La Marseillaise

Natürlich ist es die Landschaft, das Meer, der Blick darauf, der Blick auf die Öffnung, durch die die Schiffe hinausfahren in Richtung der Îles d’Frioul oder Château d’If in den Norden Afrikas oder Corsica, in den Osten ums Cap Croisette und der Île Maire herum, vorbei an Île de Jarre oder Île de Riou nach Cassis. Oder es ist das sogenannte Lebensgefühl, das mich anzieht und dessentwegen ich auch auf ewig dort wohnen möchte, nie wieder wegmüssen, einfach nur zu sitzen und nichts zu tun und zu schauen, zu schauen und noch einmal zu schauen.

Aber doch nicht den ganzen Tag aufs Wasser oder, von schräg gegenüber, hinauf zur thronenden nicht ganz so alten Notre-Dame de la Garde. Es ist das Gesicht, das ich am liebsten den ganzen Tag anschauen möchte. Ganz früh ist es das der Bäckerin an der Ecke Rue Beauvais und Rue Bailli de Suffren, durchaus auch deren Tochter, die mir manchmal, bevor sie ins Gymnasium geht, das Schokoladenbrötchen verkauft, mit dem ich mich vor das Café setze und einen, zwei, drei große Café trinke, bis die Bedienung kopfschüttelnd die Bestellung des nächsten entgegennimmt. Da ist es dann deren feingeschnittene, offene Physiognomie, die ich mittlerweile schon aus den Augenwinkeln anschaue, weil ich sie nicht immerfort anstarren möchte.

Doch ich kriege das charmante, warme, aus dem Inneren kommende Lächeln auch mit der gespielten Kühle nicht weg. Dann taucht dieses Gesicht aus allen Richtungen kommend auf. Vier-, zehn-, zwanzigfach geht es vorüber, läuft in diesem langezogenen Eilschritt — der hier am Abend allerdings in die leicht tapsende Gelassenheit der Marseillaise übergeht, wenn er nicht überhaupt gemächlicher ist als der in anderen französischen Städten — ins Büro oder stellt sich, auf den Autobus wartend, oft fünf Minuten vor mich hin, auf daß ich es nur lange und intensiv genug anschauen, mich meinen Sehnsüchten hingeben kann. Den ganzen Tag sehe ich es, dieses Gesicht, das von überall herkommt, in der zweiten, dritten oder gar fünften Generation, der eine Teil der Großeltern aus Tunesien, der andere aus Armenien oder Afghanistan, wiederum gepaart mit Algerien oder Marokko, zwischendrin jemand aus der Gegend von Pérpignan oder vielleicht aus der nördlichen Bretagne oder überhaupt eine Pied-noir oder die schöne Arlesierin, die es ja nun, entgegen aller gegenteiligen, also garantiert vorstellungsfreien Behauptungen wirklich gibt, auch wenn sie in Aix-en-Provence oder in Narbonne geboren oder gar aus Besançon hierhergezogen ist, weil nördlich von Lyon, wie es im Süden heißt, keine Menschen leben. Sogar die Huren, die vom frühen Nachmittag an in der Rue Saint-Saëns an der Place Ernest Reyer, dem Opernvorplatz, flanieren oder in der Rue Glandèves, die eine direkte, na ja, fast eine direkte Verbindung zwischen dem Seiteneingang der Oper und meiner Loge, dem Bar-Tabac hinter der Bushaltestelle, zu sein scheint, sie spendieren ihre lockenden Scherzchen, tragen es hochaufgerichtet — dieses Gesicht in all seiner Wandelbarkeit und seinen Facetten. Ich kenne diese schwarze Odaliske im Harem der Wikinger, ich habe ein Fernstudium hinter mir. Ach was, Rousseau, Shaw, Shakespeare — Pygmalion arbeitet in mir, nur hat sich Aphrodite noch nicht herabbegeben, um das Blut fließen zu lassen. Dieses Gesicht hat einen Tryptichon-Altar in meinem Kopf.


Notiert 2002 am Alten Hafen nach einer Wohnungsbesichtigung und später festgeschrieben.
 
So, 17.08.2008 |  link | (3064) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 6023 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00



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