Immer wieder neue romantische Ballspielereien

Dieser deutliche Gegensatz hat meines Erachtens auch nie so bestanden. Es ist vermutlich auch die Zeit, die «man», als in die Breite gehende Bevölkerung, sich heutzutage trotz vielfacher Konditionsübungen nur unter argen Denkerschwernissen vorstellen kann. Es war schließlich eine Epoche der Gottesfürchtigkeit, der auch viele Aufklärer zutiefst verbunden waren. Aber einige wagten, akademisch hin oder her, sich eben an neue Fragestellungen. Dabei wurden viele in Rückzuggefechte mit sich selbst, aber eben auch in der Gemeinschaft mit anderen verwickelt. Das Bewahren oder gar Herstellen des Geheimnisvollen war dabei ein Teilbereich, in das manch einer, Frauen durften ja noch nicht so recht, da ihnen seitens der alles bestimmenden Herrschaft geistige Minderbemittelheit attestiert wurde, die waren im wesentlichen zuständig fürs Fühlen, der, so mein Eindruck, als eben diese Reduktion übriggeblieben ist. Man redet über die Ankunft auf dem Kriegsgott Mars und steht doch mit beiden Beinen allenfalls in der Klassik, die meisten sind noch nicht einmal in der Revolution angekommen.

Ihr verehrter Geheimrath, der von mir nicht so verehrte — na gut, ich verehrte (kaum) eine und verehre seit langem schon keine Geistesgröße mehr, schon gleich gar keine der Pyramide der Hierarchien, bin vorbildlos, das gab mir mein Vater als Kompaß mit auf den Lebensweg, ich finde mich auch ohne Navigator recht gut zurecht, die Ente in meinem Kopf steuert seit längerem von alleine die Romanik, denk den Süden an. Dieser Vorstandsvorsitzende einer ganzen Nation hatte ohne jeden Zweifel einen gebildeten und auch klugen Kopf obendrauf, und der Werther hat aus meiner Perspektive des Grases betrachtet ohnehin etwas Romantisches im geistigen Blut, wie viele seines damaligen Denkens. Möglicherweise hat er ihn gar in der dunklen Kaschemme der Romantik geschrieben. Er hatte allerdings seine Probleme mit solchen Wirrköpfen, wie Jean Paul ihm einer war, er war ihm das «personifizierte Alpdrücken der Zeit», überhaupt war ihm das romantische Verständnis von Humor ein Greuel, er als Klassiker brauchte die Form, das fröhliche Formlose, denken wir dabei an Kindereien, war ihm zuwider, das Klassische sei das Gesunde, das Romantische aber das Kranke. «Der Humor als das umgekehrte Erhabene», da ist es wieder, das Erhebungsvolle der Klassik, «vernichtet nicht das Einzelne, sondern das Endliche durch den Kontrast mit der Idee.» Das Endliche. Die Abneigung zwischen ihm und Paul beruhte auf Gegenseitigkeit.

