Zwei Tage. Der erste. I.

Er kommt nach Hause. Im Flur brennt Licht. Hat er es bei der Abreise vergessen auszuschalten? Doch er spürt, daß jemand in der Wohnung ist. Wer? Der Hausmeister? Dann wäre es nicht so still, darf er doch nur bei Katastrophen hinein. Eine leise Katastrophe? Aber nicht bei diesem serbischen Tanzbär. Die Putzfrau kann es auch nicht sein. Dieser Niederbajuwarin hatte er vor seiner Abreise die Schlüssel weggenommen, nachdem sie wochenlang immer wieder mal einen Griff in seine heimlich geglaubte Schatulle getan hatte. Isaac, die einzige, die außer dem Haushüter einen Schlüssel zur Wohnung hat, umturnt gerade in Peking chinesische Multimedialartisten. Oder ist sie vorzeitig zurückgekehrt? So wird es sein. Denn er dreht vor dem Verlassen der Wohnung immer drei Kontrollrunden. Er ruft mit gespieltem Ernst: «I-s-a-a-c, was schleichst Du Dich hier ein? Hast Du keine Wohnung?! Gefällt Dir besser hier, oder wie?» Er fährt seinen Rollkoffer in die Küche, quer durch den Eingangsbereich, um den immer gepflegten hellgrauen Teppichboden nicht einzudrücken. Er würde sich um eine neue Hausdame bemühen müssen, wie sie in der Mutter Sprache bezeichnet würde, ob sie chronisch langfingrig ist oder nicht. «Kannst Du mir nicht wenigstens einen Kurzfunk schicken?» ruft er vernehmlich, in dem Ton, den sie von ihm gewohnt ist, geprägt von sieben Jahren gemeinsamem Leben und anschließendem, geradezu geschwisterlichem, also bisweilen etwas rauh. Keine Antwort. Er wird ungehalten. Entgegen seiner Gewohnheit, die Jacke ordentlich auf den Bügel und in die Garderobe zu hängen, wirft er sie auf den Tisch, von dem daraufhin eines der immer dort gestapelten Bücher hinunterfällt, die irgendwann gelesen werden wollen. Das steigert seinen leichten Ärger. Er mag keine geknickten Bücher.

Merde d'or ! Seit dem Film Marius et Jeannette war auch für ihn aus der großen Scheiße eine goldene geworden. Er hatte es bei den vielen Malen, die er ihn gesehen hatte, jedenfalls immer so verstanden. Es lag aber nicht unbedingt an seinem seit seiner mittelohrvereiterten Kindheit miserablen Gehör. Es war wohl eher dieser sanfte Marseillaise-Gesang in diesem bezaubernd verschachtelten Kathedrälchen der Liebe und des Gemeinsinns von l’Estaque, in dem er gerade wieder einmal zukunftsversonnen vor sich hinmeditiert und auch gut gegessen und getrunken hatte. Merde alors hatten alle diese Jeannettes und Marius' schlicht und immer wieder gegrummelt. Also keine goldene Scheiße, sondern ein schlichtes Donnerwetter. Aber merde d'or klingt ertragreicher. Nicht nur literarisch.

Keine Regung. Das ist nicht Isabella. Isabella von Wyler, von ihm Isa-AC oder Isa-ac getauft. Je nach Lust und Laune — Isa à conto, Isa à Condition, im besten Fall Isa-Appellation Contrôlée, oder auch, im schlimmsten, Isa-Actinium, dieses eher seltene radioaktive metallisches Element, das zählebigste Isotop mit einer Halbwertzeit von 21,8 Jahren. Dieser gelassen in sich ruhende Atomkern wäre längst grinsend, wenn auch vorsichtig herausgekommen aus einem der Zimmer. Sie liebt es, ihn zu provozieren. Sie weiß jedoch ebenso, wie rasch er ins Cholerische gerät. Keine Regung. Sie kann es nicht sein. Seine angeborene und in den letzten Jahren zunehmend gewachsene Hasenfüsigkeit beginnt, ihn in die Garotte zu nehmen. Er getraut sich nicht, der Sache auf den Grund zu gehen und einfach in die anderen Räume zu schauen. Schon gar nicht in den, in dem er jemanden vermutet. Ihm schwant nichts Gutes. Den Erkundungsgang hinauszögernd, nimmt er den Bügel aus der Garderobe, hängt den leinenen Zweireiher darauf und beides auf die Stange. Er rafft dann jedoch all seinen Mut zusammen und geht in Richtung des größeren Zimmers. Tatsächlich sitzt jemand auf dem Stuhl an dem fensternahen Wirtshaustisch aus dem vorletzten Jahrhundert, der mittlerweile für weniger derbe Tätigkeiten genutzt wurde, raucht und schaut in seine Richtung. Die Straßenbeleuchtung und das Licht aus dem Flur geben nur Schemenhaftes frei. Doch daß dort eine Frau sitzt, ist deutlich zu erkennen.

