Albigensisches

Menschen gibt es, die tatsächlich so weit gehen, sich dort ein Nest zu bauen, wo dieser komische Vogel Kunst ein paar historische Rudimente zurückgelassen hat, bevor er weitergezogen ist. Lustig machen könnte ich mich jetzt über den Freund, der sich vor rund dreißig Jahren aufmachte, um sein Bündel in der Tristesse einer südfranzösischen Kleinstadt abzulegen, in der ich nächtens nicht tot überm Zaun hängen möchte. Oder auch tagsüber. Das kommt in diesem Fall aufs gleiche heraus.

Aber ich selbst bin ja mal in riesige Wanderstiefel gestiegen, die mich dorthin führen sollten, wohin Künstler mal ihr Malerei gelegt hatten. Zu meiner Ehrenrettung mag angeführt werden, daß es zugleich die dieses Nest umgebende Natur war, die mich diesen hunderte von Kilometern beschwerlichen Kunstpfad zu pilgern veranlaßte. Aber auch: andere holen sich bereits gewaltige Blasen, nur um mal Recklinghausen Ich bin dann mal weg an die trostlose Marktwand sprayen zu können, obwohl sie die Muscheln bereits in Köln hätten haben können, und das auch noch in Weißweinsauce. Bei mir war es damals ein Russe, der als Blauer Reiter ins oberbayrische Voralpenland geritten war und sich dort gemeinsam mit seiner Muse den Zorn der einheimischen Bevölkerung zugezogen hatte, indem er die dortige Vegetation samt Architektur derart verhunzend darstellte, wie es entarteter nun wirklich nicht mehr ging oder, um zeitgenössisch korrekt zu sein, es unser aller dreijähriges Enkelkind auch nicht schlechter hätte pinseln können. Sowas hat dort bis heute Tradition. Nur beruft man sich dort mittlerweile darauf, daß es sich bei diesem Zuviel an Braun selbstverständlich um eine mißverstandene Farbverirrung gehandelt habe, weshalb man heutzutage alles in den lichtblauesten Farben malt. Oder man nennt, weil man ja nur noch über den Brenner rübermuß, seine malerische Herberge Cantina. Wie auch immer: Mir wurde das dann bald zu eng um die Mariensäule, und ich zog ein paar Meter nach Norden in das etwas größere Dorf, wo man seinerzeit wenigstens bis Mitternacht noch einen trinken gehen konnte.

Das kann man dort, wo der Freund auch nach Jahrzehnten immer noch lebt, zwar auch nicht, denn die Läden werden bereits Stunden vorher zugeklappt. Doch kommen die Touristen in den Bussen oder den Wohnwagen auch nicht deshalb ins Städtchen. Aber sie reisen (wenigstens teilweise, denn schließlich gibt es da noch dieses leicht den Architekturrahmen sprengende Kirchlein) aus denselben Gründen an, deretwegen er seinen Traum seit späteren Kindheitstagen verwirklicht hat.

Beim heimlichen Stöbern in seiner viel weiter nördlich gelegenen mütterlichen Bibliothek stieß er auf ein Buch mit verruchten Bildern, die ihn nie wieder loslassen wollten. Nicht nur, daß er sofort zu sammeln begann, was sein Pennälerportemonnaie freigab, und sich bereits als Schüler ohne elterliche Kenntnis aufmachte an den Ort, wo diese Verruchtheiten teilweise entstanden waren (hinein ließen sie ihn damals freilich noch nicht), alles an Schriften und sonstigen Devotionalien anhäufte, was einem sehr weit weg von zuhause studierenden französischen Studenten der Germanistik und Kunstgeschichte möglich war, er hatte nur ein Ziel: dorthin, wo der andere herkam. Studiert hat er ihn nur im Nebenfach, um die Leidenschaft nicht zu töten, aber bereits das Ende seiner deutschen Doktorarbeit verfaßte er im Schatten des erwähnten Kirchleins, noch in einer dieser winzigen Butzen, die dieses kleinstädtische Fachgewerk feilbot. Den etwas später erfolgten Ruf an eine renommierte Hochschule überhörte er, da der von zu weit nördlich erfolgte. Da drehte und schraubte und drechselte er lieber solange, bis man ihm, auch für sehr viel weniger Renommée und Salaire, an der Universität ein Lektorat anbot, die den Namen seines Angebeteten trug.

