele Jahre später, im Juli 2011: Längst wird das Buch selbst als edle Rarität gehandelt. Etwa von 200 Euro an aufwärts möchte manch einer dafür haben. Daß die Nachfrage auch nach so langer Zeit vorhanden ist, versteht sich angesichts der, wie Manfred Sack 1996 in der Zeit schrieb: «537 Titel in 37 Jahren, jedes Jahr also 14 Platten und manchmal eine mehr: ein kulturelles Wunder in einer profitgierigen Welt.» So verkaufe ich also ein kulturelles Wunder. Von 200 Euro an ist es zu haben. Wer möchte, der biete.

Wem das zuviel Geld sein sollte — es gibt ja noch die ECM-Webseite (die in ihrer unaufdringlichen Präsenz bereits eine Attraktion darstellt). Da sind sie dann unverhüllt zu sehen, die Hüllen des Begehrens. Na ja, nicht so ganz unverhüllt, sind die Texte doch ausschließlich in englischer Sprache verfaßt. Aber es geht letzten Endes ja um Musik. Und die muß nicht übersetzt werden ...
 
Mi, 20.07.2011 |  link | (3783) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn



 

Wachstationen jugendlichen Lebens

Eine mir näher bekannte Dame namens Braggelmann erhielt vor ein paar Tagen oder Wochen eine Einladung zu einer Prügelei. Nein, nicht so direkt. Zuschauen sollte sie dabei. Man kennt das ja, Gladiatoren und so. So, wie in diesem Lebenslänglichenknast im ländlich-gemütlichen US-Louisiana, wo sich während eines regelmäßig stattfindenden Rodeos vor tausenden eigens freiwillig im Gefängnis platznehmenden Zuschauern die Insassen für eine Handvoll Dollar von recht wilden Bullen auf die Longhörner nehmen lassen und sich bei einem Sieg als Überlebender wenigstens ein bißchen wie in Freiheit fühlen dürfen. Und dann auch demütig dem lieben Gott dafür danken, denn ohne den geht nunmal nichts in diesem rechtschaffenen, gesetzestreuen Land, diesem Synonym der Go-West-Freiheit. Die Arena, in die besagte Dame von einem moralische Unterstützung erbittenden Sportberichterstatter gebeten wurde, liegt im kühleren Norden der Mitte der Alten Welt, gerne auch als deren Tor bezeichnet. Dort wird normalerweise dezenter massakriert, haben Pfeffersäcke doch feinere Methoden, jemanden zu erschlagen. Lediglich dann, wenn die einheimischen Fußballvereine aufeinander losgehen, kann es schonmal handgreiflicher werden, dann kehrt die von der prosperierenden Wirtschaft gänzlich verdrängte alte Bezeichnung Volksparkstadion wieder in die Assoziation massenhafter Freiheit zurück. Dort aufeinander einschlagen sollten ein Engländer und ein mittlerweile in deutsche Herzen eingemeindeter Herr aus der Ukraine. Mich zu dieser Veranstaltung hinzuzubitten, das unterblieb bereits im gedanklichen Vorfeld. Es war bekannt, mit welcher Hingabe ich zu bespötteln pflegte, daß es offenbar zunehmend mehr Menschen zu diesem Kampfsport dieser halbseidenen Welt drängt, vermutlich weil es zu einer gewissen Befreiung führt, wenn wenigstens andere aufeinander eindreschen. Nicht unbedingt nur sogenannte immigrationshintergründige junge Männer fallen mir dabei ein, sondern durchaus auch Herren und zunehmend mehr Damen vom gesellschaftlichen Mittelbau an aufwärts. Die etwas geschulteren unter ihnen gehen dabei zurück bis in die Antike, ersteigen gar den Musengipfel. Womit wir neben den Gladiatoren auch die Ritterinnen des edlen Faustkampfes erreicht hätten.

