Irrlichternder Grün

Sie hatten wieder gestritten. Sie wollte ein Kind. Er wollte keines, er habe genug, nicht nur Kinder. — Aber ausgerechnet mit ihr, schimpfte sie in das in ihr aufkommende Schluchzen hinein, wolle er keines. Warum habe er sie eigentlich geheiratet?! Wenn er keine Kinder haben wolle?! — Er habe doch welche. Und geheiratet habe er sie unter Zwang. Weil die Gesellschaft und ihre biedermeierlichen Rudimente es so wollten. Seine Eltern seien auch nicht verheiratet gewesen, seien noch aus dem anfänglichen zwanzigsten, zur besseren Hälfte sogar aus dem neunzehnten Jahrhundert und hätten dem trotz ihrer Erziehung aus dem achtzehnten trotzdem getrotzt. Oder vielleicht gerade deshalb. Und erfolgreich, wie sie vor sich sehe. — Aber Kinder gehörten nunmal zum Leben, schrie sie. Sie könnten ihre Ehe retten.

Er schlüpfte in die der Jahreszeit gemäßen leichten Schuhe, hinten hinuntergetretene Espandrilles, die er sich von jedem jeden Urlaub neu mitbrachte, zog sich nicht einmal eine Jacke über, da er vorhatte, gleich wieder zurück zu sein, und verließ die Wohnung im Jugendstilhaus weitab am Rand der Stadt, wohin sie in in der Phase ihrer Verliebtheit gezogen waren, um unter sich zu bleiben in ihrer kleinen Liebeslaube zwischen diesen ganzen Kleingärtnern des gehobenen Mittelstandes, die nichts anderes kannten als ihren gepflegten Lebensstil. Er hatte kürzlich, nachdem er mit dem Sport aufgehört hatte, weil ein Bindegewebsschaden aus geringen langwierige Verletzungen werden ließ, zu rauchen begonnen. Er hatte keine Zigaretten mehr. Er würde sich welche holen müssen. Er sagte ihr das, es würde ihr Gelegenheit geben, wieder ein wenig herunterzukommen von ihrem Verzweiflungsturm, auf den sie sich geflüchtet hatte, seit ihre Kolleginnen im Büro und jetzt auch noch ihre einzige Freundin werfen wie die Säue vom Bauerhof da draußen im Wald, im Niemandsland kurz vor dem eiserenen Vorhang, wo die Evangelen ihre Zöglinge zögen und die Alten aufbewahrten wie zu Kriegszeiten. — Was habe ich nur für einen Zyniker geheiratet, hörte er noch, während er die Tür zuzog. — Du hättest es nicht tun dürfen, murmelte er eher in sich als an sie, die es es ohnehin nicht mehr hören konnte, du hast nur getan, was deine Eltern dir befohlen haben, was gut sei für den Fortbestand ihrer Gesellschaft. Ihrer, nicht seiner.

Aber das waren dann nur noch Gedanken, mit denen er sein schlechtes Gewissen ein wenig abzumildern hoffte. Er saß bereits im Auto, das er, wie alle anderen auch, die eines besaßen, grundsätzlich auch für die kürzeste Strecke benutzte, das allerdings auch vonnöten war, denn in dieser abseitigen Abgeschiedenheit der Metropole beendete der Bus bereits um achtzehn Uhr seine Linie, und ein Suchtmittelautomat befand sich nicht einmal in annähernder Nähe. Sie konnte am wenigstens dafür, an einen derartigen Libertär geraten zu sein, als der er sich empfand. Er hätte sich diesem Zwang der Heirat auch nicht unterwerfen dürfen. Er, der sogar gegen den Kranzgeldparagraphen erfolgreich gewesen war, wenn auch mit Hilfe eines Rechtsanwaltes, den ihm sein vor drei Jahren gestorbener Vater quasi vererbt hatte. Er, der auch im anderen Fall die Ehe abgelehnt hatte, wenn das auch auf einer Gegenseitigkeit beruhte, die quasi letztlich ein Wunschkind gebar. Er war nicht wirklich ein Libertär, denn er nahm sich nur das aus diesem Theoriepaket, das seinem Körper und Geist gleichermaßen guttat. Die Liebe spielte dabei durchaus eine Rolle. Doch er war unfähig, sie zu besetzen. Seine Sozialisation war letztlich eine, die die Liebe lediglich in der vom Fachmann Ortega y Gasset so benannten «psychischen Angina» des Verliebtseins kannte. Alles andere war Gewohnheit. Wie bei seinen Eltern. Die hatten einander umschlungen, da sie meinten, sich in dieser Formation auf ihrem insularen Mikrokosmos gegen die erst kaiserlichen und königlichen und dann völkischen Kanonen schützen zu können, die von ihren festgefügten Ländereien her jeweils gesellschaftliche Regeln abfeuerten.

