Durchs wilde Werbsurdistan Bereits Mitte der Achtziger setzte bei mir der Ärger ein. In den Neunzigern schien es für jemanden wie mich dann vollends unmöglich, ein Polohemd oder eine Hose ohne aufgenähtes oder aufgedrucktes Emblem zu erstehen. Wollte ich dennoch unbedingt ein Produkt bestimmter Fertigungsqualität haben, war es die Regel, daß ich oder besser eine weitaus geduldigere Freundin das Adelskennzeichen einer bestimmten Marke in fieseliger Arbeit vom Werkstück entfernen mußten. Es war zum Behufe der heutzutage so geschätzten Anonymität erforderlich, meist kleine Ladengeschäfte aufzusuchen, deren Produkte dann durchweg sehr viel teurer bezahlt werden mußten. Wollte das auf diese Weise oberflächliche Individuum unerkannt in der Masse verschwinden, hatte es dafür eben seine Gebühr zu entrichten. Doch selbst das scheint heute kaum mehr möglich zu sein, allenfalls ein paar Inselchen läßt die globale Klimaerwärmung noch aus dem angestiegenen Mehr des immer massigeren Geschmacks hervorlugen. Ähnlich den passiv Kreativen des Zuschauens beim Kochen dürfte heutzutage kaum noch jemand über Bekannte oder, wie das heute auf Globaldeutsch heißt: Friends verfügen, die beispielsweise einem wie mir einst eine Breitcordhose auf den Leib zu schneidern vermögen. Gebannt schauen sie im TiWie oder eher noch im worldwide Net in der Tube den alten Meistern dabei zu, wie die Schuhe klöppeln, die einem zwanzig und mehr Jahre an den Füßen bleiben, um dann in den Laden einer zumindest europaweit vertretenen Kette zu entschwinden und sich ein paar dieser Treter zuzulegen, in denen stehend einst ein Minister der Partei gekürt wurde, die einmal fürs Selberhäkeln und -stricken im heimischen Gärtchen stand und die für mich nicht erst seit heute als Synonym für eine weltläufige Pseudoindividualität steht, quasi als Vorbild für eine einzige politische Glaubensrichtung, die sich quer durch alle Parteien ausgedehnt hat, also ein einheitliches Bild nicht nur deutscher, sondern durchaus auch europäischer, ach was, euroglobaler Gemeinschaft herstellt. Phom hat ein überzeugendes Bild gemalt. Es ist geradezu dreidimensional. Es ist derart plastisch, daß ich an die Lehre erinnert werde: Man habe, um alle Nuancierungen zu erkennen, um die Skulptur, um die Plastik herumgehen. Oder diese Variante: Das Kind hebt das Gemälde von der Wand weg an, um dahinterzuschauen, in der Wißbegier, was sich dahinter verbergen könnte. Ursprünglich wollte ich bei Phom lediglich einen Kommentar abgeben. Ich habe ihn hierher verlagert, da es auch mein Gedankenbild ist. Das mag man Piraterie nennen, doch eher tendiere ich zu der hier bereits mehrfach markierten These von Kurt Tucholsky: Es gibt keinen Neuschnee. Ein wenig erhoffe ich mir auch, auf diese Art des Kopierens den Betrachterkreis (s)eines Gedankengemäldes zu erweitern. Am liebsten würde ich komplett abschreiben. Aber dann käme ich mir vor wie ein allzu vom Urheberrecht befreiter Herr, vielleicht auch wie der Zuschauer einer Kochsendung, in der die Zubereitung feinster Meeresfrüchte zelebriert wird, der dann aber in den Supermarkt geht, um eine Packung mit Markenfischstäbchen zu kaufen. So getraue ich mich lediglich, ein Amuse-gueule zu