Als ich noch journalistisch tätig war, was vom Zeitraum her fast ans alte Rom hinreicht, geriet ich immer wieder mal in Gespräche geradezu philosophischer Dimension. Eine Bar gibt es in München, in der es mal recht friedlich zuging von siebzehn bis neunzehn Uhr, als man das Besserverdienen und Dazugehören noch nicht ganz so früh am Tag ausstellen mußte. Der Ruhe wegen, vielleicht auch fasziniert von den dort servierten antialkoholischen Cocktails, die meist besser schmeckten als die hochprozentige Realität, traf ich mich auf Wunsch durchaus gerne an diesem Ort mit einem Hamburger, dessen erstes Buch zu lektorieren ich die Ehre hatte. Gastronomie, Musik, kuhle Männer und leidenschaftliche Balztänze spielten darin eine nicht unerhebliche Rolle, ihr Autor schien diese Spektakel vor allem Brasiliens außerordentlich gut zu kennen, was mich damals, als ich es noch nicht persönlich kennengelernt hatte, brennend interessierte. So lag es nahe, daß dieses Erzählbändchen, in dem der immer noch endlos lange und olivgrüne Cadillac allerdings nur einmal kurz vorfuhr, auch in einer Weltläufigkeit vermittelnden Bar bearbeitet werden mußte und nicht an einem drögen deutschen Schreibtisch. Nicht außeracht gelassen werden darf der Barbesitzer, der vor Eröffnung seines Etablissements an der Maximilianstraße bereits europaweit einige Harrys die Shaker hat vorfahren lassen, der dem mit ihm befreundeten, in der Welt herumirrenden Hamburger ein Namensschild in den Tresen einlassen ließ, auf daß auch er endlich eine Heimat finde. Zur Arbeit am Buch kamen wir allerdings eher selten, denn immer wenn du denkst, es geht noch mehr, kam von irgendwo ein andrer her, der von irgendwelchen Boxkämpfen zu berichten wußte, in denen Fäuste teilweise eingesetzt worden waren wie anderswo Damen und andere Pferdchen gegen Könige. Häufig gesellten sich sozusagen schlagartig weitere hochaktive Sportler hinzu. Fast ausnahmslos waren das Journalisten, die für heutzutage Magazine genannte illustrierte bunte Blätter tätig waren, aber auch später konsequenterweise als Boxtheoretiker berühmt werdende ehemalige Lyriker. Verbaler Ringrichter war meistens der Eigner des in der Folge, wie er selbst auch, extrem illuster werdenden Barbetriebes. Das hatte wohl seine Ursache darin, daß der tatsächlich gekonnt die Fäuste schwingen konnte, wenn er das auch weniger im abendlichen Kneipenrummel tat, sondern tagsüber in einem Hinterhof, wo früher die Fitneßstudios nunmal ein bescheideneres Dasein fristeten als heutzutage. Was ich beim Zuhören dieser teilweise leidenschaftlich geführten Gedankenaustäusche zumindest lernte: Wer sich als Mann nichts fürs Boxen interessiert, ist kein Mann. Nun gut, ich spielte bereits als kleiner Junge lieber mit Puppen.

Aber wie das eben so ist beim Erinnern — mit einem Mal landet man in vorchristlicher Zeitrechnung, quasi in der Steinzeit. In noch jüngeren Jahren, ich hatte gerade meine in der Kindheit verordnete sportliche Karriere und auch die als Ehegatte beendet, geriet ich in eine andere Gesellschaft, die, je nach Auffassung von ihr, auch schonmal schlechte genannt wird. Ein Kommilitone erweckte meine besondere Aufmerksamkeit. Ich war mir seinerzeit nicht sicher, ob die Ursache dessen zurückhaltende, nachgerade feine Lebensart war, die seine Belesenheit zu krönen schien, oder die Massen an Barschaft, über die er verfügte und die er, so ohne weiteres läßt sich Heimito von Doderer dann doch nicht abstreifen, gerne gerollt in den Taschen seiner Flanellhosen trug. Der Arbeitersohn aus Wien protzte zwar nicht damit, wie das aus ihren Katakomben gekrochene Kapitalisierer der ehemaligen Sowjetunion mit ihren dubiosen Erträgen gerne tun. Aber ein gewisses Vermögen schien auch außerhalb der Hosentaschen unübersehbar, ob das die dezent rassige Automobilisierung oder die feinen Tücher und Leder waren, die er am liebsten in Florenz einkaufte, wo er auch am liebsten aß. Begleitet wurde er dabei ausnahmslos von seiner Gefährtin, je nach Perspektive haupt- oder nebenberuflich Studentin der Geisteswissenschaften wie er, die in heimatlichen Gefilden stunden- oder tageweise für monetären Nachschub sorgte. Man würde das, vertraute er mir in einer stillen Stunde an, solange betreiben, bis man genug habe und sich in einer nicht übermäßig prahlerischen Renaissancekate auf das dann autarke wissenschaftliche Gewerbe in aller Ruhe aus dem anderen zurückziehen und auf das Er- und Verfassen historischer Werke konzentrieren könne.

