Tückisches Dampfbad

Zum Aufwärmen: ein Sommermärchen

Im Viertel um den Kottbusser Damm betreibt der malende Künstler etwa seit 1990 ein Atelier, im vierten Hinterhof. Die Miete ist alles andere als preisgünstig, für ein solches Geld lassen sich im ruhigen Teil (andere würden es als verschnarcht bezeichnen) von Charlottenburg fünf Zimmer bewohnen. Mit Bad und Toilette, nicht zwischen den Treppen; die dafür in hoher und weiter Jugendstilpracht. Doch damals war ein Atelierumzug notwendig geworden, aber auch in dieser Gegend, vor allem zur Zeit des von Ost nach West gewendeten Berlin meinte offenbar jeder Hausbesitzer, auch nur jeden erdenklichen Reibach machen zu können. So war auch Kreuzberg von den (Erb-)Raubrittern genommen worden. Nun ist der Vermieter pleite, so kaputt wie das Dach. Aber die Miete ist immer noch so hoch wie das Atelier: in der obersten Etage. Kassiert wird sie, nicht wie früher mit dem Revolver, aber dafür vom Insolvenzverwalter. Es bahnt sich ein erneuter Atelierumzug an.

Wir hatten vor, uns neue Bilder anzuschauen und darüber miteinander zu sprechen. Doch zuvor mußte der hungrige (nicht Hunger-)Künstler unbedingt noch eine der, wie er meinte, besten Pansensuppen in ganz Berlin essen. Und tatsächlich haben die zahlreichen Gäste des türkischen Imbiß allesamt jeweils eine Schale mit Suppe vor sich auf den Tischen stehen. Nicht, daß Stubenzweig keine Pansensuppe mag, sie roch lecker und sah auch so aus, aber das Frühstück im Hotel war, entgegen aller Gewohnheit von Café et Gitanes au petit-déjeuner, derart rühreiundschinkenhaltig, daß es vermutlich bis zum nächsttägigen reichhaltigen Frühstück im Hotel ausreichen würde. Aber so darf der Fußkranke wenigstens nochmal sitzen, bevor er sich die sechs Stockwerke zum Atelier hinaufquälen muß. Gezielt setzt er sich in die Nähe einer geöffneten Tür, um etwas Luft zu bekommen, denn die Stadt ist seit seiner Ankunft unerträglich drückend, und die Suppentöpfe heizen zusätzlich auf. Kaum sitzt er, das leichte Lüftchen genießend, raunzt die mit einem Mann gegenüber sitzende Türkin, eingehüllt in mehrere Schichten zur Abwehr von winterlichen dreißig Grad, ihren vis-à-vis sitzenden Gatten an. Daß es sich dabei um den ihr seit langem Angetrauten handeln muß, wird an der Reaktion auf den blaffenden Tonfall deutlich.

Der schaut Stubenzweig — als ob der Türkisch versteht, aber das versteht in der Gegend wohl jeder — leicht verlegen an, zuckt, nicht nur mit den Schultern, steht dann dennoch auf und schließt, offenbar befehlsgewohnt, die Tür. Unsereins verkneift sich einen Kommentar. Er will sich nicht der Fremdenfeindlichkeit bezichtigen lassen, nur weil ihm heiß ist, ihm die Atemluft fehlt. Zudem hat er es immer grundsätzlich so gehalten, sich den Gepflogenheiten des Landes anzupassen, in dem er sich aufhält. Und daß der Fall eines fremden Landes vorliegt, ist hier im überwiegend anatolisch geprägten Quartier überall ersichtlich. Auch als Habitant in seinem Zuhause Marseille käme er nicht auf den Gedanken, die Büddenwarderin um das Schließen aller Türen und Fenster am Alten Hafen zu bitten, weil der Ostwind von den Inseln herüberpfeift oder der Mistral den Kellnern gar die gefüllten Wasserflaschen von den Tabletts hinunterbläst. Aber schwül wird's da auch so gut wie nie. Heiß ja, sehr heiß sogar (aber nie so muffig oder stickig wie in Berlin). Trotzdem sind immer alle Fenster geöffnet. Jedenfalls im Sommer.

Nach einigen Stunden Gespräch einigt man sich, wieder zurückzufahren in den guten alten Kiez Charlottenburg. Man wolle die U- beziehungsweise S-Bahn nehmen. Einstieg Schönleinstraße, Umstieg Alexanderplatz, dann via Lehrter Bahnhof, auch Hauptbahnhof genannt, zum doch um einiges ruhigeren, Erholung verheißenden Savignyplatz. Das sind Wege zu und vor allem in den neuen Bahnhöfen! Aber die schlechte, stinkig-stickige Luft der alten haben auch die vereinzelt installierten Rolltreppen und zusätzlichen Currywurst-, Döner- und Pappbrötchenbuden nicht vertreiben können. Der mitleidende Künstler rennt sogar für den durch die Schwüle zusätzlich Gehgeschwächten los, da es schon spät ist, aber der entzugsbedrohte Stubenzweig unbedingt noch seine Nachtdroge Schokolade benötigt. Es dauert, denn, wie erwähnt, die Wege sind lang im neumodernen Berlin, und der Schokoladenbote muß um sehr viel Tinnef- und sonstige Läden herumsprinten, in denen es all das zu kaufen gibt, das man garantiert nicht benötigt. Nach einer ganzen Weile kommt er schließlich zurück zu Stubenzweigs Wartestandort, triumphierend mit der quadratierten Marzipanschokolade winkend.

