Le Schmachtfetzen

Cyrano de Bergerac. Le Roman. Le Film. La Chanson d'amour.

Damals, Anfang der Neunziger, hatte mich Gérard Depardieu sehr erstaunt mit seiner Schauspielkunst. Das hatte ich diesem Klopper früher nie zugetraut. — Seit langem verkauft Reclam den Theatertext sogar mit einem Standbild aus dem Film, einer Photographie von Depardieu auf der Titelseite. Als ob's das «Buch zum Film» wäre. Wiederbelebung des Theaters durch den Film. Grotesk! — Nun, meine Verbeugung vor ihm ist seit diesem Film anhaltend tief. Und seitdem habe ich ihn auch weiß nicht wieviel Male gesehen, in beiden sprachlichen Fassungen. Hinzuzufügen ist, daß es im Deutschen eine wohl einzigartige Synchronisation gibt. Sie ist so gut, daß sogar die Fachwelt gestaunt hat. Sie kommt dem Original sehr nahe. Durch dieses Synchrondrehbuch und natürlich auch durch die Sprecher und die Regie kommt sogar im Deutschen viel von der französischen Sprache, sogar von Edmond de Rostands poetischem — eher extrem poetisierenden — Spiegel dieser Zeit herüber. Es ist auch im Deutschen im Versmaß gehalten.

Mich hatte damals eine Bekannte fast mit Gewalt hineingeschleppt. Ich wollte einfach nicht, weil mich das Stück auf der Bühne immer so genervt oder schlicht gelangweilt hatte. Möglicherweise lag's daran, daß ich nie den Platz der Souffleuse einnehmen durfte. Den hätte es gebraucht für diese Nähe. Aber das kann Theater auch nicht leisten, diese Naheinstellungen, wie sie im Film möglich sind. Ihn nicht sehen wollte ich vielleicht auch deshalb, weil alle Welt ständig über ihn geredet hat. Es ist oft so, daß ich mich dem verweigere. Aber ich hab's dann getan, weil ich der Dame die Freude nicht nehmen wollte, mich künstlerisch in die Liebe einzuführen.

Am Schluß des Films blieb ich fast konsterniert sitzen — ich wollte einfach nicht wahrhaben, daß er zu Ende sein sollte. Ich wollte nicht, daß er zu Ende ist. Manchmal geht es mir heute noch so, daß ich ruhig sitzenbleibe und ihn erneut in mich einsinken lasse. Ich war von der ersten Sekunde an wohlig Gefangener dieses Films. Ich war im allerbesten Wortsinn mittendrin. Ich war Teil des Orchesters. Ich war die Musik. Und — hier war der Beweis erbracht worden, daß auch Action–Szenen sinnlich sein können, ja poetisch. Wir benötigen keine in die Luft fliegenden US-amerikanischen Straßenkreuzer oder völlig flache, ins Eindimensionale herabgewürdigte, sozusagen charakterlose Gefühlsduseleien unter dem Degen- und Fechtmantel. Jean-Paul Rappeneau hat's ihnen allen gezeigt. Allen voran dem dämlichsten aller Gefühlsdarsteller, diesem Mister Hollywood, diesem obersten Repräsentanten des Banausentums. Und noch mehr angewidert bin ich von denen, die ihm nacheifern. In erster Linie die Deutschen. Diese miserablen Epigonen. Sie können nichts — keine Musik, kein Kino. Alles platt. Von wegen Kulturvolk. Lauter Amöben, Parasiten des Kultur-Verfalls, eines nie wieder ausgleichbaren Defizits.

Der Beginn des Filmes, im Hôtel de Bourgogne, ist einfach phänomenal — diese Atmosphäre, dieses Wahnsinnsgetümmle, das Theater, dieses Stimmengewirr. Und dann die Fechtszene ziemlich am Anfang. Im Versmaß — wie erwähnt, auch im Deutschen —, ... denn beim letzten Verse stech ich.

Anfang des siebzehnten Jahrhunderts! Fast vierhundert Jahre! Noch einiges vor Beginn der Aufklärung. Nun gut — alle diese Filme über diese Zeit spielen verständlicherweise in dieser Zeit.