servieren, das zudem meine Sichtweise hervorhebt: Man ahnt gar nicht, wie sehr Menschen heute bestrebt sind, zu Werbeträgern zu »avancieren«. Schüler tragen Y-Rucksäcke und Z-Schuhe, ein junger Herr trägt eine dieser Jacken mit dem bekannten Pfotenabdruck, ein anderer macht Werbung für den Kilimandscharo (nein, nicht das Bergmassiv!) und eine junge Frau wirbt für einen berühmten Handtaschenfabrikanten. Ein mittelalterlicher Herr wiederum schickt sich an, für das Unternehmen, dessen Name auf seiner Mütze steht, zu werben. In Anbetracht des Zustands dieser Mütze praktiziert er das auch schon eine ganze Weile. Unentgeltlich, vermutlich. Ein gewisser Landsmann stellt das wesentlich geschickter an — er könnte alleine durch das Tragen seiner Mütze das finanzielle Auslangen finden. Und dabei müsste er noch nicht einmal auf Gänsestopfleber oder Kaviar verzichten. In besagter Tram wird derweil ein nicht mehr ganz so junger Herr mit grau meliertem Haar nach der Uhrzeit gefragt. Er zieht einen Ärmel seines Sakkos hoch und legt damit eine Uhr offen, der deutlich ein Markenname eingraviert ist. Zur selben Zeit zeigen andere Leute draußen im Regen »Flagge«, indem sie ihre Schirme aufspannen, von denen etwa jeder zweite einen Werbeaufkleber trägt.Daß es Märkte geben muß, auf daß der heute beschönigend und irrwegführend zugleich Verbraucher genannte Konsument über das Angebot informiert werde, daran besteht auch für mich partiellen Verweigerer kein Zweifel. Ohne Propaganda wäre viel durchaus Nützliches noch immer nicht angekommen. Daß jemand wie ich bereits vor dreißig Jahren auch ohne Internet zu der Erkenntnis gelangt ist, daß ein Gurkenhobel aus Holz mit darin gebetteten Messern aus kohlenstoffhaltigerem Eisen nicht nur nachhaltiger, sondern auch wirkungsvoller ist als ein modernster aus erdöligem Kunstoff mit Wegwerfstahl, das mag am untergegangenen Bedürfnis nach tatsächlicher Information liegen. Es ist zur Randbemerkung verkommen. Aber daß es in der immer wiß-, richtiger: neugierigen Gesellschaft soweit kommen mußte, daß das ständig um Individualität bemühte Individuum derart die Orientierung verliert, bietet schon wieder eine Neuorientierung. In Phoms Heimatland heißt eine Religionssendung des Fernsehens bezeichnenderweise Orientierung. Interessanterweise ignorieren diese sich über Marken definierenden Individualisten die Tatsache, daß letztlich nahezu alles erforderliche Zubehör aus einem riesigen Lager des Ostens kommt. Aber dort wird bekanntlich das Licht angeknipst, dort geht die Sonne auf, die die Gemeinsamkeit im Guten und Großen voranbringt. Und die hat ihren Preis. Alles muß billiger werden. Da trägt man dazu bei, auch noch als kostenloser Werbeträger für die Senkung der Kosten zu sorgen. Das macht zwar ein paar wenige reich, aber die Masse arm. Doch wer gehört schon zur Masse? Wir sind allesamt Individualisten. Mein heutiger Kommentar möge bitte lediglich als erweiternde Reklamation eines mittlerweile endgültig ungläubig Staunenden gelesen werden. Allerdings belegt diese aus anzunehmenderweise jüngerer Perspektive geschilderte Werbung im Alltag, daß ich noch nicht ganz so abgeschrieben bin wie mittlerweile der größte Teil der Gesellschaft.