Endlich ist es geschafft, die S-Bahn erreicht, der Wagen nur mit ein paar wenigen Menschen belegt, man setzt sich an einen vermeintlich luftigeren Platz, da an beiden Seiten die Fenster geöffnet sind. Dennoch ist es unangenehm schwül. Kaum hat man Platz genommen, ist die Bahn losgefahren, stürzt sich eine ebenfalls zugestiegene Türkin Mitte zwanzig, eingehüllt in etwa zehn Schichten zur Abwehr von winterlichen, nordpolaren Temperaturen, in einer Geschwindigkeit, die man ihr bei ihrer Leibesfülle kaum zugetraut hätte, auf die Fenster rechts und links und schmeißt sie lautstark zu. «Also, das ist doch ...» begehrt der mitreisende Künstler auf. Es fehlen ihm die Worte angesichts dieses Anschlags. «... die Höhe», ergänzt unsereiner die Entrüstung, die ihm alles andere als schwerfällt, in Richtung der Luftabweiserin. Es ziehe, meint sie lapidar, wirft in nahezu perfektem Knappdeutsch Stubenzweig noch ein wütendes Was-Dich-angehen!? an den schwitzenden Kopf und wendet sich sofort trotzig-ostentativ wieder der Verschlossenheit ihrer Innenwelt zu. «Und weil es Ihnen zieht», entgegnet unsereins, sich wieder außerhalb Anatoliens und ein klein wenig in seinen Rechten zuhause fühlend, «dürfen die anderen hier ein türkisches Dampfbad nehmen?!»

Im hinteren, leeren Teil des Wagens könnte sie alle Fenster aller Berliner S-Bahnen schließen, ohne auf Gegenwehr zu stoßen. Doch sie bleibt demonstrativ mit hermetisch verriegeltem und nach unten gedrücktem Gesicht auf ihren breiten Gast-Rechten sitzen. Den Gesichtern der anderen Sauna-Mitreisenden ist deutlich anzusehen, wie unangenehm sie sich in dieser Situation fühlen. Den einen wäre es vermutlich lieber gewesen, irgendein anderer Mensch als ein deutlich sichtbar türkischer hätte uns allen die Sauna beschert. Am besten einer, dem man eine andere Art von Anderssein angesehen hätte, auf jeden Fall irgendwie keine sonderlich wehrhafte Erscheinung, also eine, bei der man eben so gut nach unten austeilen kann. Dem hätten sie dann vermutlich zumindest verbal ein gewaltiges Sperrfeuer unter dem Hintern entzündet. Aber etwas, aus welchen, am Ende gar berechtigten Gründen auch immer, gegen einen türkischen Gastmitbürger äußern, sei er nun gerade eingereist oder bereits in der dritten Generation hier «beheimatet», vor Menschen, die nicht ihrem Stammtisch angehören, das ist ihnen dann doch zu gefährlich. Es könnte ja ein allzeit bereiter Pfadfinder auf dem Weg des toleranten Miteinanders darunter sein, der die Profremdenpolizei ruft, die ihnen dann eine Strafanzeige wegen Diskriminierung aufbrummt. Auch die anderen, in deren Köpfen es anzunehmenderweise weniger martialisch zugeht, schweigen lieber betreten. Nichtmal duckmäuserisch, aber es macht sich nunmal nicht gut, gegen Frechheiten aufzubegehren, die von unseren türkischen Mitbürgern kommen. Jedem anderen, ob Mitberliner oder Anderswodahergelaufenen, aus Spandau oder Saskatchuan, würden sie ihre Meinung drastisch ins Gästegesangbuch geigen. Aber die immerwährend und ausgeprägten türkischen Integrationsbemühungen, so dreht sich die Politikergebetsmühle, zu unterlaufen, das schickt sich nicht. Also sind sie lieber politisch korrekt und halten die Klappe.

Lediglich ein in der Nähe sitzendes Paar hat wegen des «türkischen Dampfbades» geschmunzelt. Aber wohl eher wegen des Witzchens und weniger der Ungehaltenheitsäußerung wegen. An der nächsten Station ist's dann auch ausgestiegen.

Vorm Zwiebelfisch am Savignyplatz gab's dann ein verdientes kühles Bier. Und niemand beklagte sich, als von Südosten her ein Lüftchen aufkam und es zu tröpfeln begann. Die drei jungen Polinnen nahmen einfach ihre Plünnen und gingen nach drinnen.

