Romantische Gastronomie

Er hatte des Geistes Wissenschaft nach langjährigem aufrichtigen Bemüh'n erlernt, seinen Gesellenbrief erteilt bekommen. Nicht zuletzt wegen der langen, aufreibenden Nächte war ihm jedoch danach, die angelesene Sehnsucht zu praktizieren. Sein Wissen weitergeben, gerne, aber in ihn umgebender Ruhe. Das mußte doch möglich sein.

Er konnte einpacken. Nicht nur sein bißchen Habe, um sie umzuziehen. Auch finanziell. Denn in und mit dem Dorf ist zwar gut Kirschen essen, nicht aber mit den Verkündern des Geistes, die metropol sitzen, in der Nabe des Wissensrades. Für die hat man dort präsent zu sein. Residenzpflicht auch für den Arbeiter der Aufklärung.

So war das früher, als man nicht mal eben ein großes Gedicht über die Kultur der sich formierenden Romantik in die Tastatur hauen und es in digitaler Geschwindigkeit an die großen Verbreiter senden konnte. Mit dem Manuskript unterm Hungerärmchen hatte man anzutreten, vorstellig zu werden, vorzusprechen und zu -singen den Allmächtigen der Redaktionen. Wer aber die Sehnsucht nach Abgeschiedenheit bis in die Urgründe verinnerlicht hatte und die Blaue Blume auch in ihrer Materialität riechen wollte, der hatte sich die Autarkie anders einzurichten.

Eine Küchenhilfe ward gesucht. Das klang zwar nicht unbedingt nach hirn-, dafür aber nach magenfüllender Nahrung. Einmal am Tag wenigstens satt werden. Er beschönigte sich die Situation ein wenig: der Gastronomie war er ohnehin zugeneigt. Ein Restaurant am Ende, nunja, nicht gerade des Universums, aber kurz davor. Eine Stätte zur mittäglichen und abendlichen körperlichen Wiederherstellung des nach oben offenen Mittelstandes. Ein Maître außerordentlicher Reputation zudem. Was die küchenkunsthandwerklichen Fähigkeiten betrifft.

Die menschlichen sollten sich als verbesserungsbedürftig erweisen. Doch die sind nicht so sehr gefragt bei hundert, auch schonmal hundertfünfzig Mittagsmenues à la carte. Hier hat Monsieur de cuisine die Honneurs zu machen draußen im Saal, wo die Herren ab schlag zwölf déjeunierten und nach dem Tagwerk dieselben gemeinsam mit ihren Damen dinierten. Einmal pro Woche frischen Hummer, das war man sich schuldig, und auch Fisch, selbstverständlich bäuerliches Getier, ansonsten viel Geflügel, gerne vom Meister und dessen dann später bei ihm abendessenden Jagdbegleitern persönlich erschossen, das ganze Niederwild, die Fasanen, die Reb- und auch die Perlhühner und die Wachteln und die Kaninchen, aber auch die Rehe, die Sauen, alles das, was die Revolution dem Hochadel ab- und dem Bürger zugesprochen hat.

Auch bei den Zutaten erwies er sich als exquisiter Fachmann. Vor allem beim Schummeln. So manches Mal bekamen die Honoratioren des Dorfes und der Nachbargemeinden einiges aufgefrischt aufgetischt. Was nicht weggegangen war am Vortag, es wurde kraft virtuoser Fälscherhände als gerade eben zubereitet vorgelegt. Leicht geriet ihm Schwein zu Ferkel, alte Kuh zu Kalb. Immer neue, die eher hausbackenen Esser anfänglich bisweilen leicht exotisch anmutenden Kreationen ließen alt unter neu verschwinden. Doch der Gast war erotisiert von der Zauberhand des Küchenmeisters aus der fernen Stadt. Dazu trug bei, daß dieser es nie versäumte, zwischendrin den immer parat liegenden, nein gestärkt stehenden weißen Hut aufzusetzen, die verschmutzte Schürze gegen die saubere auszutauschen und hinauszutreten, um jeden Gast persönlich zu begrüßen und ihn freundlich lächelnd nach dem Befinden zu befragen. So wollte noch jede Mahlzeit hochwohlgelobt sein. Wer einen hohen Preis zahlt, der darf nicht unzufrieden sein.

