Eitle, von Kunstpostkarten kodierte Blicke Die großen Kunstbetrachtungen sind ungebrochen en vogue. Große Meister und Epochenausstellungen (eben schnell noch hin!) haben nach wie vor enormen oder gar erhöhten Zulauf. «Du diskutierst gerne über: Kunst und Künstler?» heißt es in internetten Portalen, seit die Entartung der Kunst1 zur Ersatzreligion kapitalen Werteverständnisses vollzogen wurde. Aber sind die Besucher dieser Beschaulichkeiten informierter als vor dreißig Jahren? Wissen sie mehr über die Bildnisse, vor denen sie mehr oder minder staunend bis ehrfürchtig verharren — oder sie eben, wenn das Platzangebot es zuläßt, durchfliegen, weil es mittlerweile ein Muß geworden ist wie einst der sonntägliche Kirchgang, von dessen elterlichem Joch man sich befreit hat? Kirche, die hat früher alles bewegt in der Kunst. Es hat den Anschein, es erführe eine Rénaissance. Ich habe das hier zwar bereits mehr als einmal thematisiert, bin jedoch, aufgrund meiner derzeitigen Beschäftigung mit der Vanitas, quasi zwangsläufig in den dicken, kulturscheinschwangeren Katalog Von Greco bis Goya. Vier Jahrhunderte spanische Malerei hineingeraten und nach neuerlichem Lesen der Meinung, zumindest eine längere, zusammenhängende Passage aus diesem Hörfunk-Beitrag zu veröffentlichen, weil er quasi aktuell oder auch aktualisierend darauf hinweist, zu welcher hanebüchenen Auslegung von nicht nur kunst-, sondern eben auch historisch bedeutsamen Gemälden das führen kann. Das Volk aufs glatte Eis der Kunst geschoben? Es taut, die Kuh muß runter. Jetzt hängen sie also, die alten Meister spanischer Malerei, dicht gedrängt und das eine ums andere Mal konzeptlos durcheinandergehängt vor einer geschmäckIerisch farbigen Stoffbespannung. Sie hängen in einem schlechten, sich zudem auf den Gemälden reflektierenden Licht an diesem unseligen Ort, an dem noch vor wenigen Jahrzehnten Kunst dem Volksempfinden zur mißfälligen Betrachtung ausgeliefert war. Heute hingegen ist der Bürger aufgefordert, ästhetisch zu genießen, was der Katalog so anpreist: «Das Schönste und Erlesenste an höfischer Porträtmalerei [...], die «höfischen Bildnisse mit moralischer Dimension»; die «durchsichtigen Gesichter einer alten Rasse, die Großes verursacht, Schweres getragen und nun müde geworden war». Und selbstredend, der Natur der Sache gemäß, «ordinäre Trink- und Freßgelage». Mit dieser pathetischen und stellenweise phrasenhaften Diktion soll der Besucher eingestimmt werden auf diese neue Kunstorgie im neo-neo-neo-klassischen Münchner Musentempel, dessen Architektur Hitlers schauerlich-protzige Vorstellungen von Ästhetik spiegelt. Ob moderne Kunst oder alte Meister: Im Haus der Kunst liebt man die Verpackung der Ware Kunst, die dann in Worthülsen ihre Entsprechung findet. Das ist genau die Sprache, der es um die Verschleierung von Inhalten oder den dogmatischen Hinweis auf das Genialische an der Kunst geht. Dem Volk, für das solche Ausstellungen offiziell veranstaltet werden, wird Ehrfurcht vor dem quasireligiösen Kunstgegenstand injiziert. Eine sich selbst als Elite verstehende Kunsthistorikerzunft beweihräuchert sich selbst und stellt zugleich dem Volk die Kunst wie im Supermarkt dar, in unübersichtlichen Massen. Doch das System, Kunst als Spiegel gesellschaftspolitischer Entwicklungen zu negieren und sie statt dessen mit antiaufklärerischer Feierlichkeit zuzuhängen, hat nicht nur in der bayerischen Landeshauptstadt seine Befürworter. München ist hierbei nur (mal wieder) Hauptstadt einer Bewegung, gefördert nicht zuletzt durch eine Kunstkritik, die schon längst nicht mehr für diejenigen die Feder wetzt, die Information wirklich nötig hätten. Früher war das mal anders: In den Pariser Salons2, deren erster 1667 in der Grande Galerie des Louvre stattfand, beanspruchte das Publikum das Recht der Kunstkritik; Kunst war Bildungselement und vor allem Element des Gesellschaftslebens. Dieses Recht nahm dem Publikum sehr bald der professionelle Kunstkritiker ab, der dann im 19. Jahrhundert die