Und werfe den letzten Stein ...

Sie kannten sich sich seit jener Phase der Jugend, in der junge Menschen sich aus dem Gefängnis der Erwachsenen zu befreien suchen, die meinen, den einmal aufgebrannten Stempel müsse man ein Leben lang sichtbar tragen. Die einen träumen davon ein Leben lang, andere verlassen das Elternhaus tatsächlich, kehren aber häufig wenigstens in die sogenannte Heimat zurück. Diese beiden Frauen aber hatten die Fesseln abgestreift, die oftmals ebenfalls an den gewohnten Ort zurückkehren, den Jacques Prévert auf dem Sklavenmarkt (Für dich, Geliebte; Pour toi mon amour) gesucht, aber keine Ketten gefunden hat. Die eine, recht katholisch Aufgewachsene, hatte den Vater des gemeinsamen Kindes ein Jahr nach dessen Geburt gebeten, zu gehen; seine Liebe drohte sie zu erdrücken. Die andere aus einem jüdischem Elternhaus, von dessen Glauben sie erst zehn Jahre nach ihrer Flucht aus diesem erfuhr, bekam, trotz großer Sehnsucht danach, kein Kind, weil sie sich immer in Männer verliebte, die über das Alter hinaus waren oder meinten, es sei an der Zeit, wieder mehr für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Als die beiden jeweils ihr Diplôme du baccaluréat erhalten hatten, waren sie nach Paris abgereist, die eine aus der ländlich-bürgerlichen Idylle nahe Rouen, die andere aus einer nicht minder gemütlichen Ecke der Schweiz, auf der Seite des Röstigrabens, auf der sogar rein deutschsprachig Aufgewachsene lieber schlechtes Französisch sprechen und schreiben, weil sie der Meinung sind, das erhebe sie in den Adelsstand der Civilisation. Da beide nicht zu den aufopferungsvollsten Schülerinnen gehörten, mußten sie jeweils zwei Jahre länger als üblich in diesen Gefängnissen der Bildung verharren. Als sie sich während der Wohnungssuche zum erstenmal begegneten, waren sie zwanzig Jahre jung. Da beide keine Donationen ihrer Elternhäuser annahmen, waren ihre Mittel begrenzt. Also nahmen sie dort Quartier, wo sie sich kennengelernt hatten, in jenem Quartier, das bekannt und bei vielen berüchtigt dafür war, an nahezu jedem Haus eine rote Laterne hängen zu haben, die den Eingang zu dem wies, das für viele das eigentliche Paradies bedeutet. So lernten sie leben und leben lassen. Durch die Beschützer der Damen, in deren unmittelbarer Nachbarschaft sie wohnten, gingen sie im besonderen Maß wohlbehütet ein und aus, die eine manchmal zur romanischen Fakultät der Sorbonne, die andere in ein anderes universitäres Institut, um eine Ausbildung zur Bibliothekarin zu absolvieren. Zu dieser Zeit mußte noch niemand zum Schulklingeln antreten. Es hätte die später erfolgreichen Absolvenzen der beiden eher verhindert.