Überhaupt oder besser nebenbei, der deutsche Hochmeister des denkerischen Dressurreitens, ich gerate dabei assoziativ leicht an die Pflicht im Eiskunstlaufen, sehe vor mir die wunderschön akkuraten Synchronitäten weiblicher Wasserspiele oder anderer Friseusensportarten, lehnte die französische Revolution entschieden ab. Logisch, das ging schließlich auch gegen ihn, den Höfling. Er als Gründer des Vereins Klassik, der einem Fußballclub gleich die Deutschen bis heute vereint, dieser FC Goethe bestimmt bis heute die Regeln, an die man sich im Spiel Ästhetik gegen Schönheit hält. Dabei gewinnt, das ist hinlänglich bekannt, immer nur ein Verein gleich einem vereinten Land oder zumindest dessen denkerisches Regelwerk. Beim Spiel FC Goethe gegen FC Paul assoziiere ich, um im Bild zu bleiben, Eintracht Frankfurt (wegen Aufkärung und so unbedingt ebenfalls empfehlenswert Fußball-Fieber). Den Fußballern dieses Vereins, der einzige, nach dessen Spieler-gebnissen ich auch noch nach Jahrzehnten immer wieder schaue, wohl weil ich in dem mal kopf- und auch helmlos verzückt den Puck berührt habe, wurde eine Zeitlang nachgesagt, sie stürben in Schönheit. Ich sterbe lieber in dieser Art von Humor des offenbar ziellos Spielerischen, als mich in einem perfekten System noch zehn Jahre länger, also quasi endlos zu langweilen, dort, wo nur ein Sieg zählt. Ich halte es dabei mit Ralph Köhnen, der zwar einen anderen Verein und andre Spieler damit meinte, das aber als Metapher für meine Ansicht auf meinen bevorzugten Teil deutsch-romantischer Literatur und der damit verbundenen Gesellschaftigkeit Gültigkeit hat:
Dem Diagonalpaß fehlt jede Langeweile, er ist äußerst riskant, eröffnet Räume, ist ein di-agon: blitzschneller Flirt des Auges mit der Tiefe des Raumes, abgesetzt gegen die öde Breite des Feldes, Beschleunigung, in der der Ball zum Signifikanten wird, ein «zwischen Fall und Flug noch unentschlossener», der, im Faszinosum des Flugs und der nie ganz sicheren Ankunft, «den Spielenden von oben / auf einmal eine neue Stelle zeigt, / sie ordnend wie zu einer Tanzfigur.» (Rilke, Der Ball) Der Diagonalpaß schafft überraschende Konstellationen. Er ist so schnell wie sensibel und formuliert einen Spielstil gegen unintelligente Kraftmeierei, gegen das Ermauern von Punkten unter dem Diktum, hinten dicht zu machen, auf das vorne der liebe Gott helfe, er ist gegen die Anspruchslosigkeit des Querpasses und die blanke Beleidigung, den Rückpaß, gegen schiere Bankkontenbewegung und verbissene Athletik, gegen die Merkantilorientierung von fußballernden Geschäftsleuten. Denen ist nämlich ebenso wie Ideologen die verschwenderische, jedenfalls riskante Bewegung suspekt.

Ralph Köhnen: Der Diagonalpaß auch als Textkultur
Aber das ist ein anderes, das Fortsetzungsthema der unendlichen Geschichte der Geschichte des Stillstands, der hierzulande unter dem Vereinsnamen Konservativ firmiert, von dem ebensoviele so wenig wissen wie über die Romantik; da beharrt man wider anderer Erkenntnisse auf einem Rudiment. Am Ende wählt man zu fünfundsiebzig Prozent doch wieder Goethe, vergleichbar einer Direktwahl von Frau Merkel. Ach, ich muß aufpassen, daß es mir nicht wieder so rücksichts- oder auch formlos aus dem Ruder läuft. Aufs Klassische habe ich ohnehin bereits schon ein oder mehrere Male hingewiesen, einmal hier: Das Schöne und die Häßlichkeit. Das ist zwar genauso einseitig zu lesen wie alles andere von mir. Aber wir befinden uns hier schließlich nicht an der ordentlichen Volkshochschule, sondern im bloggischen Internet.

Aber die Malerei soll nicht vergessen sein. Antoine Watteau kommt mir eben gerade noch, bevor ich auch das hinauslasse auf die Datenautobahn der bedenkenlosen Raserei («Bedenkenträger» ward ich früher mal genannt), in den Sinn, dessen Gemälde Einschiffung nach Kythera.

Photographie: Rainer Zenz, Wikipedia CC

Einem Freund und Kollegen gegenüber hatte ich das einmal als romantisch bezeichnet. Er runzelte dabei zu recht die Stirn. Kunsthistorisch betrachtet ist das selbstverständlich arg daneben. Aber wir waren unter uns, befanden uns nicht in einer dem curricularen System unterworfenen höheren Lehranstalt, so durfte ich mich weit aus dem Fenster lehnen. Ich habe das Bild eben nicht aus der Perspektive dieser lehrmeisterlichen Art von Kategorien betrachtet, sondern mich meinen Assoziationen des Vorstellbaren hingegeben, nach dem ohnehin alles längst schon einmal grenzenlos gedacht sein konnte und weiterhin darf. Damals gab es zwar noch keine Blogs, aber in dieser wusselig spielerischen Charakteristik ist mein Urteil zu bewerten. Ich habe mir die Freiheit genommen, es als kommend natursehnsüchtig zu antizipieren. Das war zwar seinerzeit dem Adel vorbehalten, später durfte es jedoch das «gemeine» Volk gleichermaßen ergreifen. Es war zwar wieder nur die gehobene, die gebildete Klasse, die das Kommende geistig reflektierte. Aber einige Schritte weiter in die Zukunft ist es genau das, was heute im kaum mehr differenzierenden Blick unter Romantik verstanden wird. In der Natur wurde lediglich der Mensch geradezu furchterregend klein gemacht, unscheinbar wurde er, er verschwand fast zur Gänze im Mysterium des Nicht-darstellbaren, über allem stand Gott, der Schöpfer, sein Produkt Mensch war quasi nichts (mehr). Manch einer sieht das heute noch so, will es gar wieder zurückgeführt haben in den alten Stand, will es als heutigen Status quo: Der Schöpfer hat sie nicht nur geschaffen, er dirigiert sie auch, die Kunst. Wie in der heutigen, wieder herbeigesehnten Sehnsucht: Romantik ohne jede Kritik.
 