Zum Schluß, aber nicht zuletzt: Der legendäre, dennoch uneitle Zwiebelfisch hat zum zweiten Mal Geburtstag gefeiert. Der erste, der dreißigste, fand 1997 statt. Und nun hatte Hartmut Volmerhaus die fünfundzwanzig Jahre zu bejubeln, in denen er die immerwährende Freund- und Herzlichkeit dirigiert, die hier die Atmosphäre ausmacht (sieht man von der Eitelkeit des absolut uneitlen Dauergastes ab, der schonmal ein wenig fremdelt), nicht nur Stammgästen gegenüber, die hier seit vierzig Jahren morgens um drei noch vier Bier und fünf Schnäpse ordern. Darüber freue ich mich jedesmal.
 
Sa, 18.10.2008 |  link | (1848) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs


nnier   (18.10.08, 16:49)   (link)  
Sie sprechen da ein Thema an, zu dem ich ähnliche und auch noch wesentlich drastischere Erlebnisse beizusteuern hätte. Einen langen Kommentar dazu habe ich heute morgen geschrieben und dann doch nicht abgeschickt (aus der Befürchtung, einem komplexen Thema in dieser Form nicht gerecht werden zu können).

Allzuschnell geht es dann nicht mehr um die Frage, ob bestimmte ganz grundlegende gesellschaftliche Regeln - nennen wir's mal Höflichkeit im Sinne einer Haltung, sich gegenseitig so wenig wie möglich auf die Nerven zu gehen - ganz unabhängig von nationaler oder kultureller Herkunft einzuhalten und auch -fordern sind, wenn das Zusammenleben halbwegs funktionieren soll, sondern darum, ob man "für" oder "gegen" diese und jene sei; es ist ein Jammer.


jean stubenzweig   (19.10.08, 13:11)   (link)  
Noch drastischer?
Ja, sicher doch. Dennoch habe ich, wohl aus den von Ihnen erwähnten Gründen, eine ganze Weile überlegt, ob ich's so aufschreiben soll, wie ich's aufgeschrieben habe. Hätte ich's nach den Äußerungen meines Mitreisenden beziehungsweise dessen, wie er meinte, ewiglangen Erfahrungen und Warnungen getan, wäre tatsächlich dieses Abwatschen einer ganzen Nation dabei herausgekommen. Wir wissen es und andere wissen es auch, daß unsereins das nun wirklich nicht meint. Dennoch wird man von denen, die zu differenzieren nicht gewillt sind, in eine Ecke gedrängt, in die man nicht hineingehört.

Ja, es ist ein Jammer. Vor allem, daß es Menschen gibt, denen das (Anders-)Denken so schwerfällt.















Werbeeinblendung

Jean Stubenzweig motzt hier seit 5808 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



... Aktuelle Seite
... Beste Liste (Inhaltsverzeichnis)
... Themen
... Impressum
... täglich
... Das Wetter

... Blogger.de
... Spenden



Zum Kommentieren bitte anmelden

Suche:

 


Letzte Kommentare:

/
Migräne
(julians)
/
Oder etwa nicht?
(jagothello)
/
Und last but not least ......
(einemaria)
/
und eigentlich,
(einemaria)
/
Der gute Hades
(einemaria)
/
Aus der Alten Welt
(jean stubenzweig)
/
Bordeaux
(jean stubenzweig)
/
Nicht mal die Hölle ist...
(einemaria)
/
Ach,
(if bergher)
/
Ahoi!
(jean stubenzweig)
/
Yihaa, Ahoi, Sehr Erfreut.
(einemaria)
/
Sechs mal sechs
(jean stubenzweig)
/
Küstennebel
(if bergher)
/
Stümperhafter Kolonialismus
(if bergher)
/
Mir fehlen die Worte
(jean stubenzweig)
/
Wer wird schon wissen,
(jean stubenzweig)
/
Die Reste von Griechenland
(if bergher)
/
Richtig, keine Vorhänge,
(jean stubenzweig)
/
Die kleine Schwester
(prieditis)
/
Inselsommer
(jean stubenzweig)
/
An einem derart vom Nichts
(jean stubenzweig)
/
Schosseh und Portmoneh
(if bergher)
/
Mit Joseph Roth
(jean stubenzweig)
/
Vielleicht
(jagothello)
/
Bildchen
(jean stubenzweig)






«Ist Kultur gescheitert?» ? «Bitte gehen Sie weiter.»



Suche:

 




Anderenorts

Andere Worte

Anderswo

Beobachtung

Cinèmatographisches + und TV

Fundsachen und Liebhaberstücke

Kunst kommt von Kunst

La Musica

Regales Leben

Das Ende

© (wenn nichts anders gekennzeichnet): Jean Stubenzweig





pixel pixel
Zum Kommentieren bitte anmelden

Layout dieses Weblogs basierend auf Großbloggbaumeister 2.2

pixel pixel