Jonas Überohr im Ohr

Das – für mich – wichtigste deutschsprachige Buch über Rockmusik hat 1972 Helmut Salzinger herausgebracht. Es hieß «Rock Power», und Frank Schäfer, der Salzingers Leben und Werk auf einer ganzen taz-Seite vorstellt, beschreibt es als «fulminanten Collage-Essay». Fulminant war's in der Tat, und es fing mit einem Zitat von Karl Marx an: «Der Rock ist eine Ware.»

Salzinger, Jahrgang 1935, gehörte mit seiner ganzen Person zum politischen Hippie-Untergrund, dem deutschen Ableger dessen, was die Yippie-Vordenker Jerry Rubin und Abbie Hoffman «Woodstock Nation» genannt haben. Yippies waren Anhänger der «Youth International Party», Leute, die versuchten, die neue Linke und die psychedelische Jugendkultur unter einen Hut zu bringen. Salzinger erklärte das so: «Woodstock Nation ist ein Vorgriff auf die befreite Gesellschaft. Denn die Revolution braucht keineswegs auf den Tag verschoben zu werden, an dem die Arbeiterklasse zum Bewusstsein ihrer selbst gekommen ist und ihre historische Aufgabe, die Revolution zum Sieg zu führen, begriffen hat.» Das hat ja auch Jim Morrison so gesehen: «We want the world and we want it – NOW.»

Was Frank Schäfer da über Helmut Salzinger zusammengetragen hat, verdient höchste Anerkennung. An einer Stelle heißt es: «Man kann auch neidisch werden, wenn man bei Salzinger nachliest, welche gesellschaftliche Relevanz Popmusik und eben nicht zuletzt auch die Musikkritik einmal besessen hat. (...) Salzingers Texte sind Welten entfernt vom heute üblichen schnellfertigen Geschmacksfeuilletonismus.» Bei der Lektüre von Salzingers Texten kann man «auch viele Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung die Morgenluft noch wittern; diesen berückend aromatischen Duft einer machbaren gesellschaftlichen Umwälzung, der damals in der Luft lag. Das muss ein heimeliges Gefühl gewesen sein – als Teil so einer Jugendbewegung!»


hap im tazblog

Anderswo:

«Spaß macht so richtig Spaß nur», erinnert Helmut Salzinger*, «solange die anderen sich darüber ärgern. Unverständnis, Widerspruch. Ablehnung, empörter Protest sind ein ergiebiger Quell der Inspiration für den, der es darauf angelegt hat, durch sein Tun die Umwelt in ihrer Ruhe zu stören.» Kabarettistisch an diesen Veranstaltungen waren, so Salzinger, allerdings «bestenfalls die eingelegten Chansons, im übrigen aber entsprachen sie überraschend genau dem, was zur gleichen Zeit in New York erfunden wurde, dem Happening. Vorgänge sollten ausgelöst werden, in denen die Wirklichkeit sich selber agiert, zugleich Subjekt und Objekt der Demonstration ist.»

*Jonas Überohr «Helmut Salzinger war der Diedrich Diederichsen der siebziger Jahre.» Genauer: «Diedrich Diederichsen ist der Salzinger der Achtziger und Neunziger.» Jungle World
 
Mo, 04.08.2008 |  link | (588) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Fundsachen


hap   (04.08.08, 22:12)   (link)  
Link zur taz
Lieber Verlinker, schön, dass du die Salzinger-Verbindung hergestellt hast, denn der junge Mensch, Frank Schäfer, der da so sorgfältig hinter dem verehrten Jonas Überohr herrecherchiert hat, verdient Beachtung. Wofür er wahrscheinlich nichts kann, ist die redaktionelle Ankündigung "Erster Popkritiker Deutschlands". Das war Salzinger nicht, das waren Uwe Nettelbeck in der Zeit und Florian Fricke in der SZ und noch ein paar andere Menschen. Über Nettelbeck kann man bei schmoll-et-copains nachlesen, und wenn du das noch findest, kannst du's ja vielleicht verlinken.
Und was den Vergleich mit Diederichsen betrifft: Der nervt mich schon seit 25 Jahren, und weshalb das so ist, findest du im tazblog vom 3. August.
Wenn du das so komisch findest wie ich, dann setz es ruhig ins stubenzweig-blog: "afroamerikanischer Widerstands-Wagnerianismus", das ist - im fröhlichsten Sinne - zum Wiehern. Vielleicht ist das ja wirklich komisch gemeint?!?


jean stubenzweig   (04.08.08, 22:40)   (link)  
Zurück zum Spielkind
Bitteschön, hier geht's zum gern sabbeligen Herrn Diederichsen by hap:

Wenn Diedrich Diederichsen beschreiben will, dass es Dinge gibt, an denen er sich freuen kann wie ein kleines Kind, dann geht das auch nicht ohne spezielles Vokabular aus der Psychoanalyse: Er «regrettiert zum Spielkind». Was ihn so entzückt? Ein Buch mit 821 Seiten für 104,99 Euro mit dem Titel «The John Coltrane Reference». Und warum führt in das zurück in ein frühkindliches Stadium? Weil in dem Buch «jede Recordingsession verzeichnet ist, darin jeder Take und natürlich jeder Gig, und auf welchen Veröffentlichungen diese dann gelandet sind. Während man in diesem Material schwelgt, es mit der eigenen Sammlung abgleicht und zwischen Plattenhüllen kriechend zum Spielkind regrettiert, entsteht viel von Schönheit gefluteter, leerer Raum im Kopf des Coltrane-Fans.» Schön für ihn, dass er sich an so was beömmeln kann.

Wenn Diederichsen nur nicht immer so einen pseudowissenschaftlichen Quark über Musik schreiben würde! So stellt er fest, dass zu seinen Lebzeiten (1923 - 1967) Coltranes «kulturelle Resonanz von jungen Rock-Musikern zu schwarzen Revolutionären reicht, von heiligen Fusselbärten mit schwarz-violetten Knopfaugen und ihren weiß gekleideten Jüngern bis zu hornbebrillten Tiersmondisten.»

Tiersmondisten. Genau.

Noch n Zitat? Yeah, weil's so schön war: «Diese monotone Erhabenheit lässt sich durchaus als eine Art Koproduktion zwischen protestantisch-transzendentalistischer Überspanntheit und afroamerikanischem Widerstands-Wagnerianismus beschreiben. Und tatsächlich kann man ein noch so großer Bewunderer von Coltrane sein und in seinem Sound eine alle Mauern überwindende Menschlichkeit hören, Humor hat der Mann nicht gehabt.»

Dafür Diederichsen umso mehr. Ich jedenfalls finde «eine Art Koproduktion zwischen protestantisch-transzendentalistischer Überspanntheit und afroamerikanischem Widerstands-Wagnerianismus» als Beschreibung für John Coltranes Musik zum Schreien komisch.
Wenn auch eher überspannt als erhaben.


Und hier zu Uwe Nettelbeck















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