Mehr- oder Minderheitenprogramme Nicht so in die breite Masse Gehendes hat bei mir einen seit jungen Jahren festgefügten Vertrauensvorschuß. Wer meine tagebuchähnlichen, zweifellos ohnehin eher nach innen gerichteten, deshalb wohl im Getöse der Chöre eines Gotthilf Fischer oder anderer völkisch-vaterländisch gewandeten Gesangsbewegungen wie den estnischen immerfort im internetten Hyde-Park als dünnes Baritönchen kaum noch wahrgenommenen Verlautbarungen etwas regelmäßiger verfolgt, kennt meine Abneigungen gegen breitensportliche Veranstaltungen. Ich empfinde am Rand der Zechenvororte maulwurfshügelumdribbelnde Ruhrpott-Rastellis als weitaus unterhaltsamer denn sich gen auf Schalke zusammenrottende Heerscharen. Die sich aus der Improvisation ergebende Zertrümmerung eines edlen Sponsorenflügels im musikalischen Keller eines Museums oder die von unseren Familienbarden in der guten Stube vorgetragenen leicht schmuddeligen Balladen entzücken mich eher, als das das bislang einzige von mir erlebte Rockkonzert im Köln der Achtziger, bei dem die berüchtigten rollenden Steine die hochhaushohen Verstärker zum Ertösen brachten und die abmarschierenden Massen zum postkonzertanten Pöbeln. So etwas wie Wacken schaue ich mir lieber als Dokumentation innerhalb sogenannter Einschaltprogramme an, Dabeisein ist eben nicht alles, nachvollziehen konnte ich das ohnehin nie, weshalb ich bei seiner Einzigartigkeit beließ. Diese Radio- und Fernsehprogramme mit Tendenz zu spätnächtlichen Filmen über die kulturellen Inhaltsstoffe des innermongolischen Buttertees haben überdies den Vorteil, nicht von an Werbebannern grell aufblitzenden Desinformationen durch Konzerne überblendet zu werden. Solch ein Minderheitenkanal machte mich vor ein paar Tagen auf einen Aspekt gesellschaftlicher Repressalien aufmerksam, dessen teilweise absonderliche Summe mir zwar im wesentlichen bekannt war, im Detail allerdings erstmals zumindest eine Teilantwort auf die Frage lieferte, weshalb Meldungen wie die über den Auftritt eines bayerischen Katholiken im spanischen Madrid vor gerademal hunderttausend glücksseligen Jugendlichen permanent wiederholt und auch zwischendrin noch als laufende Botschaft des Bildschirmunterrandes verkündet werden. In dieser Sendung thematisierte Pietro Scanzano zwar hauptsächlich Die teure Trennung von Staat und Kirche, doch zwangsläufig konnte dabei nicht unerwähnt bleiben, daß bei, je nach Perspektive, zunehmender oder abnehmender Tendenz rund ein Drittel der deutschen Bevölkerung keiner Kirche angehört und gar sechzig Prozent nicht an deren Ritualen teilnehmen. Dennoch werden alltäglich und im besonderen an Sonntagen öffentlich-rechtlich aus allen verfügbaren Senderohren Verkündigungsrituale abgefeuert. Der Autor führt es auf die Ängste der Politiker zurück, diese wohl allzu fundamentale Thematik anzugehen, obwohl «zahlreiche Gesetze, die Privilegien und Förderungen zugunsten der Kirchen enthalten», die «nach Meinung von kritischen Religionsverfassungsrechtlern mit dem Geist des Grundgesetzes nicht vereinbar» sind. So legen innerhalb der sich in letzter Zeit häufenden Ministervereidigungen mittlerweile wieder alle eine Hand auf ein sogenanntes Buch der Bücher und heben die andere hoch zum mir nur schwierig zu vermittelnden Gruß an einen Himmelsführer, verbunden mit dem geäußerten Glauben, er werde ihnen schon irgendwie helfen bei der Wahrheit. Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings eine parallele Entwicklung neuer, sektenartiger Gemeinschaften mit gleichermaßen dem Glauben gewidmeten Charakter. Es handelt sich dabei um jene, die im Zug nicht ganz glaubwürdiger Sakrilegierungen von einst himmlisch güldenen Kathedralen in irdisch glasstählerne Paläste von denen haben errichten lassen, über die der Dichter mal fragend lyrisierte, ob es letztlich nicht sie waren, die für hundsmiserable Löhne eigentlich gearbeitet hätten. Auch von deren Botschaften werden wir, denen wir ebenso mit Skepsis gegenüberstehen, alltäglich und von früh bis abends zugedichtet. Dabei stellt sich nicht einmal die marginale Frage nach Zu- oder Abnahme von Mitgliederzahlen solcher Gemeinden, denn die dürften konstant gering sein. Wie bei den zur Zeit zwischen Wert, Wirklichkeit und Wahrheit schwankenden Börsendaten werden mal zehn, mal zwanzig Prozent der Bevölkerung notiert, denen deren Gesamtvermögen gehöre. Dennoch nehmen, gleich den sonntäglichen Gottesdiensten sowie den alltäglichen Glaubenmitteilungen auf sämtlichen Kanälen, die Heils- oder Unheilsverkündigungen einen überproportialen öffentlich-rechtlichen Senderaum ein. So stellt sich zumindest mir die Frage, ob bei dieser vor etwa fünfzehn Jahren von einem Tatort-Kommissar propagierten Maßnahme der Umwandlung des Volkswagens zur Volksaktie eingeführten Programmgestaltung im Zug des Gesinnungswandels letztendlich nicht eine neue Volksreligion eingeführt werden soll, von denen die wenigsten profitieren, aber alle daran glauben. Möge ihnen der da oben bei ihrer Wahrheitsfindung helfen. Aber unter Minderheitenprogramm verstehe ich etwas anderes.
Wahrheit und Wirklichkeit, Synonyme für falsch und richtig? Erinnert sich noch jemand an Konrad Kujau? Nein, das war und ist kein Pseudonym oder in internettem Neudeutsch ein Nickname. Um eine Falschmeldung handelt es sich auch nicht. Aber mit Falschheit hat es eine Menge zu tun. Wobei allerdings zunächst einmal geklärt werden müßte, was das wiederum bedeutet. Wäre die Gegenposition Richtheit? Das klingt wiederum eher nach einem technischen Meßwert. Dabei sind Maß und Wert in der Kultur gar nicht einmal so weit entfernt von der Moral, die dabei in der Regel praktiziert wird: gut und böse, falsch und richtig. Alles andere entspricht nicht der Norm, die dem Menschen an sich das Wohnzimmersofa oder die Abenteuer verheisende Klettersteilwand in der aufgelassenen Zeche oder der sinnentleerten Kirche gleichermaßen Sicherheit bieten. «Die Wahrheit», so erklärte es mir mal ein Kunsthistoriker, der aus der Präzisionsfestung Mathematik und Physik auf dieses glücklich machende Eiland ohne festgemauerte Urteilswälle geflüchtet war, «ist immer die Erfindung eines Lügners.» Konrad Kujau war einer, der einsitzen mußte, weil er nach Meinung der Behörde für Echtheitsnorm zu lax mit der Wirklichkeit umging. Die sogenannte Realität war in der Illustrierten Stern abgedruckt, damals so eine Art liberales Bild(ungs)blatt für Intellektualisierungswillige des dritten Volkshochschulweges, und ihretwegen stand ein Land Kopf, weil es wohl in weiten Teilen meinte, endlich wieder zur Wahrheit zurückgekehrt zu sein. Die Sehnsucht nach starker politischer Führung und deren Wertemaßstab schien nämlich ungebrochen. Hinzu war der Wert Geld gekommen, der sich gerade aufmachte, sich wieder über alles zu schwingen. Man schrieb die achtziger Jahre. Mein Haus, mein Auto, mein Boot befand sich in dem Maß im Aufschwung, in dem die wahre Kunst von dem Sportgerät runtergekracht war, an dem sie eine Zeitlang Klimmzüge gemacht hatte, um ihre Werte zu demonstrieren. Aber das waren ohnehin Übungen gewesen, die von einer Allgemeinheit nicht unbedingt als ästhetisch wahrgenommen wurden, die unverbrüchlich in der Schule lernt, daß das Ästhetische als solches