Gut Licht, gut Ton und volle Kassen!

Es gab Zeiten, in denen ich häufig ins Kino ging, nicht nur beruflich, wo mich das eine ums andere Mal ein gemütlicher Vorführraum mit bequemen Sesseln und selbst regulierbarer Lautstärke erwartete (zu diesem Privileg gelangte ich durch meine Aufgabe, unter anderem wöchentlich zehn öffentlich-rechtliche Kulturminuten füllen zu müssen, in denen auch Film quasi eine Rolle spielen durfte), sondern auch privat suchte ich gerne diese Illusionskisten auf, aus denen ich oft genug gar nicht mehr rauswollte, sei es wegen Eric Rohmer, diesem langnasigen Liebesflüsterer und weiteren. Abgeschworen habe ich dem Filmtheater, wie es früher mal hieß, nachdem mir der Krach zu arg geworden war. Im Jahr 2000 war das, auf Pani e tulipani, auf den vom Theater her wegen seiner stillen Kraft geschätzten Bruno Ganz hatte ich mich sehr gefreut. Nach zehn Minuten war ich hinausgegangen und hatte die Damen draußen gefragt, ob man denn die Lautstärke nicht etwas vermindern könne. Erstaunt entgegnete man mir, die sei doch normal. Da ging ich von dannen und sah mir den Film später in meinem Pantoffelkino an, einen DVD-Vorführer hatte ich mir bereits zugelegt, Es hatte keine Gültigkeit mehr, was der im April 2007 dahingeschiedene Laurens Straub im Dezember 1980 in der Münchner Filmillustrierten, geschrieben hatte:
«... überhaupt wird das Kino und der deutsche Film für so manch einen Entwurzelten langsam zum Familienersatz. Bald kommen wir ohne einander gar nicht mehr aus, und das ist vielleicht ein schönes Motto für Weihnachten ...»
Ihm und seinen Mitstreitern verdanke ich kurzweilige Erinnerungen. Auf dem Transparent war zu lesen Heute Preview. Vor rund dreißig Jahren viewte und celebratete das Public noch nicht in Massen Stars der Klassik auf dem Münchner Odeonsplatz, die Freunde der italienischen Oper gingen noch ins Kino., wenngleich es eigentlich ein wagnerianisches Bühnenthema ist. Über dessen Eingang hing der Hinweis, und eine Preview war etwas, was die überwiegend deutschen Filmmenschen aus dem sogenannten Land der unbegrenzten, also durchaus manchmal brauchbaren, bisweilen sogar sinnvollen kulturellen Vorlagen über den großen Teich gerudert haben: eine Vorschau. Man ging ins Kino und harrte der Bilder, die vor einem ablaufen werden. Man zahlte, ohne zu wissen, was man dafür (zu sehen) bekam. Ich nannte das seinerzeit in einer Wochenzeitung, die sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands einst leistete, eine Art Lotteriespiel für Kino-Verrückte. Heutzutage müßte ich vermutlich Bildblinddate schreiben, um von den ständig vor sich hindippelnden Freunden von Frau Braggelmanns Jüngstem sofort verstanden zu werden.

Schon mit meiner Preview-Premiere hatte ich, um in meiner Sprache der Altvorderen zu bleiben, ein Glückslos gezogen. Einen Volltreffer sozusagen. Eine der Hauptrollen spielte Richard Harris, und Ray Boulting führte Regie: Ein friedvoller Einzelgänger versucht, über den Verkauf seiner auf Sonnenenergie basierenden Erfindungen seine Familie zu ernähren. Über den Multiplikator Unterhaltung machen Regisseur und Schauspieler virtuos deutlich, daß es Menschen gibt, die solche Alternativen nicht mögen. Von der Art muß es noch ein paar Überlebende geben.