Je weiter er darüber nachdachte, um so klarer wurde er sich darüber, daß diese Ehe hätte nie zustandekommen dürfen. Nicht nur, daß er sich seiner Unreife zunehmend bewußt wurde, die nicht nur an seinen jungen, gerademal dreiundzwanzig Jahren lag, sondern möglicherweise an einem Aufwachsen fern jener Realität, der seine noch jüngere Frau mit dem väterlichen Ethos eines Handwerkers ausgesetzt war, der gemäß protestantischer Lehre von Anstand, Sitte und Ordnung die oberste Stufe der Hierarchieleiter erklommen hatte und auf den dessen Gattin sich immerfort äußerst stolz berief. Ein sich vom Ahnen her anschleichendes Bewußtsein bedeutete ihm, so gut wie nicht zu wissen über das Leben, das er unbedingt genießen wollte. Er sah nach etwa einem Kilometer Autofahrt zur Linken einen Zigarettenautomat. Unbewußt ging er davon aus, er beinhalte nicht die von ihm bevorzugte Marke. Es konnte sie gar nicht geben, das fiel ihm ein paar hundert Meter weiter mit einem Mal ein, hatte er sie doch kürzlich gewechselt, hin zu einer mit deutlich mehr Nikotin- und Teergehalt, die, wie im Land ihrer Herkunft, ausschließlich im Tabakwarenladen erhältlich war. Also fuhr er weiter in Richtung Zentrum, zum Bahnhof des eingemeindeten Städtchens am Rand der großen Stadt, wo er sicher sein konnte, sie auch kaufen zu können.

Er fand keinen Parkplatz zur frühen Nachmittagszeit an diesem Sonntag, an dem sich alles aufzumachen schien zu Eltern und Großeltern, zu Kaffee und Kuchen, was man in der kleinen Bäckereifiliale des Vorstadtbahnhofs bekam, dazu aus dem winzigen Laden noch die Blumen, ohne die gute Töchter und Söhne nicht antraten zum Wochenendbesuch. Das war der gute Ton, den man sehr früh zum ersten Mal hörte, wie das Klingeln des Christkindes, nach dessen Bescherung man ins Bett mußte, von Oma bewacht, weil Mutti und Vati in die Kirche gingen, dieses eine Mal im Jahr. Er kannte ihn nicht, diesen guten Ton, er hatte lediglich davon gehört, von seiner Frau, die nicht mehr in die Kirche ging, seit sie ihn geheiratet hatte, auch ohne Segen, denn er gehörte keiner Gemeinschaft an, die ihm hätte einen erteilen können. Seine Eltern hatten keine religiösen Festtage. Sie lehnten Rituale ab, weil sein Vater mit ihnen gequält worden war. Dessen Frau, die nicht als seine Frau galt sondern anrüchig als Geliebte, da den beiden kein ritueller Segen zuteil wurde, würde zwar gerne ein wenig ritualisieren zu solchen Tagen wie Chanukkah oder Jom ha-Kippurim oder wenigstens zu Roisch ha-Schana, aber sie war auch ohne Weihe eine gute Gattin und folgte dem ihren. Das erleichterte beider Leben, da sie sich anfänglich meist fern von Zivilisationen aufhielten und selbst dann, wenn sie später in deren Nähe oder gar mitten hinein gerieten, in ihrem insularen Mikrokosmos verharrten.