Marginale Empörungen Nachdem die Kopfschüttlerin mir einmal mehr vorgelesen hat, (wiederholt) hat vorlesen müssen, bis es auch in meiner Aufmerksamkeit gebührend ankommen konnte, sehe ich mich nunmehr außerstande, weiterhin einen Auszug dessen zu verweigern, was mich seit langem bewegt und mich mit Zeitverzögerung auf das stößt, was auch gesagt werden muß oder besser: gar nicht oft genug gesagt werden kann: «Charakteristisch für die Proteste deutscher Wutbürger/innen ist generell, worüber sie sich nicht empören: die täglichen Abschiebungen von Nicht-Deutschen, Hartz IV, Rente mit 67, Verelendung der abgehängten Unterschicht, Sarrazins menschenfeindliche Thesen, alte und neue Nazis, gleich ob sie höchste politische Ämter auch im ‹Ländle› bekleiden oder mordend durch die Republik ziehen, deutsche Rekorde beim Handel mit dem iranischen Holocaustleugner-Regime — solche Petitessen bringen Wutbürger/innen im allgemeinen nicht aus der Ruhe.» Der gesamte Text von Lothar Galow-Bergemann und Markus Hofmann ist nachzulesen in: Krisis bzw. in Konkret 1.2012
Krieg der Welten. Nationale Sozialisation. Ich bin, wie sicherlich viele andere auch, gewissermaßen abgestumpft. Es mag daran liegen, daß ich zu den ewigen Langsamdenkern gehöre, für die in einer sich immerfort modernisierenden Gesellschaft kaum Platz ist. Zwar bin ich immer irgendwie bemüht, die Ereignisse dieser Welt zu vertiefen und auf diese Weise differenziert zu betrachten, indem ich möglichst viele Einzelheiten heranziehe, die über die Oberflächlichkeit, bisweilen auch vorgefilterte Berichterstattung hinausgeht. Aber oftmals scheine ich angesichts der Masse der Vorkommnisse zu scheitern. So geschieht es immer öfter, daß ich mich in meiner zusehends verhärtenden Unbeweglichkeit und wohl auch altersbedingt auf Sicherheit bedacht auf das konzentriere, von dem ich meine, ohnehin etwas mehr davon zu ahnen. Daraus mag dann eben manchmal kalter Kaffee entstehen. Aus diesem meinem Zustand des Sedierten herausgerissen hat mich allerdings das Ereignis in Norwegen. Es geschah ebenfalls mit der mir obligaten Verzögerung, aber anders gewichtend als bei der Ungeheuerlichkeit dieses 11. Septembers vor elf Jahren, als ich nach einem lebensrichtungsverändernden Ereignis in einer lang, bis heute anhaltenden Phase der Rekonvaleszenz gemütlich im Lehnstuhl sitzend am Bildschirm zuschaute, wie ein Flugzeug in einen Wolkenkratzer raste und darin explodierte. Ich war sicher, hier müßte es sich um eines dieser fiktiven Realitätsvor- oder Nachstellungen handeln, mit denen wohl Orson Welles in Krieg der Welten 1938 angefangen hatte und die mittlerweile als beliebtes dramaturgisches Mittel nicht nur bei Privatfernsehsendern Konjunktur zu haben scheinen. Auch nachdem ich es ein fünfzehntes oder neununddreißigstes oder hundertstes Mal gesehen hatte, war ich mir nicht sicher, ob hier nicht doch ein paar ganz gewiefte Programmgestalter an der Schraube zur Einschaltquote gedreht hätten. Mittlerweile scheine ich tatsächlich an der Station angelangt zu sein, die Nonfiktionalität anzuerkennen. Beim Vorkommnis in Oslo und der niedlichen Fjordinsel vor einem dreiviertel Jahr hielt meine Begriffsstutzigkeit nicht so lange an. Vielleicht liegt es daran, daß meine Synapsen noch immer ein wenig von einst skandinavischen Heimatgefühlen durchpulst werden und ich nach meinen wenigen Besuchen im Nordwesten dem Völkchen so etwas wie familiar bestimmte Sympathie entgegenbringe, die in einer kulturellen Eigenständigkeit wurzeln könnte, die möglicherweise nur noch Randerscheinungen der großen Welt zu erbringen in der Lage sind. Andererseits mag es sein, daß ich ein aus grundsätzlicher Opposition heraus arg schlichter Befürworter von Minderheiten bin. Ich drücke den Färöer-Inseln sogar beim Fußballspiel gegen Les Bleus die Daumen, obwohl Frankreich meines Wissens nie versucht hat, diese paar Eilande zu kolonialisieren. Sozusagen nachhaltig erschüttert bin ich von der Tatsache, daß da ein einzelner einfach mal eben fast hundert Menschen dahinraffen kann, ohne daß die