An der postmodernen Zivilisation erkranktes Griechenland. Ein Postwunsch.

Ausgeliehen bei Eduthek Schule Austria

Als die Post modern wurde, kamen die Zivilisationskrankheiten endgültig über uns. Das war in den achtziger Jahren, gut zwanzig Jahre, nachdem ein US-amerikanischer Literaturwissensschaftler mal wieder einen handfesten Begriff aus dem ungestümen wilden Westen ins mittlere Europa blies. Dessen Bruder lieh sich die schlagzeilige Formulierung aus, transponierte sie in die Architektur, womit die mitteleuropäische Bevölkerung endlich sprachlichen Halt fand in der sich ankündigenden Flutwelle der heutzutage nahezu ausnahmslos unter dem Schlagwort Globalisierung im Umlauf befindlichen Verquickungen. Seither wird hierzulande fröhlich kombinierend kolportiert, ob die Historie nun korrekt aneinandergereiht ist oder bisweilen komische Überkreuzwege nahm oder auch nicht.

Auch ich ehemaliger Purist kam spät, aber dennoch unter dieses Landunter, aber erst, nachdem ich definitiv erfahren hatte, welche Tristesse die dauerhafte, sich letztendlich auch als eine politische erweisende Korrektheit in mir erzeugte. Anders als die meisten meiner irdischen Mitbewohner, die mit zunehmendem Alter auf eine Wahrheit hinsteuern, die als die einzige, quasi göttliche gilt, begann mich das Durcheinander zu begeistern, gemeinhin — einmal mehr darf mein Lehrer Brockhaus mir zur Hilfe eilen — weniger unter dem griechischen χάος und vielmehr als Chaos bekannt, ein alltagssprachlich auch als Tohuwabohu bekannter, aus dem Buch der Bücher übernommener diffuser Gegenbegriff zur beispielsweise unter Deutschen sehr beliebten Ordnung und Sauberkeit, besonders beliebt bei Reklamationen gegenüber Reiseveranstaltern, die auch die Levante im Programm haben, und in Bekanntschaftsanzeigen, die Offenheit nach allen Seiten hin bekunden. Vorherrschend sein dürfte dabei vermutlich die Kluft, aus der das Wort seine eigentümologische Wurzel zieht, die zwischen deutschen Tugenden und deren gähnenden Leere besteht. Und da in dieser Leere sich nichts weiter Bedeutsames befindet, erachtet man sich auch keine weiteren Gedanken darüber zu machen, daß das Chaos Physiker seit weit vor der Gründung europäischer Kultur in Griechenland rätseln läßt, was es mit dem Universum auf sich haben könnte. Eine langjährige gute Bekannte, so etwas wie eine Freundin, also eine richtige, nicht so eine des eher zufälligen Häkelmusters Livre de face oder auch der rictuisierten Fröhlichkeit, wo Zahlen lediglich zur algorythmisierten Penunzenmacherei dienen, beschäftigt sich nicht erst seit Einführung der modernen Post als, wie auch anders, Künstlerin mit den verschiedenen Chaostheorien und landete bei Mathematik und Primzahlen. Das hat mir aus den Mysterien dieser Rechnerei zwar ebensowenig herausgeholfen wie auch das Töchterlein aus denen ihrer spezifischen Natur-wissenschaft Zellforschung. Aber es hat mir immerhin eine Anleitung zum Landen inmitten der Unebenheiten des Urseins gegeben. Womit ich wieder bei den Griechen gelandet wäre, waren sie es doch, die sich laut allgefälliger Geschichtsschreibung als erste dafür interessierten, aber zu keinem nennenswerten Ergebnis kamen, zu keiner entmystifizierenden Welterklärung, ansatzweise vergleichbar mit Rudolf Bultmanns Versuch der Entmythologisierung. Dieses unverständliche Durcheinander wird auch der Grund dafür sein, daß Lieschen und Fritzchen oder Marius et Jeannette sich für den Urzustand der Welt nicht sonderlich interessieren. Ich habe mich dem angeschlossen und ignoriere seit meiner chaotischen Erleuchtung die Bergschlucht auf den Peleponnes. Da steckt mir zuviel des altnordischen urzeitlichen Ginnungagab drinnen. Das ist eher was für Münchner Oberstadtregenten mit Zielrichtung Landesväterei, die seit Jahrzehnten in Griechenland urlauben und dort vermutlich die Werdung Bayerns suchen:
Urzeit war es, da Ymir hauste:
nicht war Sand noch See noch Salzwogen,
nicht Erde unten, noch oben Himmel,
Gähnung grundlos, doch Gras nirgend.
Das habe ich jetzt aus der Volksbildungsanstalt Wikipedia geborgt.
Die Konservativen also, die Bewahrer der Kultur, bleiben hingegen dabei, daß die nunmal aus Griechenland zu kommen habe. Daß das Land pleite ist, interessiert die nur marginal, allenfalls dort, wo man ihnen vermeintlich in die Geldbörse zu greifen beabsichtigt. Die kulinarischen Verheißungen kennen sie ohnehin nur vom gehobenen Griechen um die Ecke, der als Gastarbeiter lieber hiergeblieben war, weil er zuhause nicht mehr essen wollte. Deshalb kultivierte er die fremdheimisch gewordene Kost auch insofern, als er sie, wie gleichzeitig die Italiener, dem Geschmack seiner Gastgeber anpaßte. Dabei bewies er ein geradezu ungeheuerliches Talent, nicht behördenrecht erschaffenes Geld nicht abgeben zu müssen. Er erschuf die Taverne, meist unter Mykonos oder ähnlichen Titeln bekannt. Sirtaki wurde in den gemütlichen Stuben getanzt, bacchanalisch berauscht von Weinstöcken entnommenem Harz, man aß nebenbei mit Oliven angereichertes Öl, auch Auflauf genannt. Den gab es zwar nicht gerade in den Anfangszeiten dieser lukullischen Weltöffnung, doch mit der sangesfreudigen, weiße Rosen aus Athen herbeisingenden späteren Unicef-Sonderbeauftragten Nana Mouskouri, nach der vermutlich Mousaka, das deutsch-griechische Standardgericht vereinter Hinterhöfe, benannt wurde, wurde der weltoffene Konservative bald vertraut, mußte er doch Gaumen und Zunge wie gewohnt nicht sonderlich anstrengen, denn:
Die griechen haben fisch schon immer trockengegrillt serviert, was für freunde der holzkohle ein gaumenschmaus sein mag, für mich ist es nichts. vielleicht haben sie auch deshalb von der zubereitung in butter abgesehen, weil sie damit deren zukünftiges fehlen auf dem brot abwenden wollten, schon jahrhunderte zuvor, aber wie man erfahren hat, hat es nichts genutzt. wie ja überhaupt ein griechisches kochbuch mit 20 seiten und einem rezept je seite sein auskommen findet. es gibt wenig tristeres als die dort servierten, in olivenöl ertränkten speisen. ich glaube ja nicht, dass der verzehr des dortigen olivenöles die griechen älter werden lässt als den rest der europäer, und wenn, dann nur indirekt: weil sie von ihrer seltsamen kost nur wenig essen, weil sie ihnen selbst nicht schmeckt, erreichen sie die mitteleuropäischen ‹zivilisationskrankheiten› nicht in dem umfang wie westlich des balkans. das wort ‹zivilisationskrankheiten› verdiente eigentlich einen eigenen ausführlichen post, finden sie nicht auch?
Enzoo, übernehmen Sie! Sie haben schuld an meiner unkungfutzuianischen Konfusion, Sie haben schließlich damit angefangen. Denn meine Wirrnis, diese Krankheit dürfte mit der offensichtlich aus Griechenland stammenden Zivilisation zu tun haben. Ich bin ratlos, zumal ich griechische Tavernen allenfalls zwei- oder dreimal aufgesucht habe. Und immerzu muß ich bei der derartigen Kultivierung an eines denken: ans Geld. Jetzt haben nämlich diese Griechen auch noch Deutschland hinunter- oder wie es im reduzierten Wortschatz der einheimischen Kosmopoliten heißt, heruntergeratingt, wie gedownloatet. Mehr fällt mir dazu nicht ein. Das Wetter ist schuld. «Das Blau des Himmels, das Weiß der Wolken». Wie in Bayern, wo lediglich das Weiß vor das Blau geratingt wird. Wo dessen künftiger roter, nämlich sozialistischer Landesvater herstammt, aus Isar-Athen. Sonnendurchflutetes, vom Föhn verwirrtes Griechenland. Genaugenommen ist das ohnehin Ihr Part. Schließlich hatte Ihre Österreicherin gewordene einstige Landesmutter Sisi dort ihre nicht nur geistigen Latifundien, da beißt eine bayerische Herkunft sowie ein solcher gegen Multikulti gewandter Kini keinen Faden ab. Also hochkulturell: Die Sonne bringt es an den Tag.
 