Die eine schwamm auf der Seine wieder zurück in die Nähe der idyllischen Heimat unweit des Ärmelkanals, letzten Endes dann doch ihr bonheur ici-bas Manche. Die andere umkreiste ein wenig die Welt, um später dann in Berlin in sie einzutauchen. Mindestens zweimal jährlich, gerne öfter besuchten sie einander, jedoch meist in westlicher Geographie, da es ein Mädchen gab, das zur Schule mußte. Eines Tages, gegen Ende des vergangenen Jahrtausends, etwa dreihundert Jahre nach Beginn der Reformation, beschlossen sie, miteinander Urlaub zu machen. Man habe sich das verdient nach über zwanzig Jahren fast geschwisterlicher Liebe. Das Kind würde in väterliche Ferienobhut gegeben werden. In völlig unbekanntes Gebiet sollte die gemeinsame Reise gehen. Einmal richtig aufs Land. Nicht dorthin, wo alle verstädterten Franzosen jährlich hinfahren, kein rituelles vie champêtre wie etwa in diesen Filmen von Eric Rohmer. Auf allen Komfort wollte man verzichten, die reine Natur erkunden, wie es ansonsten Franzosen niemals täten, weil sie lieber an der Civilisation zugrunde gehen. Die schönste Natur, darin waren sich die beiden über die meisten einig, sei ein leicht verwildertes Versailles. Aber etwas ohne Straßen und ordentliche Wege und am Ende gar ohne großen Tisch, an dem es eine gemütliche Gesellschaft den Abend bei mindestens sechs Gängen mit abschließendem Champagner gütlich tun kann, das sei Barberei, wie sie vielleicht von diesen Germanen noch oben im rechtsrhenischen Norden bevorzugt gelebt würde. Und genau das wollten die beiden jedoch nicht. Das ständige Rumgemeere interessierte sie auch nicht, ob Altantique oder Méditerranée. Sie wollten barbarische Natur. Man habe gehört, es solle das sogar auf ihrer Seite des zivilisierten Europas noch geben, am Rande des Massif Central. Dort solle es noch ursprünglich belassene Täler geben, wo man das Wasser noch trinken und sogar darin baden könne. Das wollten sie tun in einem der Zuflüsse des Tarn.

Sie trafen sich am Flughafen von Nîmes. Von dort aus fuhren sie gemeinsam mit einem Leihwagen nach Alès, aber nur, um sich in Ruhe nach einem beschaulichen Dörfchen weiter nördlich umzuschauen, von dem aus sie ihre Tagesausflüge unternehmen würden. Knapp zwei Wochen waren sie bereits herumgefahren und -gewandert, hatten sich beinahe konsequent von dem ernährt, was solch eine beinahe urwaldliche Region bietet. Dann gerieten sie auf der Suche nach der Natur in ein noch abgelegeneres Tal, in dem man sich endgültig von der Civilisation gelöst fühlte. Sie legten ihre Rucksäcke und auch ihre Kleider ab, um im reinen, klaren Wasser des Baches zu baden. Nach etwa einer Stunde lautstarken Geplätschers prasselte ein Hagel voller Steine auf sie nieder. Die Frau aus der Nähe von Rouen wurde von einem etwa zwei Fäuste großen Brocken am Kopf getroffen. Erst nach etwa vier Stunden war es ihrer Mitbadenden gelungen, Hilfe zu holen und diese an den Ort der Steinigung zu bringen. An welchem Haus auch immer sie geklopft hatte, niemand schien anwesend. Bis sie schließlich erhört wurde. Der mitgeeilte Arzt konnte nur noch den Tod der Getroffenen feststellen; sie war verblutet. Es hatte zu lange gedauert.

Die Steinewerfer wurden, trotz intensiver, wochenlanger kriminalistischer Tätigkeit durch die ermittelnden Behörden, nie gefunden. Die Zurückgebliebene wurde später insofern außerörtlich aufgeklärt, als man ihr bedeutete, sie beide seien sozusagen in hoheitlich hugenottisches Gebiet eingedrungen und hätten sich mit der nackten Darbietung ihrer beider Körper nach der Eigengesetzlichkeit der einheimischen Bevölkerung vergangen. Der todesstrafliche Ausgang sei quasi ein Kollateralschaden gewesen. Es gäbe nunmal Kriege, die seien nie zuende.


Abbildung: Detail aus Diana und ihre Nymphe von Domenico Zampieri, Galleria Borghese, Rom; Photographie: Wikimedia PD

Nachgetragen sei hier das ganze Gemälde, aus dem obiger Ausschnitt stammt: Diana auf der Jagd (aus der Seite des Geneva College).

 
So, 11.12.2011 |  link | (2961) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Traeumereien


nnier   (12.12.11, 22:35)   (link)  
Uff.
Wo kommt denn das jetzt her!? Erinnerung an Erlebtes, Erzähltes - oder Geträumtes? In jedem Fall: Beeindruckend.


jean stubenzweig   (13.12.11, 12:00)   (link)  
Posttraum(a)?
Ich gehöre wahrscheinlich auf die Couch. Ich nehme mal die Ihre.