Er überließ sich dem Lauf der Dinge, der nach einigem Suchen das Lenkrad in die linke Richtung drehte und er so auf die Ruhlebener Straße geriet, die ihn immer weiter von zuhause wegführte hin zum Zentrum des Zentrums der großen Inselstadt. Dort würde er sicher einen Hafen finden, wo er nicht nur das Auto abstellen und dann Zigaretten kaufen könnte. Er kannte in der Nähe des Bahnhofs am zoologischen Garten einige Seitenstraßen, die noch gewisse Freiheiten boten. Und er würde sie zu nutzen wissen. Wenn er schon einmal so weit weg war von seiner teilweise selbst aus Holz gezimmerten Heimeligkeit, die er während dieses gesamten Denk- und Fahrprozesses zunehmend als ungemütlicher werdend empfand. Er würde sicher bei Aschinger, der sich direkt neben dem Bahnhof Zoo befand, eine Erbsensuppe nehmen. Er mochte Erbsensuppe sehr. Seine Frau kochte ihm keine. Sie mochte keine Erbsensuppe. Sie hatte während ihrer Kindheit zuviel davon essen müssen. Und seine Mutter wäre nie auf die Idee gekommen, so etwas Abartiges zu kochen. Aber selbst wenn sie sein Sehnen erhört hätte, das in ihm rief, seit ihm in den Schulferien bei Tante und Onkel nahe der Grenze zum deutschen Reich dieser köstliche Brei serviert worden war, sie hätte es nicht vollbracht, denn sie konnte überhaupt nicht kochen. Er freute sich auf die Erbsensuppe. Sie war ihm ein Stück Heimat geworden.


Abbruch. Nein. Interruptus. Eine Fortsetzung ist nämlich beabsichtigt. Schließlich hat der Irrlichternde Grün die Berechtigung, erklärt zu werden.

Inselleben • Erzählung

 
Mi, 11.01.2012 |  link | (2909) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Inselleben



 

Wer jetzt kein Haus/ des Mittelmaßes hat ...

Zur Zeit höre und lese ich atempausenlos von der Mittelmäßigkeit, vom Mittelmaß, zum Beispiel eines Wutbürgerpräsidenten. Es kommt aber immer darauf an, wo so einer herkommt, wer oder was dessen Niveau gebildet hat, an dem man sich orientiert, vielleicht auch, wer das Niveau bestimmt, das schließlich gesenkt oder erhöht werden kann, wie das Bild vom Bild-Fahrstuhl bei Wolfgang Michal, mit dem es rauf- oder runtergeht. Zur Auffahrt anderswo scheint mir allerdings kein ernsthaftes Bedürfnis zu bestehen, auch oder gerade bei denen, die dazu beitragen könnten.

Ja, Einemaria, das Volk spricht eine seltsame Sprache. Ich meine durchaus, daß Rilke in seinen Satzbauten auch gelebt hat, sich zumindest seine Verstecke gehalten hat darin, etwa in Wer jetzt kein Haus hat/baut sich keines mehr//Sein Blick ist vom/Vorübergehn der Stäbe/so müd geworden, daß/er nichts mehr hält. Ortega y Gasset hat bereits als Dehumanization dell arte die Vertreibung des Menschen aus der Kunst diagnostiziert. Vielleicht sollte man ihn, bin ich als hoffnungsloser Romantiker (sowas kannten die nämlich nicht) heute versucht zu meinen, ihn erstmal reinlassen, den Menschen in die Kunst. Aber wer will das denn? Wirklich. Also nicht nur kreativen Rock'n'Roll an der Volkshochschule. Nichts gegen Volkshochschule. Aber das Denken über die Kunst lernt man dort eher nicht so. Dafür benötigt man vermutlich eher die Einzelnen, die bezahlt werden wollen und auch sollen, und die sind als geeignete Fachkräfte nicht so billig, was für die Discounter der Bildung schwierig wird, da das Bares kostet, das man nicht mehr hat, weil es spätestens seit dem Jahr der geplatzten Blase auf einmal endgültig verschwunden ist im Müllschlucker der Geldverbrennungsanlagen, die auf Vernichtung von Massen geeicht sind, von denen es ohnehin schlicht zuviele gibt und man für die nicht auch noch kostbare Güter ausgeben kann, soll, will.