Als ich nach dem Ende des Films The last word laut in die Runde hineinresignierte, nämlich, daß es die US-Amerikaner offenbar immer noch am besten könnten, heimste ich mir von ein paar Eingeweihten, die um meine nicht ganz unproblematische Sozialisation wußten, ein verschmitztes Lächeln und einen Fingerzeig ein. Neben mir stand der Mann, der das Drehbuch zu diesem Film 1975 zur Filmförderung eingereicht hatte. Horatius Haeberle erhielt seinerzeit eine Absage. Mir blieb die Hoffnung, daß The last Word ebenso schnell einen bundesdeutschen Verleih finden würde wie Atlantic City von Louis Malle oder A man, a woman, and a bank von Noel Black, die beiden letzten der für die Zukunft angekündigten allmontäglichen Previews im Isabella-Kino (das noch existiert, im Gegensatz zum Türkendolch, das 2001 dem gentrifizierenden Neocafé- und Klamottenwahn in der neuen Maxvorstadt zum Opfer fiel).

Diejenigen, die diese Previews veranstalteten und denen neben dem dafür ‹zuständigen› Kino lsabella auch noch der (oder das) Türkendolch in der maxvorstädtischen Türkenstraße gehört, waren insgesamt dreizehn. Offensichtlich dem Aberglauben entgegentretend, gaben sie ihrer Firma einen viel- oder auch allessagenden Namen gegeben: Gut Licht, gut Ton und volle Kassen Kinobetriebs GmbH. Sie waren allesamt ‹Adoptivkinder› von Fritz Falter. Der Filmkunsttheaterpionier und Spiritus rector der Münchner Filmkunstwochen selber hat sie so genannt und ihnen auch die beiden kleinen Kinos verkauft.

Damals war ich vom Glauben beseelt, er dürfte frei sein von der Sorge, seine Arbeit könnte über kurz oder lang wieder zerstört werden. Denn seinen dreizehn Sprößlingen, die sich hauptsächlich aus den beiden Münchner Filmverleihen Filmwelt und Prokino sowie dem hannoverschen Impuls-Film rekrutieren, war wehrhaft zumute: Sie wollen eine Lichtung schlagen in den Dschungel einer nicht nur in München grassierenden Verleihpolitik, die einzig Geld meint, wenn sie Kino ankündigt. Wie sich das weiterentwickelt hat und ob es noch Previews gibt, entzieht sich meiner Kenntnis, da ich nicht mehr ins Kino gehe. Zu dieser Zeit kam dieser begrüßenswerte Verbund von Filmverleih und -vorführung allerdings bezeichnenderweise in der «Weltstadt mit Herz» zustande, deren oberster Ratsherr Erich Kiesl sie so gern als Weltstadt des Films gesehen hätte und beim Startversuch in den eigens dafür mit viel Repräsentationspomp präparierten Löchern hängenblieb. Bei mir hängengeblieben ist lediglich so etwas wie der Bayerische Filmpreis oder das Münchner Filmfest, bei deren posierlichem Gestakse auf roten Läufern und Flickerlteppichen für diejenigen, die gerne mal wenigstens für kurze Zeit hinauswollen aus ihrem tristen Synchronstudio- und Seriennebenrollendasein. Aber ich bin eben eventresistent.

Es ging der Firma mit der namentlich-filmischen Variante von Hals- und Beinbruch vor allem darum, dem Kinogänger jedweder Herkunft die Weit des Films ein wenig spaßiger und abseits des meinungsmachenden Feuilletons zu übermitteln. So sollte es im Türkendolch rund um die Uhr ein Programm geben für die Leute, die «sonst in Kneipen und Cafés herumsitzen müßten». Denn, so Laurens Straub weiter in der Münchener Filmillustrierten: «Zweifelsohne lebt derjenige, der schon um elf Uhr ins Kino gehen kann, unter denkbar härtesten Bedingungen.» Und wie diesem in einer Auflage von 40.000 Exemplaren erscheinenden und obendrein kostenlosen Organ dieser fröhlichen Film-Kooperative weiter zu entnehmen war, sind die spät am Abend gezeigten Filme für die Menschen, die nach des Tages Arbeit einen solchen «gerade noch aushalten können».

