Linien

Was hat die seit den Achtzigern in Paris lebende Freundin aus Israel — selber eine wunderbare, köstliche Chaotin von genetischen Gnaden, die freundlicherweise nicht ans Lenkrad darf — mal wieder geschimpft auf «diese Franzosen». Die können alle nicht Autofahren! Schau mal, wie die da stehen. Alle kreuz und quer! Es geht nicht voran!

Richtig. Alles steht kreuz und quer. Im 1. Arrondissement von Paris ebenso wie in dem von Marseille. Und es geht, meiner Meinung nach, dennoch wunderbar voran. Keiner regt sich auf. Es wird auch weitaus weniger gehupt, als das rechtsrheinisch kolportiert wird. Manch einer weiß es vielleicht nicht: Das ist alleine das Privilig der Italiener. Und da die Deutschen die italienische Lebensart bevorzugen, machen sie's gerne nach. Irgendwie bewegt es sich dann doch. Mit oder ohne Linien. Die man in Deutschland immer benötigt. Und dennoch nicht vorankommt. Wenn man den Deutschen keine Linien auf die Straße malt, machen sie ganz schnell aus drei zur Verfügung stehenden Spuren eine. Franzosen halten sich grundsätzlich nicht daran. Alle Linien sind runter-, abgefahren, da sie als Maßregelung gelten. In Deutschland gibt es überall, aber wirklich überall Fahrbahnmarkierungen. Wo auch immer du hinschaust. Alles ist zugemalt mit diesen weißen Strichen. Es gibt keinen Winkel mehr, in den nicht ein Fahrbahnmarkierungskommando geschickt würde. Wenn keine vorhanden sind, bei einer neuen Asphaltierung beispielsweise, darf man nur noch Schrittempo fahren. Vermutlich weil sie sich sonst verfahren. Neue Fahrbahndecke — Dauerstau. Weil sie keine Hilfslinien haben. Deshalb kracht’s auch dauernd. Das Überfahren einer durchzogenen Linie ist verboten und wird nicht unter bestraft. Und wenn du Dein Auto nicht innerhalb einer solchen Markierung parkst, also das Heck ein bißchen über eine dieser Linien hinausreicht, kleben sie dir ein Knöllchen an die Windschutzscheibe wegen Übertretung der Parkzone. Mehr als einmal ist mir das passiert. Hier in Paris klemmen sie einem auch ständig Zettelchen hinter den Scheibenwischer, doch sie benötigen dazu keine Markierungen. Denn es gibt schlicht keine Parkplätze. Zumindest keine freien. Dafür braucht es also keine Linien. Also, wie auch immer — ich empfinde es ohne diese zugestrichelten Straßen als angenehmer. Es lebe die unlinierte Zone. Ob der Verkehr nun steht oder rollt. Und wenn er dann wieder läuft, macht es mir Spaß, an der Place d’Italie herumzuzischen, und daß es meistens bei Handzeichen bleibt, wenn's mal ein bißchen schabt am Kotflügel.

Wie meinte bereits 1926 unser Freund über sein geliebtes Paris, von dem aus er seit zwei Jahren nach Berlin korrespondierend telegraphierte: «Hier fahren die Autos glatt und schnell. Und geraten sie wirklich mal aneinander mit leichtem Buff, dann sagt keiner: ‹Dir hol ick jleich runter vom Bock, du oller Mistkutschenfahrer, pass mal uff ...!›»*



* Kurt Tucholsky: Pariser Dankgebet, Gesammelte Werke Bd. 4, p 446
 
Mo, 19.01.2009 |  link | (1414) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs


mark793   (19.01.09, 15:06)   (link)  
Naja,
wir kommen auch noch dahin, die Stricheleien als Empfehlung an den mündigen Verkehrsteilnehmer zu nehmen und nicht als bindende Verpflichtung zum sturen Geradeausbolzen. In Berlin zum Beispiel ist dieser Prozess schon sehr weit fortgeschritten.

Ich hatte noch nie Probleme, mich auf Pariser Verkehrsverhältnisse umzustellen. Allerdings behaupte ich, so friedlich und geräuschlos, wie Sie es schildern, geht es vielleicht in der Provinz zu, nicht aber in der Seine-Metropole.

Interessanterweise habe ich Frankreich immer wieder den Eindruck, dass die einheimischen Fahrer deutscher Autos etwas sturer, verbissener und zügiger unterwegs sind als ihre Landsmänner in den P*ugeots, R*naults und Citro*ns.


jean stubenzweig   (20.01.09, 00:09)   (link)  
So gemütlich,
wie's rübergekommen sein mag bei Ihnen, nein, so ist's nicht, war's auch nicht gemeint. Der gemeine Franzose hält sich ja für den besten Autofahrer schlechthin. Auch er ist immer gut flott unterwegs, aber, das ist das Entscheidende, dabei gelassener und denkt mehr für die anderen Verkehrsteilnehmer mit. Und da ist sicherlich was dran, daß die Piloten der Automobile ab gehobener Mittelklasse aus dem Rechtsrheinischen gerne eher draufhalten. Sie sind es auch, die gerne auf den Autobahnen gut schnell unterwegs sind (und dann auf die Abzocker schimpfen – die wirklich viel Geld verlangen). Aber ach: Würden sie sich sonst auch solche Fahrzeuge zulegen, etwa die sehr gerne gefahrenen aus München. Das gilt sogar für die Städte und Regionen außerhalb der Insel Paris. Denn es ist schon bemerkenswert, wie sehr sich die Hauptstadt immer noch vom Rest der französischen Welt unterscheidet.

Hauptzielpunkt hier ist mir allerdings ohnehin der Strich. Gegen ihn geht mir in erster Linie, diese maßlose Übertreibung mit dieser Pinselei in Deutschland. Und die rigide Verfolgung bei Übertretungen (Berlin kann ich schlecht beurteilen, da ich dorthin meist mit der Bahn fahre), ob im fließenden oder gar ruhenden Verkehr. Wenn das Gepinsle in letzter Zeit etwas nachgelassen hat, dann dürfte das alleine der zurückgegangenen Etats der Kommunen geschuldet sein.















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