«Die Masse vernichtet alles», hat Ortega geschrieben. Nun gut, er war nicht eben ein Revolutionär, sondern eher dem mir nicht so sehr am gelben Blatt meines Herzens liegenden Adel zugetan. Doch es war eine andere Zeit. Zu der huldigten die meisten noch dem Herrn. Aber ich bin auch kein Revolutionär, wahrscheinlich, weil ich nicht möchte, daß jemand geköpft oder auch nur bildergestürmt wird, nicht einmal eine Statue, und bin obendrein gerade auch mit diesem Herrn Gasset beschäftigt, deshalb richtungsändert dieser Spanier mir, als ginge es um Picabia oder diesen Lichtenberg1 oder Wittgenstein oder wie die alle sonst noch heißen oder hießen, zur Zeit auch ständig im Kopf herum.2 Also: «Die Masse vernichtet alles, was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und erlesen ist. Wer nicht ‹wie alle› ist, wer nicht ‹wie alle› denkt, läuft Gefahr, ausgeschaltet zu werden.» (Das habe ich jetzt auf die Schnelle bei Wikipedia gekopiet und gepäistet, man kann's aber auch bei rororo im Ganzen lesen.) Da kann er noch so jesuitisch — wie das diese von mir auch nicht sonderlich gemochten Katholen im allgemeinen sind, die aber ziemlich was draufhaben — daherschreiben, aber da ist was dran.

Ich beziehe mich aber in erster Linie auf den Gewöhnungseffekt. Da ist ebenso eine Menge dran. Da komme ich auf den Einschleifeffekt im Sprachlichen, manchmal tät ein bißchen Rilke gut, zum Beispiel bei Michal, da schlürft und schmatzt die Soße und nicht der Schmatzer und der Schlürfer. Der produziert, so recht er in einigen, aber dem Wissenden — na, das ist vielleicht doch ein wenig zu altbacken unverständlich, das klingt ja nach der Vorstufe des Süttherlin, also: dem informierten Leser — längst bekannten Punkten haben mag, mittels schief im Rahmen hängender Sprachbilder dieselbe totgerührte Soße, die er in einem «Essay» (!) anprangert. Das ist nicht mehr als Sahne aus der Tube, pasteurisierte nämlich, ganz nach dem Geschmack des Volkes, das den Geschmack von der natürlichen, also der nichtlilanen Kuh her nicht mehr kennt. Für viele mag das ein vernachlässigbarer Nebenaspekt sein, für mich ist er aber, da es meines Erachtens nichts ohne Zusammenhänge gibt, mit (mittel-)maßgeblich.

Ich habe mal notiert (und mich dabei eingeschlossen): Die Pflicht des Urteilenden, in einer sogenannten Bildungsgesellschaft allemale, obendrein einer, die Informationen sehr viel leichter zugänglich macht als noch vor zehn Jahren, jedoch bleibt: Wer richtet, also (ver)urteilt, der muß wissen. Dazu zählt das Unterscheidungs-, auch Vergleichsvermögen, also die intellektuelle Fähigkeit, zu abstrahieren. In allen anderen Fällen empfehle ich mal wieder den guten alten Wittgenstein in Paraphrase, mit freundlicher Unterstützung von M. A. Numminen.

Ach, auch ich sollte mich bei all den «unwürdigen» Debatten (kann eine Debatte eine Würde haben?) zurückziehen auf Wittgenstein.
 
So, 08.01.2012 |  link | (4004) | 11 K | Ihr Kommentar | abgelegt: lingua franca



 

Grau ist jede Suche. Bis sie rote Sprenkel kriegt.