Es wurden also nicht Filme gezeigt nur für sogenannte Cineasten, nur für Intellektuelle, nur für Thriller-Liebhaber und so weiter. Und manch alter Hollywood-Streifen sollte verdientermaßen wieder über eine richtige Kino-Leinwand regnen und nicht aufpoliert im Pantoffelkino laufen: Filme, für die sich kein Verleiher und auch kein Kino(ketten-)besitzer mehr interessiert, würden möglicherweise am richtigen Ort und zur rechten Zeit aus der Asche steigen wie weiland Phönix.

Aber so, wie es aussieht, hängt die seinerzeit nach Ignatz Wimmers Ausruf Gut Licht, gut Ton und volle Kassen! benannte GmbH des letzten Verbliebenen der einst glorreichen Dreizehn nach wie vor bei dem alten mythischen Vogel herum. Aber vielleicht schafft Louis Anschütz es ja doch noch, Gehörgeschädigte wie mich vom Sofa zu holen. Denn ich ginge durchaus ganz gerne mal wieder ins Kino.
 
Fr, 30.09.2011 |  link | (3946) | 10 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kamerafahrten



 

Europa und ihr Stier

Ausgeliehen bei Eduthek Schule Austria


Eigentlich wollten wir über diesen großen deutschen Philosophen nicht mehr debattieren. Doch nachdem Hans Pfitzinger in seinem tazblog uns derart ins Schmunzeln gebracht hatte, mußten wir alle guten Vorsätze beziehungsweise die Erkenntnis, Totschweigen sei die am ehesten funktionierende Negativkritik, dahinfahren lassen:
Mit einer Meldung von der Kulturseite: Peter Sloterdijk bekommt den Lessing-Preis für Kritik, und ein Satz aus seinem neuen Buch (hört der denn nie auf?) wird auch zitiert — um zu unterstreichen, daß er den Preis verdient hat? Also sprach Sloterdijk: Lessings Ringparabel sei ein Versuch der «Domestikation der Monotheismen aus dem Geist der guten Gesellschaft».

Dann doch lieber DJ Bobo, über den Kirsten Riesselmann auf derselben Seite schreibt. Seine Philosophie verstehen die Menschen wenigstens: «So, Leute, ihr nehmt jetzt den linken Arm hoch, dann den rechten, und wenn der Rhythmus einsetzt, klatscht ihr alle im Takt die Hände zusammen! Genauso, toll!»
Wie sprach doch unser Hausphilosoph Werner Enke vor vier Jahrzehnten: «Es wird böse enden.» Damit war irgendwie auch das geistig-moralische Deutschland gemeint. Und das ist ja bekanntlich angekommen.

Beschreibe ich's mal so: Da kaum jemand Peter Sloterdijk versteht — und damit ist nicht nur sein Genuschle gemeint, lediglich unterbrochen von den Hilflosigkeiten, auch nur einen Satz halbwegs unfallfrei zuende zu sprechen —, er also weiter keinen Schaden außerhalb seiner Jüngerschaft anrichten kann, wurde ihm (für Intellektuelle) besten öffentlich-rechtlichen Sendezeit die Möglichkeit gewährt, einen gewissen Bekanntheitsgrad über sich hinaus zu erlangen. Diejenigen, die bereit sind, sich dieses gegenaufklärerischen Geraunes wegen das Höhrrohr anzulegen, bewahren somit einen Philosophiebegriff, der sich keinen Jota von der Ironie des spitzwegerischen Dachkammerdenkers wegzubewegen gedenkt: der dialogische Austausch der Philosophie verliert sich unterm Regenschirm des vermeintlich Elitären. Das paßt zu diesem Land, in dem das hermetisch vernagelte Kryptische als Synonym für geistige Vollendung steht und das gerne mit Lobpreisungen bedacht wird, gegen die ihre Namensgeber sich nicht mehr wehren können.