Do, 26.07.2012 |  link | (1921) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Aus der andern Welt



 

Fortgesetzte, sich überkreuzende Wege im Déja-vu

Er war sich nicht darüber im klaren, worauf die Frau abzielte. Er wandt sich ihr näher zu, rückte gar seinen Stuhl ein wenig nach rechts, um ihr Gesicht genauer in Augenschein nehmen zu können. Sie erschien ihm sympathisch, die Vermutung, sie könnte sich über einen vermeintlichen Grad der Bekanntschaft die seine erschleichen wollen, wurde augenblicklich auf Distanz verwiesen. Aber er konnte sich nicht an sie erinnern. Doch er ging darauf zunächst nicht ein. Es mochte schließlich sein, daß er mit seiner euphorischen Übersiedlung in den Süden bereits die komplette Vergangenheit verdrängt hatte. Doch eine Blöße wollte er sich nicht geben, die darauf hindeuten könnte, er sei ignorant. So bemühte er sich um gedankliche Annäherung, indem er sie nach dem Gemälde fragte, wo sie es denn gesehen habe. Er könne sich nicht daran erinnern, sie je als Gast begrüßt zu haben, denn es ziere seine wohnunglichen Wände. Im Original sei es ihr auch nicht bekannt, erwiderte sie. An einer Wand habe sie es dennoch gesehen, und zwar als Lichtbild. während eines Vortrags über zeitgenössische Malerei. Sie habe es wie gestern im Gedächtnis, da es sie vor allem deshalb beeindruckt habe, mit welch schlichten materiellen Mitteln ein Maler eine solche Ausdruckstärke herzustellen in der Lage sei.

Er kam ins Grübeln, heftig suchte er in seinem nicht nur im Süden, sondern auch wegen seines ein paar Jahre zuvor erlittenen Gedächtnisverlustes reduzierter gewordenen Erinnerungsvermögen nach einem Anhaltspunkt. Der Künstler war kaum bekannt, auch heute nicht. Sein Werdegang war bestimmt wie der so vieler seinesgleichen, die sich keine Zeit nahmen oder nehmen wollten oder auch wegen ihrer Zurückhaltung nicht konnten, sich auf dem Marktplatz der Kunst anzupreisen. Dabei war es sicherlich ein besonders Erschwernis, aus der DDR zu kommen und nicht figurativ zu malen wie etwa ein Bernhard Heisig oder ein Werner Tübke. Ins Land des sozialistischen Realismus war der Maler aus Israel eingewandert, wo der Kommunismus, den er im Kibbuz lebte, abzubauen drohte. Kennengelernt hatte er ihn durch einen Freund und Kollegen, der den unter freieren Geistern als stille Größe bekannte Künstler aus seiner Ost-Berliner Zeit als Kulturreferent des Amtes für innerdeutsche Beziehungen erlebt hatte, kurz nach seiner Übersiedlung in den Westen, der letztendlich doch ein wenig mehr Freiheit zu bieten schien. Seine Freiheit äußerte sich darin, in einem ärmlichen Kellerloch mit den zu großen Teilen mitgenommenen schlichten Materialien zunächst die Sujets weiterzuführen, die den einstigen Theatermaler in Anklam, Dessau und Meiningen in Atemnot hielten: die Tristesse, die dieser Staat ausstrahlte. Als er durchatmen konnte und er sich, wie zur Zeit in der späten Ostzone, einen kleinen Freundes- und Liebhaberkreis um seine Gemälde versammelt hatte, geriet er in eine quasi biblische Strömung. Es waren Kreuzwege, die der Jude fortan zu malen bereit war. Scheinbar religiöse Fragen entzweiten sie denn auch. Er hatte eine Petition unterschrieben, die für die Aufführung am Frankfurter Schauspiel des Theaterstücks Der Müll, die Stadt und der Tod von Rainer Werner Fassbinder plädierte, da er wie auch seine jüdischstämmige Gefährtin der Meinung war, Wirklichkeiten sollten bisweilen tatsächlich figurativ abgebildet werden dürfen. Der Künstler wehrte sich trotz seines an sich stillen Temperaments vehement dagegen. Der einst für seinen Freigeist Bekannte hatte sich Mitte der achtziger Jahre heiligen Sujets zugewandt und Kreuzwege gemalt. Einstige Querwege schienen nicht mehr begeh- und malbar. Zwar entstand kein Religionskrieg zwischen ihnen beiden, aber eine Freundschaft zerbrach an Glaubensfragen, weil sie politisch geworden waren. Dennoch zeigte er die Gemälde gerne.

