Wohltemperierter Punk

Es gilt, das Bild von den Deutschen, die von Deutschen allzugerne in den Worthungerturm von Pisa weggesperrt werden, (wenigstens) ein bißchen zu korrigieren, na ja, der Einzelheit wegen vielleicht besser: zu retuschieren:

Gestern, von einem letzten Gruß kommend, in der S-Bahn Blankenese (für der monetären Geographie Unkundige: in diesem Hamburger Vorort leben überwiegend etwas noch ein bißchen besser Verdienende) in Richtung der pekuinär-konsumistischen Landungsbrücke Jungfernstieg. Ein junger Mann im Protestgewand des zwar eher angedeuteten, aber durchaus als ernstgemeint erkennbaren Punk, zurückgezogen in (s)eine autistisch scheinende Welt, die ohne Musik nicht mehr zu ertragen sei, allerdings und verblüffenderweise in einer Lautstärke, die andere nicht teilhaben ließ an seiner Angewidertheit von eben diesem unserem Planeten. Unsereins mutmaßte bereits, der junge, circa Zwanzigjährige höre am Ende gar nicht das, was häufig als Geräusch empfunden, sondern wohltemperiertes Klavier, als es sich auch schon ereignete: Er zog irgendwo zwischen Ketten und antifaschistischer Halsumwicklung sowie friedensbewerten und antirassistischen Knöpfen einen Briefumschlag hervor, nahm mit zartfühlenden Fingern den vermutlich nicht zum ersten Mal gelesenen Brief heraus und las still und immer wieder. Zwar hielt unsereins trotz schier übermächtiger Neugier diskreten Abstand, doch die altersbeeinträchtigten Augen stellten sich so scharf, um sowohl auf dem Umschlag als auch dem dreiblättrigen, vor- und rückseitig beschriebenen Brief zu erkennen: in akkurater, feiner Mädchenhandschrift die Botschaft, nach der es (vermutlich) einen denkenden und fühlenden Mikrokosmos gebe und glücklicherweise nicht alle Frauen des 21. Jahrhunderts Matt, unklug und irgendwie selber schuld ... seien.

Mit einem leichten Lächeln im Gesicht stieg unsereins dann in das stadträndisch parkende und ridende Gefährt, um einen anderen Zwanzigjährigen aufzunehmen und ihn zu dessen Freundin zu kutschieren. Und da erzählt dieser junge Wilde doch tatsächlich davon, er müsse dringend dorthin zu ihr, um die letzten hundertfünfzig eines dort liegenden, geschichtlich bedeutsamen, gestern begonnenen, insgesamt vierhundert Seiten dicken Buches zuende zu lesen. Nein, keine Piratengeschichte wie zu früheren Zeiten, von Störtebeker etwa und dessen tobenden Enteignungen, keine zeitvertreibende Weltablenkung, sondern bildungsvertiefende Lektüre mit wissenschaftshistorischem Hintergrund, und die auch noch als spannend bezeichnend. Und da, die Verblüffung hatte sich noch nicht gelegt, kehrte es in die kalkigen Alterswindungen zurück: Seine Gefährtin liest ja selber so einen Kram, und zwar mit soviel Genuß, daß offensichtlich die Lust sogar überspringt auf junge Männer, die vor gar nicht allzu langer Zeit nichts anderes zu tun hatten, als mit rollenden Bügelbrettern über die Koppel zu fliegen und dem Ortsbullen sowie den Restdörflern Ängste vor der vor nichts zurückschreckenden Jugend einzujagen.

Womit wir beim hiesigen Dauerthema wären, gestern an anderer Stelle aufgenommen.
 
Do, 23.10.2008 |  link | (1614) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino


kid37   (24.10.08, 02:59)   (link)  
Die Jugend will uns doch provozieren! ;-)


jean stubenzweig   (24.10.08, 03:44)   (link)  
Mit Büchern?
Mein Weltbild gerät ins Wanken.


hap   (24.10.08, 11:52)   (link)  
Wenn dein Weltbild
ins Wanken gerät, dann muss man doch konstatieren: Der wohltemperierte Punk war erfolgreich, Jugend ist forsch. Und im Übrigen gilt selbstverständlich auch hier das Wort des großen Philosophen Karl Valentin: "Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie mal war."
Wobei mir noch einfällt: Gibt's eigentlich ein sinnverwandtes Wort für Synonym?















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 5813 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



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