Was nicht unterbleiben konnte, waren Begegnungen mit anderen Gewerbetreibenden, die sich des öfteren auch außerhalb von Boxringen blaue Augen oder geknickte Nasen zufügten. Ein Mindestmaß an Anpassung war erforderlich, wollte man sich nicht allzusehr als Außenseiter zu erkennen geben, was die Stimmung hätte verschlechtern und Geschäftsnachteile wie die oben genannten bewirken können. Und ich durfte hin und wieder dabei sein. Für solche Ereignisse wurde auch ich demgemäß ausstaffiert, ich trug quasi uniformartig gleich ihm Tuch und Leder, deren Schlichtheit man das Hochpreisige ansah. Da er gerne auf meine Anwesenheit wert legte, war ihm das entsprechend etwas wert. Ich hatte mich seinerzeit längst von den Kostümierungen meiner späten Jugend gelöst und nach dem Ausbleiben elterlicher Zuwendung ohnehin nicht mehr das erforderliche Geld. So befand ich mich vorübergehend mitten drinnen in der Prostitution. Ich tauschte geldwerte Naturalien gegen die Dienstleistung eines unterhaltenden verbalen Wachschutzes.

Es war die Zeit, von der ich bis heute nicht weiß, wie ich sie überstanden habe. Fast jede Nacht bis früh um fünf direkt neben Otto Schilys Kanzlei Rock'n'Roll tanzen auf Beethovens Freude an den Götterfunken unter der Energiezufuhr von mit englischer Limonade schluckbar gemachtem Wodka, das sind Leistungen, wie ich sie mir heute kaum mehr vorstellen kann. Aber es wirkte recht gut. Da mußte ich mich auch nicht so anstrengen beim Weghören, wenn die feine halbseidene Gesellschaft über die hehre Kunst des gegenseitigen Verprügelns schwadronierte. Und es gab ja noch ein paar weitere Hilfsmittelchen. Von der wissensvermehrenden Langzeitwirkung hatte ich Abstand genommen, da meine Iche und deren Körper eher abweisend auf den Stoff Lysergsäurediethylamid reagierten. Doch von anderen Anschubpräparaten machte ich durchaus Gebrauch. Dabei hatte ich einmal das Glück, daß ein recht großvolumig Geratener davon Abstand nahm, mich auf mein Maß zurückzustutzen, als ich der Illusion unterlegen war, ihn zu tiefnächtlicher Stunde anspringen zu müssen und ihn erlegen zu wollen wie Winnetou einen Grizzly. Dazu beigetragen hatten ein paar mit Alkoholika hinuntergespülte Tablettchen mit dem Namen Dicodit oder so ähnlich, die mir einer der halbseidenen Freunde verabreicht hatte. Das hätte durchaus heftiger ausgehen können als die Prise Schnee, die man mich eines Nachts nach dem soundsovielten Wodka einzuatmen verführte. Aber der Verführer war auch niemand aus der Halbwelt, der mich als Boxer erleben wollte, sondern ein Kreativer mit seinerzeit etwas anders anmutenden Bildvorstellungen, der mich im anschließenden Tischtennisspiel vernichtend schlagen und sich aus meinem Dilemma vermutlich Anregungen holen wollte.