Gil Schlesinger, Acrylfarbe auf Packpapier, um 1973, ca. 90 x 100 cm; hier leicht beschnitten. © jst

Das änderte nichts daran, sich an einer Abzweigung zu befinden, von der er nicht wußte, wohin er gedanklich gehen sollte, um dem Weg auf die Spur zu kommen, die diese Frau neben ihm zu ihm geführt haben soll. Er sah sich also gezwungen, sie zu fragen, wo sie dieses Gemälde an einer Wand habe leuchten sehen.

Mitte der achtziger Jahre sei es gewesen, antwortete sie bestimmt, genauer 1988, ziemlich genau vor vierzehn Jahren. Einen Vortrag in einem kleinen Museum Norddeutschlands, wo sie herkäme, habe er gehalten über zeitgenössische Kunst, Aufhänger sei die vergangene Documenta gewesen. Währenddessen habe er auch dieses Bild an die Wand geworfen. Es sei ihr nachdrücklich in Erinnerung geblieben, da sie ihn darauf angesprochen und er ihr bereitwillig und alles andere als in dürren Worten Auskunft erteilt habe.

Wie seit dem Ereignis, das er Umfall nannte, das sich mit Sirren, nicht Sirenen angekündigt hatte, war er einmal mehr gezwungen, heftig in seinem Vergangenheitsfundus zu wühlen. Er hatte so manchen Vortrag gehalten, auch in Norddeutschland, was daran gelegen haben mag, diesen Landstrichen seit je Sympathie entgegengebracht zu haben, in kleinen Häusern der Kunst zudem, da er dort mehr Aufmerksamkeit vorfand als in den heiligen Hallen der Großkultur, in denen in der Regel dem gesellschaftlichen Ereignischarakter der Vorzug eingeräumt wurde. Überdies wurden die oftmals auch nicht schlechter honoriert als etwa Ausstellungseröffnungen in renommierteren Museen, da häufig ein interessierter Kreis dahinter stand, dem ab und an eine örtliche Sparkasse oder gar eine Bauernbank Veranstaltungszuschüsse zukommen ließ, während bekanntere Häuser fast ausnahmlos nicht in der Lage waren, ihre Etatgrenzen zu überschreiten. Während er das gedanklich abschritt, kam etwas Licht in seine schattenhaften Erinnerung. Das niedliche Städtchen Schleswig tauchte schemenhaft auf. Dorthin hatte ihn die lieber dem Überschaubaren dienliche Direktorin einer kleinen Kunstschaubude in der Nähe Cuxhavens hin vermittelt. Ob es der Ort dieser Veranstaltung gewesen sein könnte, fragte er sie.

Mit derselben Entschiedenheit wie zuvor schon verneinte sie. Schleswig kenne sie nicht einmal. In Rendsburg sei es gewesen. Und weitaus gesprächiger sei es zugegangen damals, jedenfalls weitaus gesprächiger als jetzt gerade. Die Frau wurde ihm unheimlich in ihrer Bestimmtheit. Er war sich sicher, noch nie in Rendsburg gewesen zu sein. Er wußte nicht einmal, wo Rendsburg liegen und ob es dort eine Stätte gab, an die es ihn gezogen haben könnte. Er spürte zusehends das Verlangen, sich in sein Inneres zurückzuziehen.


Das tue ich jetzt auch. Es ist Zeit fürs Mittagsschläfchen. Morgen erzähl' ich die Einschlafgeschichte weiter.
 