schön zu sein hat, nach jener Gesellschaftslehre, die sich auch in der technischen Hochmoderne nicht vom Idealbild des 19. Jahrhundert verabschieden wollte, das die Schönheit der Einfachheit halber der Einfaltigkeit überließ. Geht es jedoch ums Geld, handelt eben dieser sich im Geist des Genormten eigentlich sicherer und damit wohler fühlende Bürger häufig völlig entgegengesetzt dessen, was er als Vernunft zu verstehen gelernt hat. Der oben erwähnte kunsthistorische Robinson, dessen Freitag ich eine Zeitlang gerne war, definierte mir gegenüber diesen Inbegriff der gesellschaftlichen Mitte einmal lebensnah: «Das durch Eliten Verordnete bleibt immer eine Herausforderung an diejenigen, die sich danach richten müssen. Um diese augenfällige Kluft semantisch etwas zu mildern, gibt es seit der Französischen Revolution einen politischen Begriffswechsel, der aus dem Untertan den Bürger erfindet und damit zunächst den aufgeklärten, nichtaristokratischen Städter meint. Aber auch diese Beschönigung von Ohnmacht konnte — wie wir wissen — das implantierte Mißtrauen zwischen Oben und Unten nicht ausräumen.» Diesem in der Aufklärung unruhig Schlafwandelnden also geht hin und wieder ein Licht auf, das seine Glückvorstellung quadriert. Zum Haus, zum Boot und zum Automobil erscheint ihm ein gänzlich unbekannter Stern. Er schlafwandelt sich zum Tanz hinauf auf ein in den Himmel gespanntes Seil, das im völligen Dunkel irgendwo in der Nacht hängt und zudem weitab entfernt ist vom untergespannten Netz der Mündelsicherheit seiner Bundesanleihen und Schatzbriefe. Seine Erfahrung mit Glücksspiel beschränkt sich in der Regel auf ein sporadisches Münzbestücken der Automaten, die neben dem Wochenendstammtisch seines Outdoor und Wander e. V. an der Wand hängen wie Naturnachbildungen, aus denen er sein Kunstverständnis bezieht. Sammeln täte er nämlich jetzt, erwähnte der mich beratende und über Geldwertigkeit des scheinbar Immateriellen promovierte Steuerfachanwalt, der ausnahmsweise einmal Rat suchte bei mir, von dem er wußte, daß ich primär mit dem beschäftigt bin, das sich so genau nicht festlegen läßt. Ein Kunstwerk habe man ihm angeboten, das sei so günstig im Preis gewesen, da habe er unbedingt zuschlagen müssen. Einen Janssen habe er sich gekauft, und was läge näher für ihn als, hehe, hamburgischer Pfeffersack, sich eine dieser wunderschönen Nachbildungen von Natur zuzulegen, die sogar, wovon er sich kürzlich überzeugt habe, in der hiesigen Kunsthalle ausgestellt seien. Seit einiger Zeit schon habe er Überlegungen angestellt, sich diesem seit längerem bestehenden Trend anzuschließen, nach dem in diesen Geschäftsbereichen mittlerweile soviel Geld verdient würde wie auf den Flohmärkten mit Zahngold. Wohin das geführt habe, sei ja hinlänglich bekannt. Besonders beeindruckt habe ihn die Meldung, daß die kriminelle Energie des Kunstdiebstahls in Museen längst in die Gewinne mit anderen Drogen hineinreiche. Das seien schließlich Werte, mit denen man endlich etwas anfangen könne: die Aktie an der Wand. Zugestandenermaßen läge sein Versuch als Aktionär bereits eine Weile zurück und sei auch nicht sonderlich erfolgreich gewesen seinerzeit, als dieser Schauspieler die Papiere dieses großen deutschen Telephonkonzerns angepriesen habe. Aber der sei schließlich aus der kommunistischen Ostzone gekommen, wo man ja erwiesenermaßen nicht mit Geld umzugehen gelernt habe, was schließlich in die Insolvenz führte. Nun aber sei er fest entschlossen, an den Vertrauen erweckenden Gewinnen des Kunstmarktes zu partizipieren. Seinen gerade reifegeprüften Sohn habe er auch schon