Eine der beiden Frauen war mal meine Gefährtin, und einem Ex muß man schließlich alles erzählen, bis ins kleinste quälende Detail. Alte Liebe darf nicht rosten, und diese läuft wie geschmiert, wenn auch nicht ganz ruckelfrei, wie das eben so ist bei alten Freundschaften. Ich wurde vom Geliebten zum Therapeuten umgepolt, der qua gemeinsamer Vergangenheit sich gefälligst alles anzuhören hat. Jetzt gebe ich, quasi traumatisch, einiges zurück. Für sie habe ich meinen Traum aufgeschrieben und ihn ausgestellt. Ich bin ein Pirat.

Geschehen ist es tatsächlich, gegen Ende der Neunziger, weit mehr als zehn Jahre liegt das zurück. Es war völlig aus meiner Erinnerung entschwunden. Nun erinnere ich mich jedoch wieder ziemlich genau. Über Nacht war's auf einmal wieder da. Ich war damals auch hingefahren, nicht zuletzt, da ich mich in der Nähe befand. Es ist ohnehin die Gegend, in der ich mich gerne aufgehalten habe, wenn auch ausnahmsweise meist unter der Mehrheit, hier den fröhlich-brummeligen Landkatholiken.

Die Brocken flogen wirklich auf diese beiden Nacktschnecken. Ein tödlicher hätte durchaus darunter sein können. Es schien vor gut zehn Jahren allerdings nicht so dramatisch, wie es sich jetzt hier (rächlich; s. o.) liest. Es wurde überwiegend getuschelt in den Bars, wie die Cafés im Land heißen. Dort erzählten mir damals ein paar Einheimische, daß es diese abgeschiedenen Protestanten gewesen sein sollen. Die beiden Damen waren längst abgereist, in der heutigen Wirklichkeit leben die beiden (Nicht-)Jungfern also noch. Ich gab den Fabio Montale auf Landausflug in den Lozère. Mich hatte die Rückkehr dieses jahrhundertealten Konflikts in die Gegenwart oder das Wiederaufscheinen zu sehr fasziniert. Was dem einen die Muselmans sind, sind dem anderen die Hugenotten. Man spricht in Frankreich zu gerne von einem laizistischen Land. Dabei ist (fast) alles fest unter katholischem Szepter, mit dessen fuchtelnder Hilfe ausgekärchert wird. Aber in reformierte Untiefen dringt man nicht so ohne weiteres vor mit sperrigem Gerät.

Diese Dramatik beziehungsweise das schreckliche Ende lieferte mir allerdings der Meister meiner Alpträume, die ich hin und wieder habe; glücklicherweise kommt auch ab und an ein wohliges Thema auf die innere Leinwand. Dieses Kino lief vorvornächtens. Ich hatte am nächsten Tag das Gefühl, eine ganze Nacht lang auf der Streckbank durchgealpträumt zu haben. Ich habe dann sozusagen die Geschichte zum Film aufgezeichnet. Ein paar frozzelende Intimdetails (man liest schließlich mit) habe ich der Traumaufzeichnung allerdings hinzugefügt. So ein schlichter Anschlag bei Nacht wäre ja langweilig. Jedenfalls für das Tagebuch eines virtuellen Piraten.


kopfschuetteln   (14.12.11, 23:48)   (link)  
(das mußte ich erst mal sacken lassen.)
ich möchte mich dem herrn nnier anschließen: Beeindruckend.
bzw. beeindrückend. ich hab mich am hellerlichten tage gegruselt.


jean stubenzweig   (15.12.11, 12:37)   (link)  
Beeindrucken möchte ich
selbstverständlich auch. Auch diese Eitelkeit ist mir nicht fremd. Und sei es mit Gruseln. Mich gruselt es ja bisweilen selbst, wenn ich Märchen erzähle. Meine Art von Märchen, entstanden aus der Vorskizze tatsächlichen, beileibe nicht nur virtuellen Lebens, fortgelebt im Traum, aufgeschrieben von der Grelle des Tages, ausgestellt in der gnadenlosen weltweiten Schaubühne. Traumtänzer des Alltags. Oder aber, wie ich Jochen Gerz' Rede immer wieder gerne bestätige: Alles ist autobiographisch. Nicht nur die Kunst. Die malt nur aus. Kopfkino.















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