«Salut, Didier.»
Niemand nennt ihn Didier. Es gibt zwar ein paar wenige, die diesen Namen kennen, den ihm, gegen den Willen des zwar introvertierten, aber doch um einiges fröhlicheren Vaters, seine Mutter gegeben hatte, weil er so angenehm belanglos, so unauffällig war wie sie, die immerfort in der Unscheinbarkeit verschwinden wollte, die alles haßte, was, in welcher Form auch immer, ins Rampenlicht geraten konnte. Es gelang ihr sogar, bei aller Gepflegtheit, die sie ihrer Attraktivität angedeihen ließ, trotzdem immer irgendwie graumäusig zu wirken. Ein Leben lang sollte er über dieses seltsame Verlangen nachdenken müssen, in der Unsichtbarkeit verschwinden zu wollen. Im wesentlichen war ihr das auch gelungen. Didier. Vermutlich war sie es, die ihn das letzte Mal so genannt hatte. Alle anderen konnten oder wollten den Namen, aus welchen Gründen auch immer, nicht aussprechen. Ausgerechnet im damals französischen Saarland, wohin er während seiner Kindheit des öfteren und jeweils von weither in die Sommerfrische verschickt worden war, verpaßten sie ihm das Äquivalent: Dietrich. Eigentlich gehört das ja zu Thierry. Aber sei's drum, so sollte er anfänglich heißen, er sich selber dortan so nennen. Aber als er dann in die große doppeldeutsche Stadt gegangen war, um befehlsgemäß etwas Ordentliches zu lernen, war den Kommilitonen das dann zu altbacken. Oder zu germanisch in Zeiten, als das Pariserische quasi existentiell war. Doch er war bereits in den mütterlich vorgetretenen Pfad des Unauffälligen getreten und hatte seinen richtigen Namen nie erwähnt. Er hätte es schlicht als zu eitel, gar als affig empfunden, mit einem Mal en vogue mitzuschwimmen. Die Wirklichkeit wäre ihm zu grell gewesen. Irgendwann wandelte jemand den Dietrich in einen Dieter um. Er war's zufrieden. Es kam dem Original letzten Endes auch phonetisch näher. Dabei war es geblieben.
Aber Didier?

Langsam gewöhnen seine Augen sich an das Dämmerlicht, er sieht mehr von ihr. Er kennt die Frau nicht. Er ist sich sicher. Auch die Stimme ist ihm unbekannt. Er kann sich keine Telephonnummern merken, kann dem Pannenhelfer am Telephon das Kennzeichen seines Gefährts nicht mitteilen, wird bis zu seinem Dahinscheiden 3-3-3, bei Issos Keilerei, mit einer anderen historischen Schlacht verwechselt, also auch mit Hilfe der Mnemotechnik nicht gelernt haben, etwas korrekt aus der Vergangenheit abzurufen. Aber bei Gesichtern von Frauen — zumindest eines bestimmten Typs — scheint er über ein phänomenales Erinnerungsreservoir zu verfügen. Und dieses Gesicht, das war trotz des diffusen Lichts klar, hätte sein Gedächtnis nie mehr aus seinen Hirnwindungen gelassen. Sie hat reizvolle Konturen, ein langgestrecktes, feingeschnittenes Gesicht mit einem eher angedeuteten Nasenhäkchen, darüber sehr dunkle, vermutlich geradezu schwarze Augen. Soviel ist auch im schummrigen Licht zu erkennen. Und diese extrem kurzen Haare. Er kennt diese schwarze Odaliske. Dieses Gesicht hat einen Tryptichon-Altar in seinem Kopf.
Aber diese Frau hat er noch nie gesehen.

Ob ich das fortsetze, weiß ich noch nicht so genau. Wir sind hier doch nicht im Poesiealbum.

24.01.2012: Dies und das Nachfolgende entstand vor etwa zehn Jahren, skizziert in sechhundertdreißig Seiten. Da das Interesse größer zu sein scheint, als ich dachte, denke ich darüber nach, eine geordnete, komplette, vielleicht sogar die (Ur-)Fassung hier einzustellen, die den Lesefluß erleichterte. Doch die Opposition in mir spricht dagegen. Das eine oder andere Signal würde einen Beschluß gegen den Nein-Sager in mir erleichtern.

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählung
 
Do, 27.11.2008 |  link | (2367) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage


nnier   (27.11.08, 09:19)   (link)  
Ach du goldene ...
"Weiß ich noch nicht so genau"? Bitte? Das will ich nicht gelesen haben!


hanno erdwein   (27.11.08, 12:32)   (link)  
Bitte fortsetzen!
Neugierig gemacht hängt der Leser nun frei in der Luft und fragt sich, wer dieses so unbekannt/vertraute Wesen denn nun ist. Eine Fortsetzung wäre höchst wünschenswert! (Hanno)


jean stubenzweig   (27.11.08, 16:39)   (link)  
Das kann aber
eine verdammt lange Geschichte werden, meine Herrn. Und eine arch verwickelte dazu. Oder verworrene. Denn bei dem Protagonisten stimmt's im Oberstünchen irgendwie nicht so. Schau'n mer mal, wie der große Giesinger Philosoph zu denken pflegt.

Ich weiß ja nicht, ob der je so motivierend, so anfeuernd war gegenüber seinen Ertüchtigungsliteraten auf dem Spielfeld, wie das durch Sie der Fall ist. Mir gegenüber. Dank.

Zwischendurch werde ich mich thematisch sicherlich auch mal wieder anders ergießen. Was eben so am Wegesrand herumliegt. Um die großen Weltereignisse kümmern sich ja die anderen.


nnier   (27.11.08, 18:39)   (link)  
Lese ich eben solange den Pagnol, der ist auch nicht schlecht.















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 5807 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



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