Sa, 22.09.2012 |  link | (2266) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten



 

Romantische Totenköpfe der Moderne

Heute hatte ich Besuch von meinem Nachbarn, zum ersten Mal war er bei mir im dachspitzigen Nebenkathedrälchen, er ist erst kürzlich zugezogen. Bei mir zu Gast war er, um sich zu verabschieden. Er ist bereits wieder ausgezogen. Das Landleben hat ihn zu sehr belastet. Wahrscheinlich war ihm meine ständige Depressionsmusik (© Frau Braggelmann) aus Radio Classique, das ich seit einiger Zeit immer eingeschaltet habe, weil mir France musique neuerdings zu oft deutsche Schlager aus den Zwanzigern und Dreißigern spielt, zu wanddurchdringend. Das Alter vermag die Hörigkeit oftmals nicht zu mildern. Ich schätzte ihn nicht unbedingt zu den Kunstsinnigen gehörig ein, wie das eben so ist mit den Vorurteilen, von denen ich mich trotz aller Benühungen nicht lösen kann, obwohl ich mehrfach eines besseren belehrt wurde. Was die einen mit Medien machen, macht er mit Immobilien: irgendwas. Das reichte.

Er sah bei mir an der Wand die recht große Photoarbeit von Stefan Hunstein, die ich vor etwa zwölf Jahren gekauft habe. Spontan rief der von mir gehende Mitbewohner von nebenan aus: Das gefiele ihm aber gut, aber sowas von gut.

© Stefan Hunstein, schlechte Photographie, trotzdem © Jean Stubenzweig

Ich war leicht verblüfft. Häufig höre ich dazu negative Meinungen. Der kunstsammelnde Arzt, der das in jeder Hinsicht nicht ganz unschwergewichtige Bild seinerzeit mit dem befreundeten Galeristen in den fünften Stock meiner Münchner Wohnung geschleppt hat, weil es nicht in den Fahrstuhl paßte, meinte damals, das wäre nichts für ihn, ständig den doppelköpfigen Tod über dem Kopf hängen zu haben. Er hätte Angst, der Tod könne ihn erschlagen.

Es handelt sich um ein romantisches Sujet. Tagelang bin ich um die Jahrtausendwende auf dem kölnischen Kunstmarkt an ihm hin- und hergeschlichen. Normalerweise hätte ich es sofort mitgenommen, so gut gefiel es mir. Aber es kostete viel Geld. Am vierten oder fünften Tag hatte es mich endgültig in seinen Fängen. Lieber lange nur Nudeln mit irgendwas als auf diese mich ergreifende Arbeit verzichten. Die definitive Kunsthematik Tod hatte mich schließlich gefangen. Den Totenkopf von Malewitsch hatte ich darin erblickt, eine Verbindung von der Romantik zur Moderne hergestellt.

An einem Kunstmarktabend spielte wie alle Jahre wieder eine Kapelle zum Tanz auf, mit anschließender, manch einer vielleicht dann doch nicht so romantisch endenden Paarung in einem Hotelbett. Aber zunächst gab es (kostenlos) Gutes zu essen und durchaus gut trink- oder auch schüttbaren roten Wein aus der Bourgogne. Mit einem überaus geschätzten Kollegen vom bioökodynamischen Minderheitensender Arte, auch er ausgeprägten linksrheinischen Denkens und Fühlens, sprach ich lange und ausgiebig über das Judentum. Einer Frau wegen, die er vor einiger Zeit während seiner vielen Kunstreisen um die halbe Welt kennengelernt hatte, befand er sich im tiefsten Stadium des Konvertitendenkens. Zuvor hatte der Katholik es mal mit den Gnostikern versucht. Ich versuchte ihn von seinen trivialromantischen Vorstellungen abzubringen, die ein Religionswechsel mit sich bringen könnte. Auf die Kritik gegen den Glauben verwies ich, die denkerisch bereits während der Epoche der Romantik aufgekommen sei. Nach der fünften Flasche gab ich auf und wandte mich dem Leben zu. Auf der Tanzfläche versuchten einige Galeristen mit ihren Mitarbeiterinnen, der Begriff Praktikantin war zu dieser Zeit noch nicht so quasi in aller Munde, Rock'n'Roll zu tanzen. Auch der wirklich nicht schlechte Wein konnte dabei nicht weiterhelfen. Ich sah trotz reichlich genommenem Ethanol nur eingegipste Hüften. Da ging ich eben an den Tresen.