Nun gut, im Zusammenhang mit Herrn Professor Sloterdijk gehen die Meinungen auseinander. Zwar hatte ich bei Schmoll et copains mal geäußert, es gebe «Bücher, die sollte man einfach nicht mehr in die Hand nehmen. Man sollte sie in den tiefen Kartons auf dem Dachboden des Vergessens belassen.» Aber offensichtlich soll dem nicht so sein, zumal gerade Sloterdijk für ein historisches Bewußtsein plädiert. Und das las sich 1994 bei ihm so:
«Der jähe Ausfall von vierzig Millionen Toten hatte die Atmosphäre in Schwingung versetzt, eine mystische Emission, die an den Lebenden zehrte wie eine grenzenlose Schuld.»
Manfred Jander meinte daraufhin:
«Wenn ich mich nicht irre, bestand der ‹Ausfall› darin, daß vierzig Millionen lebende, teils lebendige Menschen gefallen, verhungert, erfroren sind — oder ohne Umwege ermordet wurden; außerdem kann ich mich nicht erinnern, daß der gewaltsame Tod zwanzig Millionen sowjetischer Menschen in der westlichen Welt eine spürbare ‹Schwingung› verursacht hätte.»
In einer Ausgabe des Laubacher Feuilleton waren einige Meinungen zu Sloterdijks Essay Falls Europa erwacht veröffentlicht worden. Zwar ist zur Zeit mehr die Rede von dieser spezifischen Wackelwährung, die zu meinem anhaltenden (Monarchisten-)Bedauern dann doch nicht Écu heißen durfte, aber im Zuge dessen kommt es mehr als marginal, also eher schon zur seitenfüllenden Schreibe über die Sehnsüchte vieler, wieder in den idyllischen Urwald der Kleinstaaterei zurückkehren zu wollen. (Dabei bin ich geneigt, die modernen Mittelaltermärkte zu assoziieren, die zur Hochsaison vor allem des deutsch eingegrenzten Fremdenverkehrs zunehmend die Zentren der Städtchen illustrieren, in denen es keinen Unrat gibt, der stinkend durch die Gassen fließt, und auch das einfache Volk kunterbunt gewandet voller Glück im Müßiggang vor sich hinschlendert.) Der Prophet Sloterdijk aber blickte seinerzeit zurück auf den Mythos von Europa und ihren hinterlistigen Stier und bot verwirrten Politikern «geschichtspilosophische Information» sowie «klare Orientierung». So möge nicht verlorengehen, was uns offensichtlich mehr noch als vor fünfzehn Jahren beschäftigt, und sei deshalb ins nichts wegschmeißende Zwischennetz nachgemeißelt.

In der Anmoderation zur Diskussion von Peter Sloterdijks Buch hieß es:

«Was für das Frankreich der siebziger Jahre die Nouveaux philosophes André Glucksmann, Alain Finkielkraut oder Bernard Henri Lévy und andere, ist für die Bundesrepublik der achtziger und neunziger Jahre sicherlich ein Peter Sloterdijk. Kaum jemand unter den jüngeren Philosophen ist so umstritten, löst so heftige Diskussionen aus wie er.

Gerade sein Essay Falls Europa erwacht löste eine Flut an Verwünschungen und Vergötterungen aus, es hagelte polemische Verrisse und kotauähnliche Lobhudeleien.

Auch innerhalb der Redaktion schieden sich die Geister an den Thesen des in München lebenden Sloterdijk. Deshalb haben wir einige Personen außerhalb unseres Blatts, aber auch Redaktionsmitglieder gebeten, Kommentare abzugeben.»

Weil Wolfgang Flatz alphabetisch ganz oben stand, sei um irgendeiner Ordnung willen mit ihm begonnen.
Warum hat Peter Sloterdijk seinen Essay nicht Europa erwache betitelt? Warum heißt er Falls Europa erwacht? Begreift er sich als einen jener Pop-Ulär-Philosophen, die die Zeichen der Zeit zwar lesen, verstehen und zu interpretieren imstande sind, jedoch nicht die Rolle des Rufers oder handelnden Einpeitschers übernehmen wollen, sich somit auf die Verantwortung für das notwendig gesagte nur im historisierenden Mahnbereich zurückziehen, um sich mit dieser Haltung nicht mehr als notwendig zu exponieren? Oder hat Sloterdijk Angst, daß ein Buchtitel Europa erwache zu sehr an die Sprachterminologie der Zeit erinnert, die zu jener Absence Europas der Macht-Gestalt und Verantwortungslosigkeit im Weltgeschehen geführt hat, die er in seiner Schrift als Hauptübel und Ursache des der Totenstarre ähnlichen Handlungswillens und -vermögens zuordnet? Womit wir schon mitten im Fall Europa erwacht sind.

