Ungleiche Brüder

Viele Jahre hatten sie sich nicht gesehen. Im Zuge der Sprengung sämtlicher Brücken verwandtschaftlicher Art war auch sein Bruder unter diese revoiutionsartige Maßnahme gefallen. Zur Erlangung seiner Freiheit hatte er, wie andere Statuen einer rückblickenden Kultur, die einen Neuanfang unmöglich machten, alles in die Vergangenheit gerichtete vernichtet, selbst das, was ihm ihm früher einmal nahe war. Sein Bruder gehörte nicht unbedingt dazu, war der doch bei Menschen aufgewachsen, die zwar mit ihm verwandt, ihm aber immer fremd gewesen waren in ihrer kleinbürgerlichen Idylle. Zwar hatten sie einander hin und wieder besucht, doch meist war er es, der die große Entfernung auch der Strecke überwand. Der Bruder bewegte sich ungern über die Grenzen seiner kleinen Welt hinaus, fuhr zwar täglich mehrere hundert Kilometer, das jedoch in seinem Taxi, das er sich vor einiger Zeit zugelegt hatte, um seiner ungeliebten Tätigkeit als Disponent einer Spedition zu entfliehen. Die weitesten Entfernungen, die er bewältigt hatte, waren einmal die einer Fahrt nach Orly, der Kunde hatte den Zug verpaßt, und zum anderen der Besuch bei ihm in Kopenhagen, dieser ihm unangenehmen Stadt, die seine Sprache und seine Eßgewohnheiten nicht verstanden hatte, weshalb er nach zwei Tagen die gut tausend Kilometer in einem Stück wieder zurückgeeilt war. Eine weitere Reise hatten sie einmal gemeinsam unternommen. Nach einer fröhlichen Nacht im Kreis der Kollegen, in dem er von seinem Bruder immer stolzgeschwellt als der Studierte präsentiert worden war, obwohl er sich nach mehrmaligem Wechsel des Fachs und des Ortes eigentlich in den Anfängen seines Studiums befand, hatte einer von ihnen von einem Skiurlaub in den Alpen erzählt. Das brachte sie auf die seltsame Idee, mitten in der Nacht in Richtung Grenoble aufzubrechen. In einem verschneiten Städtchen dörflichen Charakters nahmen sie Café und Baguette mit Butter zu sich, gingen ein paar Schritte in die reizvolle Winterlandschaft. Eigentlich hatten sie noch vorgehabt, sich den Mont Blanc anzuschauen, von dem der Kollege geschwärmt hatte, das verhinderte jedoch die Müdigkeit. So traten sie nach dem kurzen Spaziergang, bei dem sie überdies extrem froren in ihrer der Festivität angepaßten Kleidung, die Heimreise an im für das Land, von Paris vielleicht abgesehen, exotischen dieselgetriebenen Mercedes, der ihm als die Krönung von Qualität galt.

Nun war er, obwohl er es sich selbst untersagt hatte, doch wieder in der Stadt. Jemand hatte auf seinem Anrufbeantworter die Nachricht hinterlassen, seine Mutter sei gestorben. Obwohl er sich seinerzeit fest vorgenommen hatte, solche Nachrichten zu ignorieren, war er doch hingefahren. Allerdings hatte er sein Kommen per Telefax angekündigt. Der ihm auch stimmlich unbekannte Anrufer hatte seinen Namen zwar nicht genannt, dafür aber das Pflegeheim, in dem die Mutter zuletzt gelebt habe. Dort angekommen, sagte ihm die zwar freundliche, ihm aber etwas zu modisch und überdreht wirkende leitende Ärztin, man könne nicht behaupten, seiner Mutter gehe es gut, aber tot sei sie keineswegs. Er klärte sie über das aufgekündigte Verhältnis auf. Dennoch folgte die Krankengeschichte mit dem Abschluß, die multiple Sklerose habe sie vor einiger Zeit in das Bett gelegt, in dem sie nach wie vor läge. Als er daraufhin endgültig aufbrechen wollte, meinte sie, wenn er die weite Entfernung schon bewältigt habe, werde er doch sicherlich auch einen kurzen Besuch noch schaffen, sie sei davon überzeugt, daß seine Mutter sich sehr freuen würde, ihn noch einmal zu sehen. Überzeugt war er zwar nicht, aber er ließ sich überreden. Die Ärztin bat ihn, sich noch ein wenig zu gedulden, denn ein wenig müsse sie ihre Patientin vorbereiten. Und sie selbst hätte mit Sicherheit auch das Bedürfnis, schließlich sei sie eine Dame. Als er nach einer Stunde an ihr Bett im Einzelzimmer mit Aussicht ins Grüne trat, erkannte sie ihn nicht. Nicht einmal am Geruch, hatte er sich doch dazu aufgerafft, sie zur Begrüßung wenigstens landesüblich zu küssen. Dennoch fragte sie ihn immer aufs neue, ob er wirklich ihr Sohn sei. Das alte Mißtrauen brach sich unweigerlich Bahn. Was sie nicht hinderte, ständig auszurufen, wie glücklich sie darüber sei, daß er es geschafft habe und dann auch noch Arzt geworden sei. Sein Briefkopf sowie die der Ärztin überreichte Visitenkarte enthielten seinen Doktortitel, bei dem jedoch das Kürzel rer. soc. fehlte, das den Hinweis auf den Soziologen hätte geben können, der er am Ende in Deutschland geworden war. Und einen Doktortitel führten hier im Land nur Ärzte. Zwar hatte er der leitenden Medizinerin den Sachverhalt mitgeteilt, doch die hatte es entweder weggelassen oder die Mutter hatte es nicht verstanden oder nicht wahrhaben wollen. Nach einer Stunde, die ihm die Richtigkeit seines damaligen Beschlusses bestätigte, dieses Verhältnis zu beenden, verließ er die gepflegte Pflegeklinik, allerdings nicht, ohne zuvor an der Pforte die schriftliche Bitte zu hinterlegen, ihm zukünftig keine Mitteilungen mehr zukommen zu lassen. Er würde ohnehin in Kürze nach British Columbia auswandern, wo er in seiner Holzfällerumgebung überdies so gut wie nicht erreichbar sei.