Di, 24.07.2012 |  link | (2291) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 

Südlich erleuchtetes, tieflinksrheinisches Déja-vu

Seit er sich aufs längerfristige, vermutlich ewige Dasein an la Mer Méditerranée, an la Grande Bleue, aus dem die Schaumgeborene entstiegen war, eingerichtet hatte, stand er gerne früh auf, der eigentliche Langschläfer. Meist wurde er geweckt durch den Balayeur, der noch vor sechs Uhr mit seinem treckergleichen Gerät um das am Cours Belsunce gelegene Centre Bourse herumkurvte, um den nach der letzten abendlichen Straßenfegerei neu entstandenen und irgendwie einfach zum Stadtbild gehörenden, ihn auch nicht, wie in anderen Städten, weiter irritierenden Müll wegzusaugen. Der zu ihm in die zehnte Etage hinaufdringende Lärm störte ihn nicht sonderlich, es war ein sonores Brummen und kein ihn jedesmal aufschreckendes Knallen wie das der Fußbälle gegen das Gatter des Lieferantentors des Einkaufszentrums, die die Kinder bis morgens um drei und manchmal auch um vier dagegendroschen; in diesem Alter schert man sich noch nicht um Schlafbedürfnisse anderer, schon gar nicht während der Sommerferien. Es war eher wie das Grummeln eines in einem entfernten Raum oder im Nachbarappartement stehenden Weckers. Es war eben die Stadt, in der man den Vierundzwanzigstundenkrach erfunden hatte, weil man kurz vor Afrika nunmal keine Mittags- und Abendruhezeit kennt wie im größten Dorf der Welt, der weißblauen Metropole, aus der er seit bald dreißig Jahren fliehen wollte und er es nun endlich geschafft hatte. Hier wurde aus der einstigen Nachteule eine Lerche, ein zu früheren Zeiten ungeahnt früher Vogel, der um den noch geschlossenen, auf ein gigantisches Griechenklo, gegen das Wirtschaftswachstum kommt im Land keine noch so große Ansammlung archäologischer Scherben an, betongesetzten Kaufrauschbunker herumgehen mußte, um sich gemächlichen Schrittes in Richtung des fünf gemütliche Gehminuten entfernten alten Hafens sich aufzumachen. In der Regel nahm er den Weg entlang des Cours Belsunce, ließ den nicht sonderlich beschaulichen Busbahnhof auf der Rue Bir-Hakeim rechts liegen und ging bis hin zur einstigen Prachtstraße Canebière, bog dann nach rechts ab, begrüßte allmorgendlich das noch nicht von kleinen Kindern und deren Müttern friedlich belagerte Karusell, nickte dem ebenfalls noch ruhenden vertrauten Office de Tourisme zu, deshalb, da eine dort tätige Dame zum Entschluß der Umsiedlung beigetragen hat, holte sich bei der Bäckerin an der Ecke Rue Beauvais und Rue Bailli de Suffren ein Schoko-ladenhörnchen, ein paar Schritte weiter das Gäßchen hinunter an seiner Einmündung zum Quai des Belges eine Tageszeitung und nahm in der rasch zu seinem Frühmorgenbüro gewordenen Bar seine doppelten Café, um zunächst einmal nichts anderes zu tun als den Mädchen in die Taschen zu schauen. Nach den lustvollen Blicken über Zeitung und Cafétasse hinweg würde er einen Rundgang schlurfen, ein schwäbischer Autor nannte das widerrechtlich schlurgeln, das bedächtige Vor-sich-hin-Trotten, zu den Fischen am Rand des Hafens hinüberschauen, die Fischerfrauen freundlich grüßen, von denen er sich vorgenommen hatte, sie bald persönlich anzusprechen, auf daß sie sich beim nächsten Mal seiner erinnerten wie eines Alteingesessenen, ein paar Schritte über den sich belebenden Quai Rive Neuve zu gehen, um in der Bar Marengo dann von den großen Tassen auf die kleineren umzusteigen und den Journalisten der Marseillaise beim noch hektikfreien Morgen-geplaudere und den übriggebliebenen Bordsteinschwalben aus der ebenfalls nahegelegenen Gasse Rue Glandèves bei ihren müden Nach- und Nachtberichten zuzuhören. Wenn die Mittagshitze sich ankündigte, würde er ins für längere Zeit, jedenfalls so lange, bis eine Wohnung gefunden wäre, angemietete klimatisierte Hotel zurückschlurgeln, ein wenig das tun, wofür er auch im Süden bezahlt wurde, ein paar Telephonate tätigen, Aufsätze lesen, sie redigieren, dann ein bißchen schlafen und gegen späten Nachmittag denselben Rundgang noch einmal machen.