Keine drei Wochen nach Arbeitsbeginn sah sich der Küchenhelfer — dem bald und sicher wohlweislich eine Salat- und Geschirrspülerin zur Seite gestellt worden war, die das zu leisten hatte, wofür man ihn in Brot nahm — eines Mittags, vor dem großen Andrang alleine, ohne den Maître vor den auf den Herden hüpfenden Töpfen und Pfannen stehen. Monsieur hatte sich angesichts zehn, fünfzehn, zwanzig Menuebestellungen mit einem Mal freigegeben, war entschwunden. So wie der Hummer ins heiße ward der Helfling ins kalte Wasser geschmissen. Es war eine Art Feuertaufe. Fünfundvierzig und mehr Grad in der Küche. Eine Äquatortaufe mit Kielholen wäre dem Smutje lieber gewesen. Kurz nach der hundertsten Bestellung kam er wieder, orderte im Straßenanzug und mit leichter Pastisfahne zwanzig weitere, meinte, die paar restlichen schaffe er auch noch, der stiekum zum temporären commis de cuisine avancierten Anlernlernling, band den weißen Schurz vor die Ausgehhose, setzte die Chefmütze auf und gab vor der Gästeschaft seine Kochhandwerkskünste zum besten. Der Applaus der Dorfelite war ihm gewiß.

Drei Monate machte der Schnellcommis das mit. Dann war er eines Tages in der heißen Mittagsphase inmitten von zehnerlei Ordres nicht mehr anwesend. Seinen kargen monatlichen Lohn hatte er am Vortag entgegengenommen, dem Maître den seinen heute somit gegeben. Der eigene, mittels fehlender Freizeit angesparte würde ein Weile reichen, dem Meister es wohl auch angesichts der ihm so dargereichten Quittung. Der in die romantische Welt des schönen Scheins Zurückgekehrte nahm wieder Platz auf dem Bänkchen und in seinem Blick auf die unendliche landschaftliche Weite und sinnierte darüber, ab wann wohl so etwas wie die Unabhängigkeit von den Fährnissen dieser Welt erreicht sei.

Einige Zeit später hatte ihn die neununddreißigste Ablehnung seines Manuskriptes ereilt, das einen Teil seines geisteswissenschaftlichen Meisterbriefes darstellte und das ihm seinen Ort auf dem Globus der Wissensvermittlung zuweisen sollte. Das Lohnüberbleibsel war fast aufgebraucht.

Da gab er vom allerletzten Rest eine Anzeige im Südwestblatt auf. Eine Antwort erhielt er auf seine Annonce. Sie war von etwas kräftiger Art, aber liebes- und arbeits- und empfangswillig und Tochter eines guten (Gast-)Hauses. Nun trägt er selbst gerne die von Madame persönlich immer frisch gestärkte Mütze für die Honneurs im Speisesaal und geht ansonsten gerne mit seinen Gästen auf die Jagd. Die schätzen seine im hohen Norden erworbenen, gleichwohl formidablen Küchenspielereien und erleichtern ihm das Leben sehr. Die Gattin lächelt ihn unentwegt glücklich an.

Hin und wieder sitzt er in der hunderttausendjahrealten, dicht begrünten Hügel- und Höhlenlandschaft am lieblichen Flüßchen mit seinen feinen Krebschen und schaut hinein in die hinter ihm liegende Romantik.

Und manchmal sucht er eine Küchenhilfe. Etwa alle drei Monate.

Die verlinkten Photographien zeigen lediglich, wo es sich zugetragen haben könnte.
 
Fr, 13.06.2008 |  link | (2793) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache


aubertin   (14.06.08, 15:48)   (link)  
Dordogne-Tod
Du versuchst hier, falsche Spuren zu legen. Mir ist bekannt, wo dieser commis die Edelkrebse zu Tode gekocht hat! Nicht an der Vézère! Solltest Du das nächste Mal das Bresse-Huhn wieder in rot tötendem Bergerac ertränken, anstatt ihm einen würdigen Bourgogne-Tod in weiß zu ermöglichen, verrate ich, wer es ware, der das Liebespaar écrevisse canadienne vor 30 Jahr in die Beune gesetzt hat.

't embrasse

Yves

P.-S. Abondance de biens ne nuit jamais.


hap   (11.09.08, 22:25)   (link)  
Hehehe
Das ist eine schöne Geschichte vom commis, die ich beim ersten Auftauchen verpasst habe. Danke für den Link, und bon voyage —
Grüße unter Blitz, Donner und Regenrauschen am 11. 9. 2008.


nnier   (12.09.08, 20:54)   (link)  
Dem schließe ich mich komplett an! (Außer, dass heute schon der 12.9. ist).















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 6026 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00



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