Da nun eine Notbrücke errichtet war, von der sich fragte, wer sie wohl in Auftrag gegeben haben könnte, beschloß er, wenigstens die Stiefschwester anzurufen. Seine Mutter hatte sie ihm angeheiratet, und trotz der anfänglichen Ablehnung seinerseits hatte sich damals ein gutes Verhältnis entwickelt. Rasch hatte er ihre Nummer herausgefunden, in Frankreich war das via Minitel ein leichtes. Sie lebte nicht allzu weit entfernt in Lorry-lès-Metz, was jedoch nicht von Bedeutung sein sollte, da er nicht vorhatte, sie zu besuchen. Aber die relative Nähe wollte er schon aus Kostengründen nutzen, denn die in Frankreich insgesamt um einiges billigeren Hotels schienen die Differenz beispielsweise zu den deutschen über die Telephongebühren wieder wettmachen zu wollen. Die Freude über den Anruf klang echt. Ein ausführliches Telephonat entspann sich, in dem ihm mehrfach versichert wurde, der Lieblingssohn seiner Mutter gewesen zu sein. Und nun sei ja alles wieder gut, nun sei er ja wieder da, nun könne die alte Familienbande ja wieder, nun gut, so zarte seien sie nicht gewesen, aber man müsse die Chance doch nutzen. Er legte auch hier die ausflüchtige Schwindelei von seiner bevorstehenden Auswanderung in unwirtliche und von der Außenwelt abgeschnittene Gebiete vor. Das wäre ein Grund mehr, einander zu sehen. Vor allem der Bruder würde ständig nach ihm fragen. Sie war von einer Insistenz, die ihn schließlich kleinbei geben und ihn versichern ließ, auch ihn zumindest anzurufen.

Spät war es geworden, es ging auf Mitternacht zu. Da er fest entschlossen war, am nächsten Tag abzureisen, beschloß er, auch dieses Soll noch zu erfüllen und seinen Bruder anzurufen. Die Telephonnummer hatte die Stiefschwester ihm gegeben. Auch er lebte außerhalb, aber Saint-Julien-lès-Metz lag direkt an der Stadtgrenze. Auch das schien ihm unerheblich, hatte er doch auch in diesem Fall keine Begegnung vor. Er selbst kannte lediglich das Zentrum der Stadt, wo die Mutter früher, neben dem Häuschen an der Seine-Mündung, ihre große Stadtwohnung hatte. Am anderen Ende der Leitung meldete sich mit jung klingender Stimme eine Frau, deren Französisch recht fremd klang. Doch sie verstand sofort, daß es sich bei dem Anrufer um den Bruder handelte, der gerne seinen Bruder gesprochen hätte. Das löste bei ihr ein lautes Entzücken aus sowie ebensolches Rufen nach dem Gemeinten. Er meinte dabei, durch die Telephonleitung ein fröhliches und erwartungsvolles, mädchenhaftes Gehüpfe zu sehen. Gut zehn Minuten dauerte es dennoch, bis der Adressat den Hörer übernahm. Ihn schien dieser Anruf allerdings nicht sonderlich zu beglücken, raunzte er doch etwas von Uhrzeit und Unverschämtheit, zu nachtschlafener Zeit anzurufen. Auch der Hinweis darauf, er spräche nach vielen Jahren zum erstenmal wieder mit seinem Bruder, hinterließ offensichtlich keinen nachhaltigen Eindruck. Wer nach hunderten von Jahren, so die Entgegnung, das Bedürfnis hätte, mit seinem Bruder zu telephonieren, der könne auch anrufen, wenn der ausgeschlafen habe. Im Hintergrund hörte er Geräusche, die nach in ein Glas gleitende Eiswürfel klangen, begleitet von heftigem, geradezu drängendem Gemurmel, das Mon Dieu, ton petit frère! Ton frangin! heißen konnte.

