Walsers Vermächtnis

Schon zur Zeit, als Martin Walser seine Rede in der Frankfurter Paulskirche gehalten hatten und die ersten Stürme durch den deutschen Blätterwald getobt waren, überkamen mich leise Zweifel an der Berechtigung dieser teilweise derben Kritiken. Vor allem keimte in mir der Verdacht — die Erfahrung hatte es mich gelehrt —, es könnten einige Kommentatoren wieder nur die Waschzettel gelesen haben — wie sie das gerne machen bei ihren umfassenden Rezensionen; allzu oft habe ich es erlebt, daß Kritiker eine documenta oder einen Ernst Jünger verrissen hatten, die ihr Lebtag noch nie in Kassel oder von dem Kriegsfreiwilligen lediglich Auszüge aus dessen In Stahlgewittern bekannt waren. Seinerzeit von Jaap Grave um meine Meinung gebeten, da er für eine Tageszeitung seiner niederländischen Heimat ein Interview mit Walser führen sollte, verwies ich aus ebendiesen Gründen auf Zurückhaltung im Zusammenhang mit diesem Thema in den deutschen Medien. Ich sollte richtig liegen. Aus dem mir (auf Tonband) vorliegenden Gespräch geht zwar hervor, daß Walser sich seinerzeit zweifelsohne kritikfähig geäußert hatte, aber das meiste doch unüberdacht und häufig aus dem Zusammenhang gerissen zitiert, allzu oft schlicht abgeschrieben worden war. Letztendlich geschieht genau das auch im Zeit-Text von Tanja Dückers. Zwar ist ihr recht zu geben an dem Punkt, an dem sie auf den allzu leichtfertigen oder erinnerungsunfreudigen Umgang der Deutschen mit ihrer Nazi-Vergangenheit hinweist. Aber der Hinweis «Seit Martin Walser in seiner Paulskirchenrede für sich die Entbindung vom ‹Erinnerungsdienst› einforderte, herrscht eine Stimmung, die man mit dem kleinen Wort ‹genug› beschreiben könnte: ‹genug gebüßt›, ‹genug über den Holocaust geredet›» ist nicht minder leichtfertig. Unfreiwillig, aber letztendlich dann doch haut sie damit in dieselbe Kerbe. Bildungswillige jüngere Menschen, die sich in die Zeit und sonst gar nichts vertiefen, um ihre Wissenslücken zu füllen, geraten so in ein nicht ungefährliches Niedrigwasser, bei dem ihr Historienschiff leicht auflaufen könnte. Frau Dückers' gutgemeinter Hinweis könnte sich als desinformierende Sandbank erweisen, von der nur noch ein umfassend ausgestatteter Schlepper herunterhelfen kann. Sicher, ein älterer Mensch, zudem möglicherweise einer, der indirekt (oder gar direkt?) von dieser Vergangenheit malträtiert worden war — und der deshalb, wie das ZDF, und nicht nur dessen History wegen, auf einem Auge erblindet sein könnte —, weiß um die Hintergründe der Debatte um Martin Walsers Äußerungen zur Buchhandelsfriedenpreisverleihung vor bald zehn Jahren. Aber die — darüber bin ich gerade im Dickicht des Archivs gefallen — in Zusammenhang zu bringen mit einem vermutlich (mal wieder!) nicht oder nur in Auszügen gelesenen Buch über einen «liebenden» Mann, der zum Zuge nicht kommen durfte, weil der längst abgefahren war, das ist als Witzchen so flach, daß es, wie die Büddenwarderin zu sagen pflegt, unter jeder Tür in die Stube gelangen könnte.


Nochmal im Zusammenhang mit Martin Walsers Elegie. Es ging um einen Kommentar, der ungeschickterweise nun doch gelöscht wurde. Mehr dazu von Hans Pfitzinger im Kommentar.

Die dazugehörige Photographie stammt von maha-online unter CC.

 
Di, 17.02.2009 |  link | (3311) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino


jean stubenzweig   (17.02.09, 07:11)   (link)  
Dummbeuteleien
Ein Kommentar von Hans Pfitzinger

Sie hatten völlig recht, den Kommentar von Aaron Tülp n i c h t rauszuschmeißen. Seine oberflächliche Mediengläubigkeit ist doch symptomatisch. Der Skandal ist diese dumme Bemerkung von Tanja Dückers zu Walsers Paulskirchenrede und die Tatsache, dass so ein Flachsinn in der Zeit steht. So ähnlich geht man ja auch mit Peter Handke um, der das Recht des Schriftstellers auf Protest gegen die allgegenwärtige Gehirnwäsche für sich in Anspruch nimmt, und dafür als dümmlicher Serbenfreund durch die Gazetten getrieben wird. Genauso wie zu Gerhard Schröders Zeiten die gesamte Medienmeute (Spiegel, ARD, ZDF, Zeit, Süddeutsche, FAZ etc. pp.) plötzlich einmütig Schröders Dummbeuteleien unterstützte: Zur Abschaffung des Sozialstaats, zur Verarmung der Globalisierungsverlierer, zur Umschichtung des gesellschaftlichen Reichtums, zur Privatisierung des öffentlichen Eigentums, zu Massenentlassungen bei gleichzeitigen Rekordgewinnen etc. gäbe es "keine Alternative". Dabei haben diese Meinungsmacher noch nicht einmal gemerkt, dass sich der Wind längst gedreht hat. 
Raten Sie mal, wer die folgende Äußerung vergangene Woche in einem Interview von sich gegeben hat - es ging um die niedrigste Wahlbeteiligung aller Zeiten bei der Münchner Kommunalwahl (47 Prozent!): "Das heißt, dass sich die Parteien Gedanken machen müssen, warum die Menschen nicht mehr wählen. Diese Entwicklung ist gefährlicher als die Links-Partei, weil es eine innere Auswanderung aus unserem politischen System signalisiert. Diese Menschen sehen keine Zukunft mehr." Und: "Das hängt damit zusammen, dass die Volksparteien die soziale Schieflage nicht erkannt haben, in der sich die Leute befinden, und dass die Propaganda von der Globalisierung unsere Arbeitsplätze verbilligt. Die Politik schafft sich ab, wenn sie davor die Augen verschließt. Die Schutzfunktionen der Sozialen Marktwirtschaft gelten nicht mehr, und wenn die Parteien sagen, dass sie da nichts mehr machen können, muss man sie auch nicht wählen."
"Innere Auswanderung" und der zuletzt zitierte Satz bringen die politische Lage genau auf den Punkt. Recht hat er, der Peter Gauweiler: Abendzeitung

Schöne Grüße!

hap















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