inspiriert. Der habe, ganz der, hehe, von Haushaltsdisziplin geprägte Vater, vom ersparten Taschengeld für dreihundert Euro übers Internet ein von einem Maler namens Richter signiertes Ausstellungsplakat erstanden. Dieser auch noch lebende Künstler soll ja nach Auskunft seiner seriösen Tageszeitung Hamburger Abendblatt derjenige sein, der weltweit auf Auktionen und in Galerien die höchsten Preise erziele. Das sage schließlich alles über dessen Wert aus. Und sicherlich könne ich ihm nicht nur darüber etwas mehr über seinen Erwerb, sondern auch über den seines Sprößlings sagen. Der Meister selbst äußerte sich dazu Anfang der Achtziger, als die Artistik dabei war, sich endgültig aufs Drahtseil der materiellen Bewertung zu begeben: «Ah — ihr Leutchen denkt, 'ne Zeichnung zum Beispiel sei Luxus? Das ist ein Pelzmantel auch. Ich würde mir schon zutrauen, Echt-Krokodil von I. G. Farben der Frau Feudel anzudrehen. Äh, äh — die Banausen, die hier in Rede stehen, WISSEN nämlich in Wahrheit, daß unter meiner Flagge derzeit mehr Fälschungen als Zeichnungen von meiner Pfote in Umlauf sind. Und solche sind gut zu erkennen: Sie sind in der Regel doppelt so groß wie die Originale. Für mich ist es eher komisch als ärgerlich, denn der Verkauf von Zeichnungen ist mein Geringstes, zumal ich gut + gern die Hälfte verschenke. Und wovon ich lebe, geht Euch Leutchen einen Pfiff an.Auszug aus: Kurzschrift 3.2000, S. 23–28; mit Dank an Lamme Janssen für die freundliche Genehmigung; Erstdruck in: Konkret, Heft 8, August 1982, Seiten 68–71 Auch Joseph Beuys hat gerne viel verschenkt oder zumindest preiswert, um den nach Unwert klingenden Begriff billig zu vermeiden, abgegeben; ein guter Bekannter von mir, der die Zeichnungen dieses Kunstumwerters tatsächlich überaus schätzte, kam deshalb zu einem dicken Beuys-Paket. Der niederrheinische Streiter gegen die Kunstmarktkunst wollte die ohne Markt, nicht nur seine, unter die Menschen bringen. Deshalb schuf er auch Arbeiten, die in relativ hoher Auflage oder gar ohne Begrenzung unter die Menschheit sollten, beispielsweise eine Holzbox, die der Remscheider Vice-Verlag grob geschätzt drei bis fünf Dutzend mal für jeweils um die fünfzig Mark verkaufte. Kaum war der alte Hase in die ewigen Kunstgründe verabschiedet worden, schaffte es ein wertbewußter Eigentümer eines dieser Holzkästchen, selbiges in einer überseeischen Aukion im Erfinderland von Alles ist machbar zu plazieren und über sechzigtausend Mark dafür zu kassieren. Aber darum geht es schließlich gar nicht. Es geht um falsch oder richtig, also, ob solch eine Aktie an der Wand auch den Geldwert hat, den beispielsweise ein Steuerberater auf Abwegen dafür bezahlt hat. Das mit Janssen ist bereits ein Weilchen her. Aber vor nicht allzu langer Zeit hat es nicht nur eines der renommiertesten Kunsthäuser fast unter Tage gebracht, dem eine ganze «Sammlung» anvertraut worden war, sondern gleich noch einen der gewichtigsten Fachleute, die die globaleuropäische Montanunion der bildenden Moderne hervorgebracht hat, gewaltig in die Bredouille. Wie bei den oben erwähnten Diebstählen aus Museen war auch hierbei von hoher «krimineller Energie» zu lesen, zum Beispiel in Die Zeit vom 22. Dezember 2010. Ich werde also meinem Berater nicht beratend zur Seite stehen können, da mich Bewertungen dieser Art überfordern. Ich ziehe mich deshalb als Freitag diskret hinter meinen oben bereits zitierten Herrn Robinson zurück, der sich auf der Insel eines Klosters anläßlich einer Vortragsreihe mit einigen abgeschiedenen Gedanken zu Wort gemeldet hat. «Die Medien bedienen die Ebene eines Verschiebebahnhofes von Wirklichkeiten und koppeln an ihre Bilder die scheinbar mittransportierbare Wahrheit und Echtheit. Das ist nicht nur eine Verfälschung der Wirklichkeit in ihrer medialen Transportebene, das ist Fälschung an den Quellen der Wirklichkeit selbst.Thema war, wie könnte es anders sein, eine Ausstellung zu Von Dürer bis Dali. Meisterwerke aus der Fälscherwerkstatt Konrad Kujau.