Das sowie möglicherweise das gereichte Getränk mußte ihn ein wenig beruhigt haben, denn das Gegrummel wurde sanftmütiger. Was ihn denn auf einmal in die Heimat befohlen hätte? Er schilderte den Grund und fragte, ob er am Ende gar der Auslöser des Anlasses gewesen sei. Die Antwort war zwar Entrüstung, aber er hatte den Eindruck, sie wäre nicht unbedingt von Aufrichtigkeit geprägt. Ein Geplängel folgte, daß er mit seiner Ankündigung der morgigen Abreise abschloß. Das wiederum löste etwas aus, das in der Wiederholung wie Protest klang und zur Folge hatte, mit einem Mal die Frau als Gesprächspartnerin zu haben, die in ihrem charmant zwitschernden, von asiatischem Akzent geprägten Französisch heftig auf ihn einredete und ihn davon zu überzeugen versuchte, doch unbedingt zu bleiben. Dann übernahm wieder der Bruder, der die Meinung seiner Ehefrau, die sich im Lauf des Gesprächs als solche herausgestellt hatte, mit etwas dürreren Worten unterstrich, bevor er den Hörer erschöpft wieder an sie übergab. Sie ließ nicht nach, versprach ihm den Himmel auf Erden, verbunden mit einem prachtvollen Mal ihrer thailändischen Heimat und einem ebensolchen Bett in einem gemütlichen Haus. Alles in ihm lehnte sich auf, zumal er insgesamt wieder auflebende familiare Verbindungen auf sich zukommen sah. Andererseits, fragte er sich, was würde es ausmachen, einen Tag länger zu bleiben. Zumal die Aussicht auf ein gutes thailändisches Essen bestand, in dessen Genuß er zweimal gekommen war, als er in Paris Freunde besucht hatte. So sagte er schließlich zu. Er würde ihn morgen früh abholen, rief der Bruder von der Seite in den Hörer. Mit dem Taxi, dem seinen. Einem Mercedes. Wie früher.

Über eine Fortsetzung wird nachgedacht.

Zweiter, dritter, vierter, fünfter, sechster, siebter Teil.

 
Di, 15.12.2009 |  link | (3527) | 8 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ungleiche Brueder


nnier   (15.12.09, 09:41)   (link)  
Zweierlei möchte ich Ihnen heute früh mitteilen: Erstens, dass ich das Wort "comment" unter Ihren Beiträgen manchmal in die falsche Sprache einordne, und zweitens, dass ich darauf heute mal wieder mit 'ervorragend antworten möchte. Der Satz "Er würde ohnehin in Kürze nach British Columbia auswandern, wo er in seiner Holzfällerumgebung überdies so gut wie nicht erreichbar sei" hat meine Laune überdies schlagartig gehoben.


jean stubenzweig   (15.12.09, 13:23)   (link)  
Vous dites ? Hein ? Hä?
So kurz nach dem Nickerchen ... Ah ! Jetzt. Der sächsische Genitiv an vorderster Front, er hat dann auch mich zum Sprachwechsel gebracht. Und Ihnen auch noch mit einem Satz zur guten Laune verholfen zu haben, das hebt mir den Tag. – Vielleicht schaffe ich das in der Fortsetzung ja nochmal.


nnier   (15.12.09, 13:37)   (link)  
Jetzt frage ich mich allerdings auch, ob ich das geträumt habe: Stand da, wo nun "Ihr Kommentar" steht, nicht immer "comment"?


jean stubenzweig   (15.12.09, 15:06)   (link)  
Ach Sie Träumer.
Ein Jahr ist es bestimmt her, daß ich mich (unter anderem mit Ihrer Computer- bzw. HTML-Hilfe) bemüht habe, hier alles gnadenlos einzudeutschen, weil mich beispielsweise das englische comment immer so verwirrt hat.


nnier   (15.12.09, 16:41)   (link)  
Ich wusste es selbst noch nicht. Aber ich bin offenbar ein Statuszeilenleser. Jetzt, wo ich bewusst darauf achte, wird es mir klar: Mein Firefox gibt in einer unauffälligen, grauen Statusleiste die Zieladresse eines jeden Links aus, den ich mit dem Mauszeiger überfahre. Und da steht es dann doch, das welsche Wort.


jean stubenzweig   (16.12.09, 00:14)   (link)  
Statuszeilenleser?
Sie kennen vielleicht Sachen. Und wenn ich mein Mäuslein sanft über Ihren Feuerfuchs streichen lasse, wird meiner deshalb keineswegs grau. Auch beginnt er nicht, sich welsch zu äußern. Na ja. Manchmal ein bißchen.

Aber wahrscheinlich liegt es mal wieder am System.


edition csc   (06.04.12, 17:04)   (link)  
Entdeckt
Blogbibliothek: Ungleiche Brüder
Blogbibliothek: Welkendes und Welkes
Blogbibliothek: Liebesgeschichte(n)
Blogbibliothek: Die Macht des Essens

–cabü


jean stubenzweig   (06.04.12, 18:59)   (link)  
Gar lang ist's her.
Die scheinen mich nicht mehr so gerne zu mögen. Offensichtlich fallen mir keine sanften Geschichten mehr ein. Bin ich ein verspäteter Revoluzzer geworden?















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