Cyrano war ein großer Mann! Es war bereits Aufklärung in seinem Geist! Doch anders als Descartes und sein Esprit normatif! Er hat Descartes und Hobbes nicht gemocht. Rostand ist auch sehr spät herangetreten an diesen Stoff. Mehr als zweihundertfünfzig Jahre später! Es ist auch nicht nur Liebe, die gespielt wird. Es ist auch partiell ein Spiegel dieser Zeit! Es ist die Zeit von Richelieu! Ein Förderer der Bourgeoisie.

Der romantische Bourgeois, zu denen Cyrano als Amtsadliger auch gehört. Richtig. Zeitgenosse von Molière, den er ja kennengelernt hat. Der inspiriert war von ihm, laut Rostand sogar bei ihm geklaut hat. Durchaus. Aber auf der Bühne habe ich das nie gesehn. Jedenfalls auf keiner deutschen Bühne. Aber der fehlte wohl der Bezug zur französischen Geschichte. Im Krieg gegeneinander kannten sie sich besser aus. Die Deutschen. Doch andererseits ist es ja auch rein französische Geschichte. Aber was heißt das schon?! Frankreich strebte sozusagen die Weltmacht an, damals eben die Vormacht in Europa. Deshalb ja die Keilerei mit den Spaniern — in Arras, oben im Norden, in etwa Richtung La Rochelle. Wo unser schöner Christian das Zeitliche segnete. Nun, die haben sich ja überall geprügelt damals. Wenn das vielleicht auch ein bißchen euphemistisch ausgedrückt ist. Aber das alles zeigt auch der Film nur in Ansätzen. Ein paar Andeutungen zu Richelieu, ein bißchen Gemetzel, sonst kaum etwas drin. Ein paar Anspielungen eben. Aber es ist ja auch ein Film über einen Liebeskranken. Ein Liebesfilm eben. Und auch wer liebt, den sticht's — oder er sticht.
In Ermanglung edlern Wilds
wünsch ich, daß ein Stich dir klaffe
in der Leber oder Milz.
Schau, mein Arm, der kräftig straffe,
strebt nun, daß er dich raffe.
Daß keiner mehr begaffe.
Denn beim letzten Verse stech ich ...
Ein unglaubliches, ein großartiges Bild, wie er's diesem Stutzer zeigt. Weiter —
Wirst du grünlich wie ein Pilz?
Gleich ‘ner zitternden Giraffe
Muster eines Jammerbilds!
Zeigst du, daß dein Mut in dir erschlaffe,
eh mein Pulver ich verpaffe?
Heut dein warmes Herzblut zech ich
aus kristallener Karaffe.
Denn beim letzten Verse stech ich.
Doch auch der Schluß dieser Szene. Nie wird der allerbeste Amiregisseur oder Hollywoodhampelmann, nie werden die das so hinkriegen wie Rappeneau beziehungsweise Depardieu. Auch, weil sie keine Sprache, keine Sprachmelodie, keinen Sprachrhythmus haben! Englisch — ah, was sage ich! Amerikanisch! Pah! Sogar im Deutschen klingt's.
Beichte schnell! Wo ist ein Pfaffe?
Deinen Widerstand zerbrech ich —
Finte! Quart! — Da hast du's, Laffe!
Der Dichter und Kämpfer gleichermaßen, Cyrano und Rostand hau'n diesem schnöseladligen Lackaffen mächtig eine rein —
Denn beim letzten Verse stech ich.
Und dann. zum Hinschmelzen:
Die Mutter fand mich nicht hübsch, und Schwestern
besaß ich nicht. Vor jedem Liebestraum
ließ mich die Furcht vor Spott erbeben.
Dir dank ich's, Dir allein, daß durch mein Leben ...
gestreift ist eines Frauenkleides Saum.
Dann kommt der Tod. Er kommt, um ihm Stiefel aus Marmor anzulegen. Und Blei um seine Hände.