Oder — falls der Philosoph weder am Menschsein orientierte Zukunftsbilder entwirft, im Gegensatz zur Philosophie-Mode jüngsten Datums (Stichwort Baudrillard, Derrida ...), die die Menschheit als Opfer ihrer Zeichenwelt begreift und sich keine Lösung aus diesen selbstgeschaffenen Denkmustern vorstellen kann.

Es kann nicht Sinn der Philosophie, schon gar nicht des Lebens sein, die Zukunft als unbeeinflußbares Verderben zu sehen und darzustellen.

Sloterdijks Plädoyer für ein vorausgerichtetes, konstruktives, historisch abgeleitetes, verantwortungsvolles, politisch bewußtes Handlungsstreben um eine ausgeglichene Machtverteilung im Weltgefüge, in der Europa als Mitte des Denkens und Austragungsort geistiger Polaritäten der Evolution und Mutation des Planeten Erde zu begreifen war, ist die richtige Forderung an ein Europa in einer Epoche, die sich, vom Werteverfall gebeutelt, bis nahe ans Koma tatenlos zum Spielball ihrer eigenen Kinder mit Namen Kapitalismus und Kommunismus degradieren ließ.

Peter Sloterdijk hat eine Erkenntnis in eine Sprachform gebracht, die einer möglichst großen Öffentlichkeit zugänglich und bewußt gemacht werden sollte, bevor es zu spät zum Handeln ist.

Solange die Künstler, Philosophen, Wissenschaftler und Politiker nur das Jetzt interpretieren, es aber nicht verändern wollen noch Visionen vom lebenswerten Leben entwerfen, verdienen sie keinen Platz auf dem Plateau des Weltgeschehens.

Mut tut gut, Mr. Sloterdijk.

Europa erwache, es ist Zeit zum Aufstehen.

Die weiteren Kommentare folgen.
 
Di, 27.09.2011 |  link | (3755) | 9 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 

Schwarz-weiß-Malereien

Aus einem Frau Braggelmanns petersburgische Wände zierenden Zyklus des Jahres 1985 von Cosy Piero

Am untersten Rand des Linksrheinischen, dort, wo ich in einem Randgäßchen des Reiserummels eine der besten Fischsuppen des Kontinents gegessen und auf dem zentralen Platz manch eine ruhige Boule zum Pétanque geschoben habe, unterhalb der mit über dreihundert Metern höchsten europäischen Klippe, auf der ein glatzköpfiger, seinerzeit in England Bälle fangender und Pfund Stirling sammelnder Fastmarseillais neben altem Adel thronte, amusierte ich mich im vorgerückten Sommer des Jahres 2000 frühmorgens um fünf mal bestens über eine übriggebliebene Restformation des Jubels, die nur noch mit Mühe Allez les Bleus aus den vom tage- oder gar wochenlangen Saufen völlig ausgetrockneten Kehlen brachte. Das fröhliche Ereignis war ein marginaler Beleg dafür, daß die Gewässer der Calanques östlich von Marseille nicht nur in diesem von der Mehrheit gespriesenen und deshalb wohl auch ständig abgelichteten kitschpostartigen Turquise bleu oder vert blinken und blitzen, sondern daß die Welt ihrer Palette einige Farbgebungsmöglichkeiten mehr aufgelegt hat als das kompositionell beschränkte Weiß-schwarz-Denken derer, die sich als christlich in sieben Tagen Mitschöpfende nicht nur in Bekannt-, besser Heiratsgesuchen, als Caucasian gerne mehr oder minder klammheimlich nach wie vor als Herrschende über alle anderen empfinden. Frankreich hatte zumindest fußballerisch das beste aus seiner einst fragwürdig erfolgreichen Kolonialpolitik herausgeholt und seine Schwatten Perlen wenigstens zeitweise dem Volk zugeführt.