Ihm zu folgen hatte auch die Natur, hier in Gestalt des Weibes, das sich ausgerechnet diesen eigenbrödlerischen bilder- und bücherwurmfressenden Albiganter ausgeguckt hatte. Das fuhr dann schließlich auch sehr lange Zeit gemeinsam mit ihm jeden Morgen in die knapp hundert Kilometer entfernte Stadt, in der man der Ingenieurin aus der Bretagne zum Glück fast traditionell zu nennend Flugzuge baute, und denselben Weg am Abend wieder zurück ins traute Heim für nicht allzu großwüchsige Menschen — egal, Hauptsache nahe am Vorbild —, das man mittlerweile erworben hatte, selbstredend nicht allzuweit weg von der Weihestätte.

Ihr wurde das so eng dort wie mir damals der Platz um die oberbayrische Mariensäule. Allerdings hat sie es um einiges länger ausgehalten als ich, bevor sie die Gestade des Tarn verließ, um sich in die doch etwas lebendigere Umgebung nahe des Arbeitsplatzes zu verändern. Denn zuvor gebar das ruhige Leben im stillen Städtchen noch ein Töchterlein, das alsbald allmorgendlich mitfahren sollte, zunächst ins Gymnasium, später dann zur Universität, wo es unter anderem lernte, weshalb das Kirchlein des Städtchens, in dem es gemeinsam mit Papa noch immer lebt, etwas zu wehrhaft geraten ist: Von hier aus hatten sich die Katharer gegen den menschenfressenden Moloch Kirche zu wehren, weshalb man die Geschehnisse auch die Albigenserkriege nennt.

Das hält die junge Frau allerdings nicht davon ab, weiterhin Mitglied der katholischen Kirche zu bleiben. Es müsse doch wenigstens einen im Haus geben, der das Banner gegen Sünde und Ketzerei hochhalte, meint die ledige Mutter des Sechsjährigen, der sich gerade von Opa in die Kunstgeschichte eines albigensischen Besuchers nicht ganz so ordentlicher Häuser einweisen läßt (wobei darauf hingewiesen werden sollte, daß Bordel eigentlich nichts Anrüchiges bedeutet, sondern schlicht Unordnung heißt).

Mehr zum Katharer-Bordel in den Kommentaren.
 
Fr, 19.09.2008 |  link | (4417) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches


jean stubenzweig   (19.09.08, 07:21)   (link)  
Katharer-Bordel
«Gefoltert und gemordet hatten auch die Katharer. Bei einem ihrer Gegenschläge schnitten sie den Unterworfenen die Zungen aus dem Mund — als rächten sie schon vor der Zeit, was ihnen insgesamt bevorstand: den Verlust ihrer Sprache. Als terrae linguae occitanae hatte man die südlichen Landstriche Frankreichs zu jener Zeit bezeichnet, hier sprach man langue d'oc (benannt nach dem gemeinsamen Wort oc — lateinisch hoc —) im Gegensatz zum Sprachgebrauch im nördlichen langue d'oil, wo man für ja oil (hoc ille) sagte: oni. Das Provençalische war wie das Französische auch aus dem Vulgärlatein hervorgegangen, im Süden gleichberechtigt dem Latein als Amtssprache: Es war die Sprache der Verwaltung wie des Volkes — und es wurde im 12. Jahrhundert die Sprache der ersten Kunstlyrik des Abendlands.»
Michael Bengel: Ein Traum von Licht und Farben. Provençalische Passionen, Picus Lesereisen, Picus-Verlag, Wien 1999, S. 45