Und die Schönheit von Anne Brochet. Meine Güte, welch eine Filigranität! Aber eben auch die von Gérard Depardieu! Dieser Baum, hier aus der Gascogne, wo die Fasanen und die Flußkrebse auf den Eichen wachsen. Diese Eiche, die im vollen Saft steht, auf der Gefühle wachsen statt Blätter. Photosynthese der Gefühle — der wichtigste Prozeß in der Nahrungskette der Menschen.
Le Bret, zu diesem leuchtenden Opal
werd ich heut ohne Hilfsmaschinen steigen.
Dann fragt Roxane ihn — Was sagen Sie?
Dort werden in der Geister sel'gem Reigen
Mir Sokrates und Galilei nahn
und als bescheidnen Schüler mich empfang'.
Dann hat Rostand da allerdings ein bißchen arg aufgetragen. Aber in dieser Zeit war das wohl unumgänglich. Hier dürfen auch große Jungs weinen.
Das sind die Gascogner Kadetten —
Kopernikus — Ja! — Das Gesetz der Schwere. Die Natur — gibt Aufschluß.
Was Teufel wollt er nur auf der Galeere?
Musiker und Reimedrechsler,
Physiker, Philosoph und Fechter,
zungenfertiger Schlagwortwechsel,
Mondreisender ohne Sack und Pack,
Liebhaber auch — jedoch ein schlechter! —
Hier ruht und wartet des jüngsten Gerichts
Cyrano Savinien Herkulus von Bergerac,
der alles gewesen und dennoch nichts. —
Doch nun verzeiht, nun muß ich euch verlassen.
Ihr seht, der Strahl des Mondes will mich fassen –
Sie sollen Ihren Christian stets beweinen.
Nur bitt ich, geben Sie, wenn ich der Fessel
des Erdenseins entledigt bin,
dem schwarzen Schleier einen Doppelsinn,
um ihn und mich auch trauernd zu vereinen.
Diese Andeutung von Le Bret zu Cyrano Dein alter Freund — dieser leuchtende Opal. Der Mond eben.

Auch dieser Mondreisende, als dieser er sich bezeichnet. Auch in dieser Szene mit Guiche, den er daran hindern will, die Hochzeit von Roxane und Christian zu unterbinden. Das Buch von Cyrano de Bergerac — Voyage dans la lune. Viele Franzosen kennen es nicht. Viele gehen davon aus, Cyrano sei eine Erfindung von Rostand.

Nun, so, wie er auf der Bühne steht, ist er ja auch eine Rostandsche Figur: extrem dem Zeitgeist entsprechend, extrem romantisiert.

Aber: Voyage dans la lune, die Reise zum Mond ist auch Satire auf den Kampf um das kopernikanische Weltbild! Und vom Satiriker, der den Klerus — und damit die Machtapparaturen — auf den Arm nimmt. Aber dennoch irgendwie tiefreligiös ist. Was eben auch zur Zeit gehört.

Der Großvater von Savinien de Cyrano war Fischhändler. Ein Bürger, der sich eingekauft hatte. Ein Amtsadliger eben. Das ist alles bei Monsieur Lebret nachzulesen. Er war Cyranos erster Biograph. Rostand hat aus dieser prächtigen Biographenbulle sein Stück liebesfiletiert. Aber die ganzen Figuren aus dem Stück hat's offenbar tatsächlich gegeben.

Also: Opa hat sich die Ämter eines Sekretär des Königs, Notars und Rates gekauft und noch'n dickes Haus an den Halles dazu. Damals hießen die ja noch nicht Bauch von Paris. Die haben ja von Monsieur Zola ihren Namen. Der Enkel des Fischhändlers tritt dann gemeinsam mit seinem Biographen Lebret ein in die Gascogner Garden des Monsieur de Carbon de Casteljaloux. Dann geht quasi die Post ab. Und Cyrano an die Ostfront des dreißigjährigen Krieges, später dann ab nach Arras. Einen Teil davon hat der Marseillais Rostand ja notiert. Vor allem das fröhliche Leben in Paris — nachdem er nach Arras den Dienst quittiert hatte, weil's ihn beinahe dahingerafft hätte durch einen Säbelhieb an die Kehle. Daraus stammt auch die Geschichte mit dem siegreichen Kampf gegen die hundert Mann, die im Film so herrlich rüberkommt. Den de Bergerac nach dem von Opa gekauften Gut in Mauvières gibt Savinien sich selber, um den Altadligen herauszukehren. Vieles ist nur schwer zu überprüfen. Aber Rostand hat eben einen köstlichen Schmachtfetzen daraus gemacht. Und Rappeneau einen noch viel schöneren Film.