Durchschnittsansichten der Pariser gebildeten Welt verbreitet. Da weniger die Kunst als vielmehr das Publikum Bezugspunkt dieser Kritiken war, wurde denn auch folgerichtig der Subjektivismus als Organ des Kunstverstandes bezeichnet. Diese trivialhumanistische Absicht, die auch damit rechnet, daß in einem geheimnisvollen Prozeß die gefühlsmäßige, unsachliche Kenntnis sich trotz aller Irrungen auf Dauer immer zum Wahren und Schönen durcharbeitet, scheint heute (schon wieder) die Seelen mancher Ausstellungs-Macher emphatisch aufflattern zu lassen. Die Ausstellung Von Greco bis Goya ist nur ein Beispiel für eine in der ganzen Bundesrepublik sich abzeichnende Richtungsänderung in der Kunst- bzw. Ausstellungspolitik: Zurück zur Restauration — anstatt eine Pause zu machen und diesem fatalen Zeitgeist des Konservierens sogenannter traditioneller Werte denkend eine Abfuhr zu erteilen. In seiner platten Draufsicht gebärdet sich der Ausstellungskatalog stellenweise aufklärerisch. Er versucht laut Manuel Muñoz Cortés das «Problem des kulturellen Ambiente und des politischen Hintergrundes genau» zu erklären. Der Versuch, war er ehrlich gemeint, ist gescheitert. Nirgendwo im Katalog (ohne den der kunsthistorisch weniger informierte Besucher nicht auskommt) ist der politische Hintergrund erläutert: Die spanische Bevölkerung des 17. Jahrhunderts war völlig verarmt. Die Herrschenden führten ununterbrochen Kriege, regierten den Staatsschatz herunter und verurteiIten das Volk zum hungern. Die krassen Unterschiede der Lebensbedingungen schlagen sich nieder sowohl in verschiedenen Sujets höfischer Bildnisse als auch in Stilleben, aber auch in Gemälden, in denen die Kluft zwischen hohem Adel und niederem Volk innerhalb eines Rahmens geschildert wird. Jedes einzelne dieser Gemälde gehört Bildgattungen an, die einer hochkomplizierten Sprache unterliegen. Sie zu übersetzen und so aus der Tabuzone der sprachlosen Bewunderung zu holen, wäre Aufgabe der Verantwortlichen gewesen. Doch der Verantwortung der Aufklärung haben sie sich entzogen. Drei Beispiele: Das Ornamentale und die Starrheit der Herrscherbildnisse eines Juan Pantoja de la Cruz oder eines Alonso Sánchez Coello sind nicht nur individuell künstlerische Sehweisen. Im Bildnis der ‹Infantin Anna von Spanien als Kind› von de la Cruz zum Beispiel spiegelt sich das spanische Hofzeremoniell in seiner ornamental-dekorativen Gestaltung, die in ihrer strengen Ästhetik Konflikte von vornherein unterdrückten. De Katalog als einziges Hilfsmittel des Ausstellungsbesuchers reduziert die Information auf abgehobene Ästhetik. Das spanische Stilleben, das Bodégon, ist bei weitem mehr als das, was der Katalog ins Niedlich-Nette verzerrt, damit Vorurteile bestätigend, nämlich: «Ein lustiges Cabinett mit allerlei Eßbarem, was im spanischen Klima wächst.» Der Begriff Bodégon entstammt dem der Bodéga, jener ärmlichen Spelunke, in der jener billige Wein ausgeschenkt wurde, der die Armut vergessen ließ (und in der man auch heute noch ‹preisgünstig› essen kann). Die dargestellten Gegenstände der Stilleben verweisen in symbolischem und theologischen Sinn auf den Menschen, deuten in Bildern die Welt oder erinnern an die Vergänglichkeit alles Irdischen. Im Bücherstilleben eines unbekannten Meisters geht eine konkrete politische Aussage auf die Bewegtheit des ersten Drittels des (spanischen) 17. Jahrhunderts auf. Zwar erklärt der Katalog, daß die zerlesenen Bücher römische Rechtsschriften sind, sagt aber nicht, daß hier die Vergänglichkeit, die Auflösung des Rechts in Spanien symbolisiert ist. Weder in einem der fünf Katalogaufsätze noch in einer der Bildbeschreibungen wird auf die religiöse, ergo politische Symbolik der Stilleben hingewiesen. So zum Beispiel, daß im Granatapfel die Einheit der Kirche mit ihrer großen Menge an Gläubigen aufgeht oder er auch als Zeichen der Auferstehung gilt. Die Schwertlilie deutet auf Marias Schmerz hin, Blumen stehen für die fünf Sinne, die den Menschen so stark an das Irdische binden, und