Polizei eingreift. In Frankreich wäre das nicht passiert, vermutlich noch weniger in Deutschland, jedenfalls nicht mehr nach dem Anschlag während der olympischen Spiele in München, als die Sicherheitshüter noch wirrer durcheinanderrannten als die vor einem knappen Jahr auf Utøya. Aber das ist wohl das Opfer, den die vom Frieden Bewegten zu erbringen haben. Und selbst wenn das norwegische Parlament reagiert hätte wie vermutlich das deutsche mit einer erheblichen Verschärfung der Gesetze, die Sicherheit wäre dadurch kaum erhöht worden. Wer wäre wirklich in der Lage, die auf diese Weise zu garantieren? Der Wirklichkeit des Wahnsinns, ob nun genetisch bedingt oder durch Sozialisation, ist nicht beizukommen. Man bleibt also friedlich bedacht da oben am nordwestlichen Rand des Weltgeschehens. In dessen alter, europäischer Mitte bewegt das Sicherheitsbestreben weitaus weniger. Selbst ein erhöhter Glaube an die Macht des Staates, der Staat selbst ist nicht in der Lage, Morde zu verhindern, obwohl er das eigentlich können müßte. 1972, so wurde mir kürzlich öffentlich-rechtlich zugetragen, saß eine Eingreiftruppe auf gepackten Gewehr- und wahrscheinlich auch Granatenkoffern, um den palästinensischen Attentätern Einhalt zu gebieten. Sie kam nicht zum Zug, da deren Existenz ein Geheimnis bleiben sollte. Denn er war für beziehungsweise von einem geheimen deutschen Dienst geschaffen worden, um im Angriffsfall durch die Russen diese quasi hinterrücks niederzukämpfen. Nun gut, das war kalter Krieg. Heute ist das kalter Kaffee. Aber ist es das auch angesichts eines heutigen Verfassungsschutzes und wer weiß wie vielen schnellen Arbeits- oder Einsatzgruppen, die nicht in der Lage sind, eine Ansammlung von Verbrechern daran zu hindern, andere Menschen umzubringen und weiterhin menschenverachtende Botschaften via Konzertveranstaltungen und ähnlichem zu verbreiten? Mir erscheint das als eine gegenteilige nationale Sozialisation. In Norwegen übersieht man, soweit meine Informationen dazu ausreichen, keineswegs die Problematik, die durch völlig irrwegig zusammengeschusterte historische Details zustandekommen können, gebündelt zu einem hochexplosiven Paket. Dennoch bleibt man gelassen, man setzt auf eine weitere, verbesserte Demokratisierung. Daran ändert auch nichts ein Laienrichter, der sich als ein nicht minder Verblendeter, letztendlich genauso als Radikaliist erweist. Der Rechtsstaat reicht dem Angeklagten zur Eröffnung der Schlacht die Hand und erteilt einem Platzverweis, der wie der vor Gericht Stehende zum Mord aufruft. Ich bezweifle, daß in Deutschland ein solcher Vorgang in ein paar Minuten abgewickelt worden wäre, auch, daß innerhalb eines so relativ kurzen Zeitraumes dieser Prozeß zustandegekommen wäre. Weit über zehn Jahre liegt es zurück, daß eine sich offenbar nach einer einst überaus volksbeliebten Motorradmarke nennenden Gruppierung angefangen hat zu morden. Deren Anfänge reichen noch weiter zurück, meines Erachtens nicht nur in die neunziger Jahre, sondern sie dürfte viel tiefer in einer Mentalität wurzeln, die bei weitem nicht alleine bei den Ossis zu suchen ist. Dennoch wird man nicht fündig. Ich mag nicht teilnehmen an einer deutschen Diskussion darüber, ob einem Breivik ein Portal für sein irres Weltbild geboten, ihm zugehört werden soll. Es existiert längst, auch im besten Deutschland aller Zeiten hat es seine Rénaissance erfahren. Aber machen wir's doch wie bei Radio Hirn will Arbeit. Dort, in der der wertfreiheitlichen Aufklärung verpflichteten öffentlich-rechtlichen Anstalt mit auffälliger Portalöffnung für diesen EINEN lassen sie einfach einen im Knast missionierenden Priester sprechen, der da in aufgekratzer Sanftmut meinen darf: Der Herr wird's schon richten, in etwa: ER wird alle (re-)sozialisieren und integrieren. Lasset uns glauben. Ob buddhistisch, christlich, jüdisch, muslimisch oder wie dieser angeklagte national-norwegische Kämpfer mit seiner Anti-Global-Ismus-Religion. Das rettet die Welt. Friede sei mit ihr.
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