Als altausgewiesener Anhänger und eine Zeitlang auch als Wortführer einer Bastardisierung der Welt freue ich mich über die teilweise positive Entwicklung (endlich) auch in Deutschland. Anfang der Neunziger hat ein lieber Freund selig meine im Land der Dichter und Denker oder auch des christlich-jüdischen Kulturkreises häufig mit hochgezogener Augenbraue quittierten Wahrnehmungen auf meine Bitte hin mal trefflich essayistisch festgehalten. Meine rassisch unreinen Neigungen mögen in der Ursuppe meiner Sozialisation wurzeln, die mich von allerkleinst an mit allen erdenklichen Pigmentfärbungen konfrontiert hat, da meine nomadisch geprägten Eltern mich durch drei Kontinente karrten und ich als gerademal der geistigen Kindheit Enthüpfter ein Leidensjahr im damaligen, zwischen Rassen und Klassen streng trennenden Altenheim der Gutsituierten des Südostens verbrachte sowie den südlicheren später, als ich mich bereits in der Phase des geriatriebedürftigen Gehirns oder auch immer näherrückenden, von manchen als Altersweisheit bezeichneten, also mit über fünfzig, näher kennenlernen durfte oder sollte. Geschadet hat's mir, zumindest was die bisweilen befremdliche Fremdelei vieler anderer betrifft, sicherlich nicht.

Mittlerweile stoße ich allerdings gar auf Ablehnung, wenn ich mein ungebrochenes Interesse an der Herkunft unterschiedlicher Menschen kundtue. Immer öfter wird vor allem in Deutschland darauf verwiesen, man sei schließlich Bürger dieses Landes, dessen wurzelnder Flugsamen schließlich bedeutungslos sei. Wenn ich wegen eines nicht ohne weiteres ortenbaren Patois interessehalber nach dem geographischen Umfeld frage, passiert mir das entschieden seltenener. Die mittlerweile assimilierten Integrationsdeutschen haben noch ein wenig Nachholbedarf. Ich hoffe, mir demnächst nicht auch noch anhören zu müssen, sie seien stolz, Deutsche zu sein. Andererseits kommt dann auch schon wieder Verständnis auf, weil Peter Bichsel mich mit seinen Schulmeistereien schmunzeln läßt. Und schließlich lernte ich ebenso einen in Anatolien geborenen Schweizer kennen, der schweizerischer nicht sein konnte als ein Schweizer, der ein Gegenüber mit Todesverachtung strafte, der es wagte, nach der Ursache seiner kleinasiatisch anmutenden Haar- und Hautfärbung zu fragen. Und wer erinnert sich nicht an diesen italienischen Kommunisten Francesco Grimolli alias Claudio Caramaschi, der so gerne schweizerisch blond gewesen wäre wie die weichgezeichneten hochklassigen Heroen samt Gespielinnen zu Pferde, die er mit lustglänzenden Augen von der stinkenden Hühnerfarm aus beobachtete, auf die er geflohen war wegen seiner mißglückten Einburgerung, der sich dann glücklicherweise doch seiner ursprünglichen Geisteshaltung erinnerte und wieder italienischer wurde, indem er die Grenze zur anderen Seite hin überschritt.