Um eine Fußnote lesbar zu machen, fahre man mit dem Cursor mitten hinein in die jeweilige Ziffer.1

Interkulturelle Hermenautik wird heutzutage genannt, was vor noch gar nicht so langer Zeit einmal Imagologie hieß. Von diesem Terminus hat sich wie so vieles nach Bedeutsamem Klingendes in den heutigen deutschen Sprachgebrauch des Alltags das Rudiment Image eingeschlichen wie die rezeptfreie Droge Multivitamin, mit dem Lukas, Markus oder Tobias, (früher, noch ohne EiPäd, gemeinhin Fritzchen) von Irgendwas mit Medien seiner Mascha, Sascha oder Penelope (früher, noch ohne EiPhone, gemeinhin Lieschen) von hinterm Tresen seines Stammcafés mit Pappbechern von seinem aufregenden Leben als Anonymus auf den virtuellen Schlachtfeldern der grünen Planeten zeigt, seine mittelständische Vorstellungswelt von Wir nennen es Arbeit vorführt, geradezu ungeheuerlich selbstbewußt und auch -ironisch, gleichwohl nicht auf seine Befindlichkeitshieroglyphen verzichten wollend, will doch ein Image entsprechend gerahmt werden, will man es tatsächlich als Kunstwerk erkennen.2

Wie ich darauf komme? Weil ich mir nach wie vor nicht vorstellen kann, daß ich ein Buch nicht finde. Das mag an dem Bild liegen, das ich mir von ihm so vor mich hin imaginiere. Über eine sehr lange Zeit habe ich mal nach einem Buch gesucht, aus dem ich eine Fußnote nachtragen wollte, deren sofortiger Eintrag mich scheinbar zuviel Zeit im Schreibfluß gekostet hätte. Ungeschickterweise hatte ich mir, wie sonst üblich, keinen Zettel für den großen Kasten geschrieben, in dem ich mit Sicherheit irgendwann fündig geworden wäre. Die Zeit floß und floß, ich war letzten Endes kurz davor, an diesen Heraklit zugeschriebenen philosophischen Anzeigentext bei diesen seriösen Agenturen für aus paritätischen Gründen nach noch besser verdienenden Partnern Suchenden zu denken. Es mußte damit zusammenhängen, daß meine sich wirr windenden oberen Pigmentröhren die Farbe des Buchrückens in das Grün der Hoffnung umgewandelt hatten, nach dem ich fortwährend gesucht und den ich nicht gefunden hatte, so daß ich dann als Fußnote eine imaginäre, dem Inhalt sich annähernde Quelle angab, die mir leichten bis ausreichenden Ärger hätte einbringen können, wäre dieser Aufsatz prüfenden Auges genauer gelesen worden.3 Dieses unzettelig gesicherte Wissen kann einen ja enorm durcheinanderbringen. Zwei Jahre, es mögen auch drei gewesen sein, gingen in den Fluß der Zeit, sozusagen ins Panta rhei, bis ich auf das Werk stieß, das sich schließlich als grau erwiesen hatte während der immerwährenden Suche nach einem grünen.

Grau, gleichwohl mit sinnlich roten, das Maurische assoziierende Sprengseln versehen, ist auch das, auf das ich heute stieß in meiner Abteilung französischer Literatur, die mich dazu bringen soll, mein freizeitliches Geklöpple des Alphabets fortzuführen. Es handelt sich um eines der neueren und neuesten spanischen; was so auch nicht mehr zutrifft, da es 1998 erschienen ist. Andererseits ist es sozusagen naheliegend, geht es dabei doch um die Imagologie, wie früher die Interkulturelle Hermenautik genannt wurde, die Forschung und Lehre dessen, das mich gute zehn Jahre lang mit wissenschaftlichen Assistenten in Kellern verschiedener Universitäten hat Pingpong spielen lassen und die, wie es in dem Buch heißt, nach dem ich nicht gesucht habe, in dem ich mich aber mittlerweile festgelesen habe, weil ich gerne in älteren Büchern (wieder-)lese und weil ich die Thematik nach wie vor für eine der spannendsten überhaupt halte, «die Erforschung des Bildes vom anderen Land». Manchmal sagt man dazu auch Komparatistik oder vergleichende Literaturwissenschaft, von der die hier hin- statt einführende Autorin in ihrem sinnig sinnlich gesprenkelten grauen Buch schreibt:

«Die größere Aufmerksamkeit, die [Soziologie, hier Karin] Knorr-Cetina12 nämlich den Phänomenen Situationalismus und Interaktion zuteil werden lassen möchte, hat in der Literaturwissenschaft eine Entsprechung. Das Erkenntnisinteresse der Literaturwissenschaft richtet sich darauf, auf welche Weise eine vorgefundene außerliterarische Realität eben nicht im literarischen Text abgebildet, sondern transformiert wird. Ein Text bildet ein Gewebe aus Gelesenem, Vorgefundenem, Erfundenem. Dieses Gewebe wiederum interagiert mit der spezifischen Lebenssituation, Textkenntnis u. ä. des jeweiligen Lesers. Wenn diesem Interaktionsfeld zwischen Autor, Figuren, Leser, Vortext und Texten von imagologischen Untersuchungen die ihm gebührende Bedeutung zuerkannt würde, wäre die Handhabung von ‹Eigenem› und ‹Fremdem› als zwei eindeutig trennbaren Kategorien hochgradig problematisch. Vermutlich ist dies einer der Gründe, weshalb die Imagologie, die solche Kategorien weiterhin handhabt, das Verunsicherungspotential nicht zur Kenntnis nehmen möchte. Wenn wir uns nun erneut die eingangs erwähnte Zielvorgabe der Disziplin — die Erforschung des Bildes vom anderen Land — vergegenwärtigen, ahnen wir bereits, wie gründlich eine methodische Neuorientierung der Imagologie ausfallen müßte.»13

Außerdem erinnere ich mich gerne an die Verfasserin dieser Imagologie, nicht nur, weil ich deren Imago auch nach recht langer Zeit noch ziemlich genau im Kopf habe, die vor Beendigung des vergangenen Jahrtausends durchaus in meine Vorstellungswelt paßte von einer nicht nur wohlansehnlichen, sondern darüber hinaus klugen und intelligenten und gebildeten, also intellektuellen jungen Frau, mit der man nicht nur wesentliche Gespräche führen, sondern auch ordentlich einen trinken konnte.

In ihr ertrinke ich also gerade statt zur rettenden Insel meines Freizeitwerks zu schwimmen. Sie taucht mich tief ein in meine spätere, bis heute andauernde Jugend, indem sie mich an diese Frische erinnert, mit der ich mich eine Zeitlang gerne beschäftigt habe, etwa an die von Georges Perec oder Raymond Queneau, überhaupt an die Gruppe Oulipo, an L'Ouvroir de Littérature Potentielle (etwa: Werkstatt für Potentielle Literatur), der ja auch mein inniggeliebter Italo Calvino angehörte, in der sie absolut belesen war (und vermutlich noch ist, obwohl sie vermutlich des schöden Mammons wegen in eine andere Abteilung der Imagos umzuziehen gezwungen war). Sie hat übrigens auch Zettels Wirtschaft betrieben. Als ich das Buch von meiner Galerie hinuntertrug, in der die besonderen Franzosen und Italiener und Spanier, diese Romanen also, von denen auch die die Romantiker abstammen (La vie est un roman), sowie Erstausgaben und auch während fröhlicher Feiern nicht nur um Bücher völlig kunstverkritzelte Kataloge oder, eben, gewidmete Dissertationen von schlimmen Erbkrankheiten («In Liebe») über chemische Prozesse zur Waschmittelherstellung (Ewig Dein!») bis, genau, fragwürdiger fremdländischer Literatur («Je sui un autre.») vergiftschrankt sind, entfiel ihm ein Blatt mit einer Vorrede, die einen Schluß auf ihre geistige Haltung zuläßt, in der ich es mir nach langer Zeit jetzt behaglich machen werde.
Dieses Buch ist ein tolles Buch. Die Verfasserin jedenfalls kann nicht besser (und anders übrigens auch kaum). Es handelt von der schlimmen Welt, in der die Wissenschaftler schreiben und davon, was an diesem Schreiben so schlimm ist. Aber es handelt auch von Kriechwurzeln, Ikarusflügeln aus Messerklingen, kindischen Säulenheiligen und verbeulten Kaffeedosen, die ich alle selbst bezahlt habe. [...]