Michael Bengel verweist in seiner umfangreichen Literaturliste unter anderem auf das bei Wagenbach erschienene Buch Die große Ketzerei. Es soll hier hervorgehoben werden, da Lothar Baier in seinem 1984 erschienenen, auch als Taschenbuch (WT 410) erhältlichen 200-Seiten-Kompendium — das eigentlich, wäre es in 11 Punkt gedruckt, gut 300 Seiten dick sein müßte — alles zusammengetragen haben dürfte, das es zu dem Thema gibt und zu dem Alfred Andersch in Mein Verschwinden in Providence geschrieben hat: «Die Katharer gaben eine Erklärung für die Existenz des Bösen: sie glaubten [...], die Schöpfung sei nicht das Werk Gottes, sondern des Teufels. Er dachte: wenn ich religiös wäre, wäre ich Katharer.»

Dieses Buch ist deshalb besonders erwähnenswert, da es nicht nur ein bestes Beispiel dafür ist, daß ‹Geschichtsunterricht› alles andere als langweilig sein muß, sondern auch mit der irrigen Annahme vieler abenteuerurlaubender Pilger durch die Schluchten des okzitanischen Gebietes in Südwest-Frankreich ausräumt, «diese große mittelalterliche Ketzerei sei auf das Gebiet von Albi beschränkt gewesen», denn: «Das halbe christliche Europa zwischen Konstantinopel und Köln war in den Sog der katharischen Häresie geraten. […] Die Historiker müssen der Inquisition dankbar sein», zitiert Baier Stephen Runciman und führt weiter an, «— und den Renegaten, wäre zu ergänzen, die ihr Insiderwissen zu Protokoll gaben und damit der Nachwelt hinterließen.»

Wen es interessiert, wie mehr oder minder friedvoll die Christenmenschen sich gegenüber ihrer Mitwelt verhalten haben, dem sei dieses Buch nur empfohlen. Und wohl auch deshalb: Baier perforiert, mit seiner aufklärerisch gespitzten Feder, in bestem französischen Duktus also, jedoch ohne Polemik, essayistisch eben auch den Ballon, in dem sich die heißen und zelebrierten Sehnsüchte (und von der französischen Fremdenverkehrsliteratur nur zu gerne beheizten) vieler nach der Reinheit der Katharer komprimiert haben.


jean stubenzweig   (19.09.08, 07:48)   (link)  
Bergerac – Albi
Im Feld anklicken:

2 F - Dordogne : Aéroport de Bergerac-Roumanière

Dann wird die Route angezeigt.

Hier handelt es sich nicht um Werbung, sondern um eine Reiseempfehlung, bei der erstere leider nicht auszuknipsen ist. Es empfiehlt sich ohnehin, kleinere Sträßchen zu fahren. Dafür nimmt am allerdings am besten eine Karte. Eine gedruckte. Denn mit diesen Elektrodingern landet man ja überall, nur nicht dort, wohin man möchte.


edition csc   (19.09.08, 14:51)   (link)  
Welche Route
wird sonst noch empfohlen? Wir haben nämlich für neue Kreuzzüge gesattelt. Aber vorher wollen wir noch gut Bergerac volltanken in Bergerac.


jean stubenzweig   (19.09.08, 16:31)   (link)  
Zu empfehlen
wäre: Bergerac – N 21: Castillonnés – Cancon – links: Tournon-d'Agenais – Lauzerte – Montauban – D 999: Salvagnac – Gaillac – Albi.

Es gibt noch schönere Strecken, z. B. nicht die Schnellstrecke D 999, sondern die D 8 via Montclar de-Quercy oder via Cestayrols – Bernac – Castelnau de Levis und dann von Norden her nach Albi rein. Aber dazu ist die (im übrigen unübertroffene Michelin-) Karte 235 (Midi-Pyrénées 1/200.000) unbedingt erforderlich. (Für besonders langsame Gegend-Gucker: Es gibt die Karten als Local auch noch im Maßstab 1/150.00. Mit denen findet man jeden Bauernhof.)

Guten Ritt!


