Hamburg-Hymne

Über Peter Rühmkorf kamen wir, hap und ich, innerhalb eines elektrischen Postaustauschs auf Hamburg. Geschrieben hatte ich unter anderem: «Wie ich immer eine unerklärliche Verwandtschaft zu allem spürte, was mit dieser Stadt zu tun hat. Ich kann's nicht erklären. Auf jeden Fall hatte mich die Stadt angezogen, seit ich ins Land gekommen war. Überhaupt habe ich mich von jungen Jahren an immer eher in Norddeutschland zuhause gefühlt — wobei ich Berlin nicht zu Norddeutschland zähle!» Seine Antwort lautete:
«Ja, deine Affinität zu Hamburg ist schon deutlich, wobei das für mich nicht so schwer erklärbar ist. Du bist ja eher in großen Städten zu Hause, auch wenn du jetzt aufm Land wohnst. Und Hamburg hat ja was Großstädtisches im besten Sinn. Mir kam die Stadt immer abweisend vor, oder ich wollte mich nicht darauf einlassen. War mir auch zu groß — irgendwann, nach meinen Begegnungen mit New York und Los Angeles und Madrid und Barcelona, später Rom, ist mir klar geworden: Ich krieg Platzangst in Großstädten, wenn ich das Gefühl habe, dass ich da zu Fuß nicht mehr rauskomme. Das hatte ich in San Francisco nie, schon weil das Meer und der wilde Strand immer da sind, und das habe ich in München auch nicht, weil ich unten an der Isar schon das Gefühl habe, ich bin draußen.»
Was mich zu nachfolgenden Äußerungen veranlaßte, von denen mein Briefpartner meinte, andere dürften das durchaus auch lesen. So sei es denn:

Weil Hamburg Großstadt ist? Das muß man von Berlin doch wohl auch sagen (wo ich immerhin fast zehn Jahre verbracht habe). Wobei das tatsächlich Paris sehr viel ähnlicher ist als Hamburg, das sich nicht so kleinteilig zeigt, nicht die Kieze hat wie Berlin oder Paris (oder ein bißchen auch noch München). Und in Paris fühle ich mich wohl, was ich von Berlin nun nicht unbedingt behaupten möchte. Nee. Hamburg hat schon was besonderes. Und wenn Du die Elbe langgingest — im Unterschied zur Isar ein Fluß! —, dann hättest Du auch Deinen Blick, na ja, nicht aufs Mittelmeer oder gar den Pazifik, aber auf die Nordsee. Die ist zwar noch rund hundert Kilometer entfernt, aber das Gefühl, sie sei sozusagen nur ein paar Meter weiter, stellt sich bei mir immer ein. Und Strand hat Hamburg auch, sogar einen schönen: den Elbstrand. Da kann man sitzen oder liegen und den riesigen Pötten beim Ein- und Ausfahren zuschauen. Ein paar Meter weiter draußen, da, wo Rühmkorf gewohnt hat, in Övelgönne, gibt's (gab's?) an der Elbe eine Art Glühwein-, Köm- und Würstchenbude für Schippers und zugezogene Arriviertere gleichermaßen, deren Besitzer mir vor ein paar Jahren mal innerhalb zweier Stunden über jeden vorbeifahrenden Kahn, aber wirklich jeden eine Geschichte erzählt hat; die Fakten, also Herkunft, Tonnage, Verdrängung, Tragfähigkeit, Tiefgang, Länge, Höchstgeschwindigkeit und so weiter, kannte er ohnehin.

Ja, es ist schon so: Hamburg ist eine richtige Großstadt, weitläufig — und im Gegensatz zur Meinung vieler auch offen. Das Gefühl der großen weiten Welt stellt sich hier ein. Und was da jetzt mit der Hafencity geschieht, da kann man meckern, wie man will, wie ich zum Beispiel über eine Architektur wieder mal nur für die Begüterten, aber das ist nunmal das Pfeffersäckische, doch es gibt schon viel zu staunen, wie die das immer wieder hinkriegen. Seefahrerromantik, die gibt's nicht mehr. Dennoch fängt in dieser Stadt immer wieder Hans Albers in mir zu summen an, auch vor diesem (großartigen) Irrsinn Elbphilharmonie. Was hab ich geschimpft über das Verschwinden der Speicherstadt, doch nun stehe ich staunend vor dem, was da entsteht. Es dürfte keine deutsche Stadt geben, in der solches möglich ist. Das heißt auch, Hamburg ist nach meiner Ansicht die einzige deutsche Stadt, die als international bezeichnet werden kann. Berlin ist ein Flickerlteppich, ähnlich, wie erwähnt, Paris, hat aber im Gegensatz bei weitem nicht das Flair. Bei Berlin denke ich immer, da können die machen, was sie wollen, es kommen immer nur Currywurst oder Buletten oder mittlerweile Döner dabei raus, und sei das alles noch so edelförmig eingeflogen und serviert. Daran ändert auch das Kunststadtgehample nichts, das ohnehin nicht von Berlinern ausgeht, die ihre Currywurst oder Buletten eher unveredelt mögen, allenfalls noch türkisch. Die Hamburger indessen begrüßen im wesentlichen dieses Fortschreiten, das Expandieren scheint ihnen im Blut.

In der von Hamburg straflos vernachlässigten Schwesterstadt Marseille (seit fünfzig Jahren, dennoch ist kaum etwas zu spüren; es wird nur noch vom Handelspartner China geredet — klar, da kommt das Geld her, nicht nur für die Hafencity) geschieht ähnliches, wenn auch leider unter anderen Vorzeichen. Hamburg hat die Nase immer schon hoch oben im Wind getragen. Das versucht man nun Marseille aufzustempeln, der Stadt ein internationales Gesicht zu geben. Das Problem dabei: Es wächst nicht gelassen, der Mentalität der Einwohner entsprechend. Die Zeiten haben sich nunmal geändert. Vorbei ist das, von dem ich mal geschrieben hatte: «Nachdem Protis an Land gegangen war, um sich mit der schönen Ligurerin Gyptis zu vereinen, ward Marseille gegründet. Protis war Phäake, und die Phäaken, dieses Seefahrervolk von der Insel Scheria, hatten nicht nur einen gastfreundlichen König namens Alkinoos, der den schiffbrüchigen Odysseus aufnahm, um ihn dann in seine Heimat Ithaka zu geleiten. Er hatte auch eine schöne Tochter. Nausikaa war es, die den gestrandeten Odysseus fand und ins Haus ihres Vaters führte. Marseille wurde also von der Liebe gegründet.» Die Oberstempler sitzen in Paris (Geld gibt's aus Brüssel), zumindest starren ein paar von «internationalem Ansehen» Besoffene ständig dort hin und vergessen dabei, daß Marseille nicht Frankreich ist. Sowas interessiert die Marseillais nicht.

New York möcht' ich nicht, Los Angeles gleich gar nicht, ach, überhaupt kein Amiland. Zu den Romanischen hatte ich immer Affinität, also: Madrid und Barcelona, Rom et cetera, und ja: Lissabon. Deshalb ja immer wieder meine Verwunderung über meine Uralt-Liebe zu Hamburg. Denn was Romanisches gibt's da nun wirklich nicht. Ich bin eine gespaltene Persönlichkeit. Andere nennen das wohl: Der weiß nicht, was er will.

Aber vielleicht kann's mir ja jemand erklären, was mich an Hamburg so anzieht ...
 
Di, 07.10.2008 |  link | (3406) |  |  | abgelegt: Ansichten















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 6025 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00



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