Ausgeruht und fast so guter Dinge wie am frühen Morgen war er wieder an seinem Ausguck mit Blick auf die gazellenhafte, jedoch mittlerweile bedächtiger gewordene Rasanz um die Bushaltestelle angelangt. Um seinem sich hier in dieser Stadt ständig aufkommenden Willen der Arbeitsver-drängungsmaßnahmen zu widerstehen, hatte er sich seinen kleinen trag- und klappbaren Computer mitgenommen, um wenigstens den Versuch zu unternehmen, noch ein wenig zu Tuendes zu erledigen. Er hatte dennoch an einem Tisch Platz genommen, an dem ihm nichts von dem angenehmen Gewusel an diesem Bereich dieses Nœud routier, dieser immerzu rasenden Verkehrsknotenschleife Quai des Belges verborgen blieb. Der kleine weiße Rechner erregte zwar geringes, eher naserümpfendes wie über seine, im Land inconvenante, unschicklich oder ungehörig große Voiture, aber schließlich doch Aufsehen. Der den Pastis servierende Kellner bat, einige Fragen dazu stellen zu dürfen. Die Bitte kam ihm nicht ungelegen, war das doch eine günstige Gelegenheit, nicht arbeiten zu müssen. Er bejahte, klappte wie beiläufig den kleinen angebissenen Apfel auf und schaltete ihn ein. Den Garçon de café interessierte die Qualität der Bildwiedergabe, denn er denke seit einiger Zeit darüber nach, sich trotz des hohen Preises eventuell auch einen solchen Rechner zuzulegen, denn man höre schließlich Wunderdinge. Er suchte kurz in seinem Bildarchiv nach einer geeigneten Vorlage, die auch feine Farbabstufungen demonstrierte. Es war seiner beruflichen Tätigkeit gemäß, ein zeitgenössisches Gemälde zu zeigen. Beide plauderten noch ein Weilchen, bis der Serveur sich für die Auskunft bedankte und zugleich dafür entschuldigte, sich nun wieder um seine Gäste kümmern zu müssen. Kaum daß der Kellner abgedreht hatte, wandt vom Nachbartisch her sich höflich und dezent eine Frau an ihn, entschuldigte sich in bemühtem Französisch, dem die deutsche Ursprache zu entnehmen war, für die Ungebühr, einfach so in sein Innenleben hinein-gelugt zu haben, und merkte beiläufig an, dies getan haben zu müssen, da sie dieses Gemälde nun tatsächlich schon einmal gesehen und es seinerzeit bestaunt, wenn nicht gar bewundert habe in seiner protestantisch wirkenden, geradezu demütigen Aussage. Aber auch ihm selbst sei sie, stiekum ins Deutsche überwechselnd, bereits einmal begegnet.

Gil Schlesinger 1979, Acrylfarbe auf ungrundiertem Sackleinen,102 x 106 cm. Photographie © Jean Stubenzweig

Da ich befürchte, dies könnte eine längere Geschichte werden, deren Ausmaß ich noch nicht kenne und das ich schlichtweg ignoriere, ich bin doch nicht beim Rundfunk oder bei der Zeitung, die, wie bei mir üblich, gewaltiger als zur Hochtide am wienerischen Nordstrand, über die Deiche treten und die Lesegeduld überstrapazieren wird, setze ich sie morgen fort. Mir ist so nach Niedrigwasser und zudem befohlen worden, aus dem Haus zu gehen, auch wenn's nach wie vor weh täte im Gestell, ich hätte nämlich schlicht zu wenig Helle, vergleichbar mit den letzten Worten des Herrn Geheimrath und frei nach Friedell und Polgar, mit mehr Licht sei zu wenig Milch im Kaffee gemeint; dabei vermiest mir dieser Eutersaft, aber nur wenn er in den Kaffee gerät, jeglichen Genuß desselben. Nun ja, eben habe ich einen um die Ecke blinselnden Sonnenstrahl gesehen. Es zwingt mich schließlich niemand und nirgendwo hin, kein Canossa, und auch kein Spaziergang ist erforderlich, das Entenherz pumpt ja wieder, um mir Obst und auch Pastis und Wein zu liefern. Da setz ich mich eben auf eins der nicht nur für Schaukelstuhlgealterte, sondern auch für jüngere den Schatten Schätzende geignete Bankerl, auf das vor der Résidence d'été mit dem Sommer-Tucholsky oder auf das vorm Teich, in dem die Karpfen des Weihnachtsschlachtens harren.
 
Mo, 23.07.2012 |  link | (2436) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 







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