Von Mauern, Gräben, Grenzwällen und Kriegen In einem seiner früheren Leben, einem recht frühen, einem, das noch von nomadiger Kindheit gesäugt wurde und daraus eine Jugend nährte, die sich mannhaft oder auch erwachsen äußerte, wäre er beinahe mal in den Krieg gezogen. Zu Mannhaftigkeit und Erwachsensein gehörte zur Zeit seiner jungen Jahre auch, zu heiraten und Verantwortung zu übernehmen. Beides tat er, vom Alter her gesetzlich zwar befugt, aber in geistiger Entwicklung doch noch näher an jugendlichen Idealbildern von Heldenhaftigkeit. Erst trat er in den Stand der Ehe, erzählte seiner zum Zeitpunkt der Heirat noch nicht volljährigen Gattin viel von einer ihm den Rücken stärkenden großen Familie in der Levante und philosophierte über deren Erweiterung durch sie beide. Der Backfisch hörte das romantische Abenteuer heraus, in das seinerzeit viele junge Menschen sich zu stürzen bereit waren, da zumindest ein politisch veredelter Abzweig des Kommunismus noch nicht wie heutzutage als ein Irrtum eigentlich rein kapitalistisch zu schreibender Geschichte erachtet wurde. Selbst Angehörige fremder Religionen wurden, teilweise wohl auch aus einem Wiedergut-machungsgedanken heraus, Mitglieder überwiegend landwirtschaftlicher Kollektive im brennend heißen Wüstensand, den sie dort zu begrünen, also zu kultivieren mithelfen wollten. Beim Gros dieser Feldarbeiter war der Aufenthalt jeweils vorübergehend, dem jungen Ehepaar aber sollte sein über direkte mütterliche Abkunft verankertes Siedlungsrecht religiösen Ursprungs auf ewig an eine Stadt dieses Landes binden, in das, als es als Staat noch nicht existierte, bereits viele Menschen aus aller Welt zusammengezogen waren, um endlich in jener Heimat anzukommen, die über eine Schriftenrolle festgehalten und später als historisch bezeichnet worden war. Die Immigration war so gut wie geregelt, aber quasi auf dem noch virtuellen Weg und vor Reisebeginn durch das Mittelmeer fingen sozusagen im Vorhof zu Scylla und Charybdis die Sirenen an zu singen. Sie bewirkten ein Innehalten vor diesem von Wagnis gezeichneten Weg, und so hatte der alte Homer ihn davor bewahrt, in eine Odyssée zu geraten, die ihn nicht in sein gemütliches Ithaka, sondern womöglich auf den Friedhof eines schlimmeren Schlachtfeldes als Troja geführt hätte. Sein heldenhaftes Vorwärtsstreben hatte einen ersten in ihm selbst gewachsenen vernunftbestimmten Aussetzer, die Einwanderung war so gestoppt worden, und er mußte nicht in diesen Krieg ziehen, der bekannt wurde als einer, der sechs Tage dauern sollte und dem weitere folgen würden. Ob es an dieser Absage durch ihn lag, das ist bis heute, einiges über vierzig Jahre danach, nicht wirklich geklärt, aber relativ kurz nach diesem einsamen Beschluß, nicht in den Krieg und dessen angrenzenden Gebiete zu ziehen, war die Ehe gescheitert, zunächst die Trennung von Tisch und Bett vollzogen, so nannte man das damals, die gerichtliche sollte sehr viel später erfolgen. Es belastete ihn nicht übermäßig, zumal er es war, der anschließender Unmöglichkeit weiteren Ehevollzugs denselben böswillig interruptiert hatte. Überhaupt hatte diese Zäsur in seinem Leben ihn in ein neues geführt. Es sollte ein gänzlich eigenes sein, unbelastet