Dann wäre jetzt zu schließen. Ein paar Kleinigkeiten vielleicht noch, zum Beispiel, daß er homosexuell gewesen sein soll. Seine Liebe zu seiner Cousine und die Hingabe an Christian hatte tatsächlich seltsame Züge. Auch bei Rappeneau. Vielleicht gerade bei Rappeneau. Dieses Verständnis für die Frau ist beinahe grotesk. Egal. Von Molière sagt man auch, er sei der Vater seiner späteren Ehefrau gewesen. Ein wenig Durcheinander. Es war auch die Galanterie dieser Zeit. Es ist nicht wesentlich. Dann noch die Bedeutung der Schlacht von Arras gegen die Spanier, von Duché d'Artois. Auch das Alt-Pariser Quartier Marais, von der Seine umflossen, in dem ein Teil des Films spielt. Daß man dort noch heute ein paar Plätze finden kann, wo man diese Atmosphère spürt, wie sonst nicht in Paris (wenn die judenglotzenden Touristen noch oder schon in den Betten liegen). Und diese Roxane! Es ist zum Wegfließen:
Sodann — Du stahlest mir ein Herz voll Glut,
und zum Ersatze nun verlang ich deines
sagt sie. Worauf Cyrano entgegnet —
Bald eines, bald zwei hat er sich ausgebeten.
Wieviele Herzen will er nun?
Und sie —
oh schmählich!
Das ist die Eifersucht —
Er:
Wie?
Sie:
— des Poeten.
Und klingt nicht folgendes unwiderstehlich? —
Mein Mut zerschellt an Deines Reizes Klippen.
Doch gäb es Küsse, die man nur geschrieben,
du läsest meine Briefe mit den Lippen.
Dann kommt's — er fragt nämlich:
Können Sie denn jede Zeile
auswendig?
Sie:
Jede!
Er:
Weit hat er's gebracht!
Sie:
Er ist ein Meister!
Und er dann schließlich:
Abgemacht.
Das hat er ja, wenn ich mich recht erinnere, an seinem Ende nochmal wiederholt. Und nun schniefe ich ich ein bißchen:
Warum nur schwiegen Sie seit vierzehn Jahren?
Die Tränen hier auf diesem Briefe waren
Ja doch die Ihren!
Das ist Liebe! Sozusagen die Geschichte der Liebe. Aus der mit der Dame, die sie mir mittels dieses Films erklären wollte, wurde nichts. Pygmalion läßt grüßen. Aber so wurde daraus immerhin eine große Liebe zu einem großen Film. Eine Statue zwar, aber sie bewegt sich — und mich.

Siehe auch: Cyrano de Pardieu
 
Mo, 26.05.2008 |  link | (5448) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino


schmollsenior   (27.05.08, 14:53)   (link)  
Post von Pfitzinger
Lieber Stubenzweig, was ich nicht verstehe: Wie man jemals an Gerard Depardieus Schauspielkunst zweifeln konnte - "Les Valseuses", "Frau zu verschenken" etc.pp. Die französischen Regisseure, die ihn einsetzten, wussten weiß Gott, was sie an ihm haben. Und der große Marco Ferreri wusste es auch - "Die letzte Frau", mit Ornella Muti - mein Gott, was für ein unglaublicher Film. Ferreri hat ihn dann noch mal eingesetzt, ich glaub der Film hieß "Der Affentraum", Depardieu und King Kong, sehr passend.
Wenn du noch rausfinden könntest, wer die deutsche Fassung von Cyrano besorgt hat - die war genial. Dafür sollte es nachträglich den Nobelpreis für Übersetzung geben. Könnte man extra dafür einführen.
Was ich sagen will: Diese Huldigung an Cyrano de Pardieu gehört zu Stubenzweig at his best. Danke schön!

hap















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