Vorgestern strahlte mein geliebter (und deshalb bisweilen frozzelnd attackierter) Yakmist-Sender einen Beitrag über deutsch-US-amerikanische Beziehungen aus, dessen Auswirkungen ich teilweise persönlich, sowohl in Deutschland als auch in den USA der sechziger Jahre, einige Male erleben mußte oder durfte: Brown Babies. Nie aus meiner Erinnerung zu tilgen sein wird diese wunderbare, köstliche Frau, die Anfang der Achtziger, als sie in der weiß-blauen Landeshauptstadt ein liebesbezogenes Gastspiel gab, wegen ihres mehr kaffebraunen als milchigen Teints ständig englisch angesprochen wurde, aber nicht eines Wörtchens dieser Sprache mächtig war; man verstand sie anfänglich ausschließlich dann, wenn man diese guttural anmutenden Laute einigermaßen zu orten wußte, weil man schonmal in den Dörfern zwischen Kötzting und der tschechischen Grenze unterwegs war, wie ich beispielsweise, da zu dieser Zeit noch nicht alle Künstler ein Atelier in der Nähe des kentischen Siebeneichen oder bei Hàwenàu im Elsaß gekauft hatten, sondern als Mieter gerne alte Bauernhöfe in Niederbayern und der Oberpfalz umbesiedelten. Sie war als Nachlassenschaft der seinerzeit noch nicht ganz so ausgeprägten deutsch-amerikanischen Freundschaft eines der glücklicheren Kinder, da ein Kleinbauer die junge Mutter trotzdem zur Frau nahm, obwohl sie bereits einen Bastard in die Welt gesetzt hatte und den um nichts in der Welt zur Adoption ins Land des Erzeugers freigegeben hätte. Letzterer war bereits in seine Ku-Klux-Klan-Heimat geflüchtet, während die Frucht noch heranreifte. Möglicherweise lehnte sie deshalb dessen Sprache so vehement ab und weigerte sich, Gummi zu kauen und diesen süßen Dunkelseich zu trinken, der als Synonym für Kapitalismus und Lifestyle dann (auch) deutsche Lande zuschütten sollte. Dunkelbraun bin i doch scho selba, Broúda, pflegte sie der Verwunderung über diese Ablehnung zu entgegen. Deshalb bevorzuge sie ein Helles, gerne durften's auch mal zwei oder drei oder so sein, und wenn sich ein Bärwurz oder Blutwurz in Ausschanknähe befand, dann wurde auch der nicht lustlos gekippt, und manchmal warns auch zwei oda so, dann aber am liebsten im heimatlichen Weiler bei Bogen, in dem sie dann blieb und sich hauptsächlich ihrem großen braunen Freund widmete; wahrscheinlich, weil sie für den nicht auch noch Germslang lernen mußte und der lieber Hafer kaute als Chewing gum.

(Kau-)Kulturadaption durch © Vollrad Kutscher

Kaugummi und Friedenskampf im Nachkriegsbayern wurde Anfang der Achtziger durchaus sehenswert von Marianne S. W. Rosenbaum thematisiert. Die Dame neben Konni Wecker, von dem damals alle nur noch Willy hören wollten, obwohl er schon ein bißchen mehr draufhatte, ist übrigens keine Schauspielerin, sondern die Kostümbildnerin Ute Hofinger. Aber in diesem Film mußte jeder irgendwie ran, sogar ich als einer von irgendwas mit Medien, und zwar auf dem Münchner Theaterfestival, wo der Stoff als Bühnenstück präsentiert worden war. Nur der seinerzeit nahezu honorarfrei arbeitende Peter Fonda war bereits wieder in den wilden Westen entschwunden, um den stumpf gewordenen Sattel seiner Karriere aufzupolieren, was sich als keine leichte Aufgabe erwies, da man dort Frieden und Niederbayern nicht nur geographisch nicht so recht einzuordnen wußte.

Ein oberbairischer Schauspieler kriecht dann noch durch meine sich zusehends öffnende Langzeiterinnerung, der lange nach Toxi (Achtung: nackte Minderjährige) eine Zeitlang als Alibineger der deutschen Mattscheibe diente. So manches angenehme Gespräch hatte ich mit dem sympathischen Zeitgenossen, und ich war lange fest davon überzeugt, auch er sei solch ein braunes Baby. Bis er mir eines Tages mit leicht erhöhten Augenbrauen, aber nicht unsanft erklärte, er sei der Sohn eines senegalesischen Diplomaten. Als ich ins Grübeln kam und ihn nach seinem Alter fragte, war mir klar geworden, daß er nun wirklich nicht in die unmittelbare Nachkriegsgeschichte gehörte.

Ursprünglich wollte ich eine völlig andere Geschichte erzählen, eine von einer jungen, herrlich milchkaffeebraun pigmentierten und hochintelligenten Kurdin, die Anfang der Neunziger auf den Fluchtwogen vor ihrer strenggläubigen Familie bei mir angeschwemmt worden war. Aber dann wurde ich von einer Logorrhoe-Strömung erfaßt und abgetrieben. Also erzähle ich das ein andermal.
 
Fr, 16.09.2011 |  link | (5078) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 







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