von allen Belastungen, die familiare Bindungen häufig mit sich bringen, wenn sie von traditioneller hierarchischer, sozusagen vorbildlicher Prägung sind. Niemand sollte mehr darüber bestimmen, an was oder an wem er sich zu orientieren habe, seine geographische Zielrichtung war eine eher okzidentale geworden. Alle ihm blutsverwandtschaftlich injizierten Werte wurden geprüft und in weitesten Teilen für die Zukunft verworfen. Sämtliche Brücken in die familiare Vergangenheit wurden gesprengt, spätere, mehr oder minder zufällige Begegnungen bestätigten ihm die Richtigkeit seiner Abrißarbeiten (Ungleiche Brüder). In seiner Welt entstanden zuvor nie gesehene Bilder, die ihm eine Kindheit und Jugend lang vermittelte Farbenlehre verlor ihre Gültigkeit, alle einst reinen dualistischen Nichtfarben nahmen in seinem Kopf die Gestalt einer Spektralpalette an, die ihm vorher allenfalls durch den erzieherisch etwas aus dem Abseits, aus der rechtsfreien Zone der Unehelichkeit wirkenden Vater angedeutet worden war. Fernseh- und damit Freizeitphilosophen vulgärkommunistischer retrospektiver Prägung nennen das gerne ein Kessel Buntes. Für ihn bedeuteten es erste intensivere eigene Gedanken zu einer Vielfalt, die er während seiner vorherigen unfreiwilligen Wanderjahre zwar kennengelernt, über die er zuvor jedoch noch nie nachgedacht hatte. Als Multi-Kulti hat sie sich umgangssprachlich verbreitet, als Interkulturalität taucht sie in Versuchen auf, eine seit Jahrhunderten gewachsene Realität zu beschreiben und zu begründen. Häufig geschieht das zum mehr oder minder erregten Mißfallen von Ideologen oder auch Dogmatikern, die im Beibehalten oder neuerlichen Ziehen von Grenzen die alleinige kulturelle Rettung der Welt sehen. Die tiefsten Gräben scheinen dort immer wieder aufs neue geschaffen zu werden, wo die verbreitetsten Religionen offenbar so unversöhnlich gegenüberstehen wie beispielsweise am Rand des Landes, dessen Einwohner aus den entlegensten Winkeln der Erde kommen. Bei einem seiner letzten Besuche in Nahost begegnete er einem renommierten Künstler, der die vereinigten Staaten, in die er als Kind umgezogen worden und in deren Kultur er aufgewachsen war, verlassen hatte, um fortan nahe der Grenze die andere, die Mischkultur in seinem Mutterland zu leben. Das sollte sein Beitrag zum Frieden, sein Versuch sein, auch religiöse Grenzen zu überwinden. Denn seit langem betete er, wie noch zu Zeiten seiner Kindheit und Jugend, keinen Gott mehr an. Ein solcher existierte nicht mehr für ihn. Aber er war von einem kulturellen Umfeld geprägt worden, das auf Religion gründete. Dem konnte und wollte er sich nicht entziehen. Doch ebenso wollte er Mauern niederreißen und Gräben zuschütten, auf daß die Kulturen nicht nur besser aufeinander zugehen, sondern sich auch vermischen konnten, zumal er wußte, daß es auch auf der anderen Seite der Grenze Menschen gab, die den ihnen in jungen Jahren verordneten oder auch befohlenen Gott nicht mehr anzubeten bereit waren, zumal sie alle wußten, daß alle Kulturen sich früher schon einmal miteinander vermischt und zu Einheiten geworden waren. Fortan nannte der Künstler sich Kulturjude und seinen Freund von der anderen Seite der Gräben und der Mauern Kulturmuslim. Manchmal erhalten sie Besuch von Kulturchristen und anderen Kulturnichtgottsuchern, die ebenfalls gegen diese in Europa und den USA neu errichteten sowie in Asien fast schon althergebrachten politischen Grenzwälle und Bollwerke gegen das Fremde sind. Und wenn sie nicht gestorben werden, dann leben sie noch morgen.
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