Mit einem Mal stand neben mir Stefan Hunstein, der bereits vor zwölf Jahren nicht ganz so unbekannte Kammerspieler. Ich wollte mich vorstellen, doch mittendrin in meiner Höflichkeitsrede unterbrach er mich, er wisse, wer ich sei, ich hätte mich letztendlich für die Kunst entschieden, sein Bild gekauft und so. Nein, er wollte nicht von mir wissen, weshalb, warum und wieso und so, und das, obwohl er ein durchaus direkter Mensch war (und ist?), wie sich herausstellen sollte. Er ließ meiner bourgognegeschwängerten Zunge freien Lauf. Dabei stellte sich bei ihm eine gewisse Verwunderung darüber heraus, daß ich sein Werk eindeutig als sozusagen spätromantisch einordnete. Der erste sei ich, der dies quasi analytisch interpretiere, aber es sei genau richtig. Unter diesen Gesichtspunkten sei diese Arbeit enstanden. Er sei tatsächlich ein Romantiker, der sie zwar kritisch, aber gleichsam in die Zukunft ausgerichtet betrachte, wenn auch nicht unbedingt im Sinne von ex oriente lux, schließlich sei die Moderne noch nicht zuende gedacht. Nun seien wir schon zu zweit. Das könne der Beginn sein zu einer fröhlich-aufrührerischen Gemeinschaft, die triviali-sierende Vor- oder fehlgeleitete Urteile zurechtzurücken versuche.


Man möge mir die miserable Qualität der Photographie vergeben. Ich kann's nicht besser. Dieses permanent Hineinleuchten verdirbt mir jede klare Ab- und Ansicht. Nehme man's romantisch.
 
Fr, 21.09.2012 |  link | (1572) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn



 

Sprachlich in der Klemme


«Warum wird auf dieser Versammlung deutsch gesprochen, wenn auch Franzosen anwesend sind?»

Abgewandelt aus: Nesnesitelná lehkost Bytí, aus dem Tschechischen übersetzt von Susanna Roth, München 1984, S. 248
 
Do, 20.09.2012 |  link | (1464) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: lingua franca



 

Herbst wirft sein gruseliges Band

Ich kann mit Fantasy nichts anfangen, Gruseleien gruseln mich, da schneidet mich die Phantasie anderer von der meinen ab, ich fürchte mich. Deshalb wohl habe ich noch nie mehr als ein paar Zeilen von Stephen King gelesen. Aus diesem Grund dürfte ich nicht auch nur annähernd zu diesen Erkenntnissen gelangt sein:
Herbst. Viele Romane von Stephen King beginnen im September, an einem der letzten warmen Sommertage. Dann kommen die ersten Tiefdruckgebiete, Regen, unheimliche, nicht ganz erklärliche Ereignisse, bis dann Ende Oktober, in der Zeit um Halloween, sich das Monster zeigt. Und selbst wenn es im Frühjahr besiegt sein sollte — nie wieder wird der Sommer so unschuldig scheinen wie einige hundert Seiten zuvor. Stephen Kings Romane sind also alle Romane über das Erwachsen-werden. Und dass es niemals gelingt. [...]

Frauen und Kinder zuerst. Von allen männlichen Bestsellerautoren ist Stephen King einer der raren Feministen. [...]»

Morel: Anmerkungen zu Stephen King
Es wird sicher nicht dazu führen, daß es mich drängt, King zu lesen. Ich bin so ängstlich, der Gedanke an Hitchcock reicht bereits aus, mir die Decke über den Kopf zu ziehen. Aber ich bin derart verblüfft über diese Analyse, daß ich mir vorstellen könnte, mal unter meinem Schutz hervorzulugen und einen Blick hineinzuwagen. Morels Besprechung weiterzulesen lohnt sich in jedem Fall.
 
Do, 20.09.2012 |  link | (1943) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Fundsachen



 







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