(19.09.08, 19:20)   (link)  
Ist nicht so mein Thema, aber die wunderschöne Prosa gefällt und so möchte man hier immer und immer weiterlesen und jedes Wort und jede Wendung in sich aufnehmen und sich darüber freuen wie auch über den kultivierten Menschen, der fast fassbar dahinter steht und einen so sanft fesselnd fest ins Herz bindet.


jean stubenzweig   (20.09.08, 02:36)   (link)  
Olivenölprosa
ließe sie sich nennen, weil die Worte runtergehen ... Aber ach, das feine Olivenöl des Südens Frankreichs, das soviele Geschmacksnuancen hat wie die okzitanischen Weine und hervorsprudelt wie die Sprache, die der Mensch des Landes für hymnische Urteile geschaffen hat, das langue d'oc, beziehen sich ja auf das Lob, das mir so runtergeht wie das Ihre. Und das ist ja nun wirklich ein Lob und kein internettes Kompliment, gesprochen vom Höfling an den mehr oder minder geneigten Monsieur Le Cardinal, kein dienerndes Wörtchen des courtisan an den Rotgewandteten, dem er eine faule Hypothek andrehen möchte und der sich ja innerhalb der Hierarchie eventuell nach oben äußern könnte .

Richtig gut tut das, und dann bestätigt sich auch, was man immer hofft und wünscht, daß es irgendwo da draußen jemanden geben möge, der das liest und damit die eigenen Gedanken nachempfindet. Nun habe ich also Gewißheit: Es gibt bereits zwei, die das lesen: Sie und ich. Für solche Menschen schreibt man das schließlich. Herzlichen Dank!

Und was heißt da: «nicht so mein Thema»?! Wären Sie dafür nicht offen, läsen Sie's nicht. Die Katharer beispielsweise, die waren auch nie mein Thema. Bis ich irgendwann vor vielen Jahren irgendwo am Rande irgendwas gelesen habe über sie, möglicherweise bei der hochschnöseligen Medici in einer ihrer vielen abfälligen Äußerungen über die so unflorentinische Küche des Südens oder diese (noch?) «ungeschlachten» Bauerntölpel da unten im Südwesten. Und eines Tages befand ich ewiger Wandersbursch' mich eben in der Gegend und fuhr bei dieser Gelegenheit hinauf auf den Mont Ségur, nicht, um den Gral zu suchen, sondern um die Gedanken und den letzten Blick hinunter aufs Irdische nachzuempfinden, den die Ketzer damals hatten, bevor sie von den göttlich Auserwählten abgeschlachtet wurden. Dann habe ich die Kultur gespürt, die von dort aus in die Welt hinausgelassen wurde und die man allzulange Zeit versucht hat zu unterdrücken und die jetzt von diesem Fernsehschnelltourismus erneut zerstört werden soll, indem man sich die landschaftlichen Schönheitsfiletstücke herausschneidet, obwohl man dieses dunkle Franzosenfleisch eigentlich gar nicht mag ...

Zwar hat mich die senile Bettflucht aus der Kiste befördert, und die Müdigkeit drängt mich zurück in sie, aber jetzt erzähle ich dann doch ein bißchen weiter. Man hat ja so seine Verantwortung gegenüber seinem Leser. Gehe ich eben weiter den «ortlosen Gang» entlang in Prosperos Land ...


aubertin   (20.09.08, 14:20)   (link)  
Denkfutter
« Mir fiel dabei wieder ein, was Professor Direktor Ewald vor etwa zwanzig Jahren mal im August v. Heydenschen Hause zu mir sagte: “Wissen Sie, Schriftstellerei ist eigentlich gar keine Kunst.” Ich fand es damals nicht sehr verbindlich gegen mich, und verbindlich finde ich es auch heute noch nicht. Ich habe aber längst zugegeben, daß es wahr und richtig ist. Nur Verse, namentlich schwierige, sind eine Kunst. Alles andere kann jeder Gebildete, und unendlich oft macht es der Laie besser als der Fachmann, weil er frischer und naiver ist. »

Theodor Fontane

Für einen momentan leicht Abwesenden gefunden in: Stilstand















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