Früchte sind Nahrungsmittel der Armen und deshalb am Hof als Dessert verpönt. Die durch den Italiener Caravaggio angeregte Helldunkelmalerei war Mittel der innerkirchlichen Opposition, traditionelle Werte umzudeuten. Standen zuvor Nacht und Finsternis für negative Werte und sozial niedrige Schichten, so ward das Dunkle dann zum Symbol gegen sinnliche Begierden und (religiöse) Erkenntnisformen, die davor nur Privilegierten zugängig waren. Nach der Gründung des Jesuitenordens durch Ignatius von Loyola wurden sinnliche Genüsse in anderem, hellem Licht dargestellt. Sie wahrzunehmen und dann um so bewußter abzulehnen, kennzeichnet sowohl die Öffnung der Kirche durch Loyola zum Weltlichen hin als auch die so doppelte Verneinung des Sinnlichen. Da damals die Kirche bestimmender Faktor der Politik war, kommt dieser Umkehrung der Helldunkelmalerei eine wesentliche Rolle in der (Kunst-)Geschichte zu. Auch hierzu schweigt der Katalog, und der durch die Ausstellung führende Kunstpädagoge spricht über Bildaufteilung, Perspektivisches und einen luftigen Pinselstrich. Die Bedeutung der Hereinnahme niedriger sozialer Schichten in Darstellungen des Heilsgeschehens bei Velazquez wird auch nicht erwähnt: Sie ist ganz im Sinn der Gegenreformation (gegen Loyola), die versuchte, die Loyalität des Volkes gegenüber der katholischen Kirche zurückzugewinnen. Was diese Ausstellung an Information nicht leistet, ließe sich fortsetzen. Der Stellenwert der spanischen Malerei innerhalb europäischer Kunst und Geschichte ist nur vage umrissen. Sie ist Spiegelbild des Selbstverständnisses der Herrscher und des Volkes, letzteres verinnerlicht als Maya oder Mayo, nach Schopenhauer der Nichtwissende, der im entscheidenden Moment an der Teilnahme politischer Entwicklungen gehindert ist. Sie spiegelt die ständige Berührung Spaniens in der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends mit der islamischen und maurischen Kultur, aus der sich der ornamental-dekorative Charakter der spanischen Malerei lesen läßt. Während sich das übrige Europa vom Klerikalen abwendet, ergeht sich Spanien zunehmend im Mystischen, kapselt sich ab und versteht sich — ein Satz im Katalog — «als Beschützer der katholischen Welt und konzentriert sich ganz auf die Religiosität». Spanien hat in den die Ausstellung umreißenden vier Jahrhunderten europäischer Kunst eine führende Rolle gespielt. Durch die Einflüsse außereuropäischer Kulturen und ein Sichabsondern von der Um- und Aufbruchstimmung des ›alten Kontinents‹ hat die spanische Kunst sich (bis heute) eine nahezu mystische Fremdheit erhalten, die aufgrund der Ausstellungsgestaltung im Münchner Haus der Kunst (bewußt?) konserviert wird. Die Bereitschaft des Publikums, sich konfrontieren zu lassen, ist durchaus vorhanden, das zeigt das Interesse für die Ausstellung. Aber es reicht eben nicht aus, daß unser durch zahlreiche Kunstpostkarten kodierter Blick via Aha-Erlebnis alte Bekannte wiedererkennt und somit glaubt, orientiert zu sein. Dem Ausstellungsbesucher muß die Möglichkeit geschaffen werden, im historischen Kontext das Kunstwerk gleichermaßen geistig und kreativ zu rekonstruieren. Was jedoch Ausstellungen wie die in München betrifft, sind es einzig die Besucherrekorde, die die Initiatoren in (sportliche) Begeisterung versetzen. Kunst hat präsent zu sein. Aufgabe der Kunst ist nicht das Abbilden, sondern das Formen und Bilden von Gedanken. Das wiederum bildet eine eigene Sprache. Dort aber, wo diese Bildsprache nicht verstanden wird, kann sie allenfalls dazu dienen, (bereits genannte) Vorurteile zu bestätigen. Kunst bildet nicht die Wirklichkeit ab, sie macht sichtbar, hat Paul Klee formuliert. Denjenigen gegenüber, die einer bewußtheitsfördernden Information bedürften, wird hier in dieser Ausstellung in einer Sprache entgegnet, die von der Kunst als gesellschaftlicher Dimension ablenkt. Auszug aus: Kult und Kunst, Essay und Kritik, Saarländischer Rundfunk, April 1982
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