Nun ist mir meine Anmoderation mal wieder etwas lang geraten. Alleine beim Gedanken an Sport scheint sich bei mir eine gewisse Disziplinlosigkeit einzuschleichen. Denn eigentlich wollte ich lediglich auf einen Begriff hinweisen, der mir in nächtlicher Stunde aus dem Fernseher entgegenschallte und von dem mir ein fortgeschrittener Konsument berichtet hatte und der mit einem Mal aus der Erinnerung aufgetaucht war: Pervitin. Wahrscheinlich bin ich mal wieder der letzte, der davon erfährt:

Schlaflos im Krieg — Die pharmazeutische Waffe
1937 entdeckt der Berliner Chemiker Fritz Hauschild ein besonders effektives Amphetamin: das Methylamphetamin, das noch im selben Jahr unter dem Namen Pervitin auf den Markt kam. Das Mittel führte zum einen zur Beseitigung des Schlafbedürfnisses und zum anderen zu einer Steigerung des Selbstbewußtseins sowie der Risikobereitschaft. Schnell wurden Militärärzte auf das neue Mittel aufmerksam. Die Dokumentation deckt eines der größten Tabus der deutschen Militärgeschichte auf: die Rolle leistungsfördernder Arzneimittel von der NS-Zeit bis in die Gegenwart. «Auch die USA», lese ich in der Nebelmaschine, «verwenden Drogen im Afghanistan und Irakkrieg.» Pervitin sei heute bekannt als Crystal Meth.

Dieser Grabstein scheint im gegen mich selbst geführten Krieg gerade noch über mich hinweggeflogen zu sein. Über die Gnade früher oder später Geburt oder eventuelle andere Ursachen sinniere ich noch.
 
Do, 14.07.2011 |  link | (3924) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ertuechtigungen



 

Ausgelaugt

Meine hochgeehrtesten Herren und Sehr werthen Freunde,
Endlich bin ich im Stande Ihnen auch den Rest des 8. Theil von Shakespear zu übersenden. Ich wünsche Ihnen und mir selbst zu dem erreichten Zeil dieser weitläufigen Unternehmung Glück. Ich habe dabey geleistet, was (zumal in den Umständen worinn ich war, noch bin, und so lange ich leben werde, ohne Freunde, ohne einen Ratgeber, ohne einen Aristarch) möglich war. Ich schaudre selbst, wenn ich zurücksehe und daran denke daß ich den Shakespear zu übersetzen gewaget habe. Wenige können sich die Mühe, die Anstrengung, die oft zur Verzweiflung und zu manchem Fluch, (der doch die Pferde nicht besser ziehen macht) treibende Schwierigkeiten dieser Arbeit vorstellen. Ich sehe die Unvollkommenheit dessen was ich gethan habe; aber ich weiß es, daß Richter von ebensoviel Billigkeit als Einsicht mit mir zufrieden sind. Genug, diese Herculische Arbeit ist nun gethan, und, bey allen Göttinnen des Parnasses! ich würde sie gewiß nicht anfangen, wenn sie erst gethan werden sollte. Indessen hab` ich doch sie nicht schließen wollen, ohne ein paar Wörtchen mit den Berliner Kunstrichtern zu sprechen, welche ebenso boßhaft als dumm über unsere Uebersetzung geurtheilt haben. Ich hoffe das Publikum soll nun mit mir zufrieden seyn; denn von Lessingen und seinen Freunden hab` ich doch weder Gnade noch Gerechtigkeit zu erwarten.

Ich habe die Ehre, Meine Herren und Freunde, mich Ihnen zu empfehlen und mit alter unveränderlicher Hochachtung zu seyn
Dero ergebenster Diener

Biberach, den 8. May 1766 Wieland

Christoph Martin Wieland, Brief an seine Verleger Orell, Gessner & Cie. in Zürich; in: Das Buch Deutscher Briefe, Insel-Verlag Zweigstelle Wiesbaden 1957, S. 135 – 136

«Als Wieland den Versuch wagte, die Dramen des genialen englischen Stückeschreibers erstmals ins Deutsche zu bringen, prophezeiten ihm die Literaten der Zeit ein sicheres Scheitern: Shakespeare sei nicht zu übersetzen! Wieland ließ sich nicht beirren, übersetzte in vier Jahren 22 Stücke und löste eine beispiellose Welle der Shakespeare-Begeisterung aus. [...]» Weiter im Perlentaucher.

Die Menschen amüsieren

 
Fr, 08.07.2011 |  link | (1526) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Fundsachen



 







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