Die Transkription des Arabischen wird wissenschaftlichen Anforderungen nicht gerecht, was technische Gründe hat, die zu erläutern hier kein Platz ist. Für den Schwund des Diakritischen zeichnet der Iberer verantwortlich.

Die beiden Ebenen der Repräsentation von a) außerliterarischer Wirklichkeit im literarischen Text und b) Wirklichkeit literarischer Texte in literaturwissenschaftlichen Analüsen [hic] können nach der Lektüre dieser Arbeit hoffentlich nicht mehr auseinandergehalten werden. Dabei waren Autoren wie Geertz und Castaneda ziemlich hilfreich. Andere Verunklarungen habe ich mühelos allein zuwegegebracht. Schließlich rechnet man ja auch mit Lesern, die für Kinkerlitzchen wie z. B. Rückbindung der einzelnen Kapitel an die in der Einleitung angestellten Beobachtungen nicht an die Hand genommen werden wollen.

Der Begriff der Imago wird in dieser Arbeit, in Anlehnung an den Duden, durchgehend im Sinne von ‹fertig ausgebildetes, geschlechtsreifes Insekt› gebraucht.

Im Goytisolokapitel kommt ein Baum vor, der Baum der Literatur, auf dem die Verfasserin als Spottdrossel verkleidet von Ast zu Ast hüpft. Was die meisten nicht merken: dieser Baum ist hohl.
Die Fortführung meines sicher außerordentlich wichtigen Werkes zur Weltrettung muß warten. Aber wahrscheinlich ist der Rücken des Buches ohnehin tiefschwarz und nicht grün wie die Hoffnung. Vielleicht begegnen wir uns mal wieder, die vermutlich immer noch junge und frische Frau und ich in den Jahren Verkommener. Dann würden wir sicher über Bücher sprechen, die ohne den Buchstaben E auskommen. Denn Georges Perec hat auch ein Buch geschrieben, in dem eine Frau durch die Zeilen geistert, die mich mit einem Mal im nachhinein an die da oben erinnert: So könnte sie heute als (noch?) Vierzigerin ein wenig gedankenverloren sinnierend durch das Haus in Paris streifen. Besondere Alltäglichkeiten.

Friederike Heitsch
Imagologie des Islam in der neueren und neuesten spanischen Literatur
Edition Reichenberger, Problemata Literaria 36


Sie, die sich später — um auch in der tiefen virtuellen Maurenwelt rascher gefunden zu werden? — den zweifelsohne auch besser zu ihr passenden zweiten Vornamen Elena gab, hat auch andere schöne Stückchen geschrieben:

vor der Imagologie, ihrer Dissertation:
Antonio Gala und der Islam. Kritik eines Bestsellers
nach der Imagologie (auszugsweise):
Verweigerung macht sexy, in: Valio Tchenkov, 1999 - 2002
Ornament als Verbrechen an der Volkswirtschaft. Die Geistesverwandtschaft zwischen Adolf Loos und Arnold Schönberg, ein Hörstück, 2004, Bayern 2
Eine Piroge voller Affen. Humboldts Fahrt auf dem Orinoco, 2004, SWR 2
Keine einzige unwahre Note. Maske und Widerstand bei Schostakowitsch, ein Hörstück, 2006, Bayern 4 (Klassik)

 
Fr, 06.01.2012 |  link | (2931) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 







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