Blick nach oben

«Kunst ist religiös — oder sie ist keine Kunst. Wenn Sie die Natur wirklich bewundern, dann kommen Sie gar nicht umhin, das religiös auszudrücken. Zu malen, was man vor Augen hat, ist nichts anderes, als sich dem Göttlichen anzunähern. Sich als Künstler von der Natur abzuwenden, ist für mich Verrat. Nur wer sich der Natur zuwendet, wird erkennen, dass sie Gottes Schöpfung ist. Seitdem die Maler aufgehört haben, die Welt zu betrachten, hat die Kunst ihren Sinngehalt, alles Heilige verloren.»

Balthus, in: Süddeutsche Zeitung Magazin, Nr. 9, 3. März 2000, S. 34


«Wir sind seit langem an der Stelle Gottes. Und deshalb haben wir soviel Probleme. Der Umgang mit einer Gottesvorstellung ist auf seltsame Art und Weise verbunden mit Angst, Hoffnung und einem gewissen Schwindelgefühl vor dem Tod. Wenn ein Künstler eine Kathedrale schafft, dann versucht er, den Blick nach oben zu ziehen. Jeder Versuch aber, den Blick nach oben zu lenken, ist immer ein gefährliches Unternehmen, es ist immer ein Machtwille dahinter, ob theologisch oder politisch, das ist einerlei. Der nach oben gelenkte Blick setzt einen Betrachter voraus, der unten ist, der Angst hat, der das Oben, möglicherweise Gott, braucht, um seine Angst, sein Gefühl von unten sein, von Machtlosigkeit zu überwinden.»

Pedro Cabrita Reis im Gespräch mit Doris von Drathen, in: Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, 56.2001, S. 14f.

Die Photographie stammt von avialle und ist unter CC lizensiert.

 
Mi, 25.02.2009 |  link | (3312) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Fundsachen


tropfkerze   (25.02.09, 18:56)   (link)  
Diese Gegenüberstellung der Meinungen hat starke Überzeugungskraft. Und doch muss sie nicht treffen.

Natur - Natur auch in der Darstellung des Menschen ist religiös, muss religiös sein, denn in der Schönheit spiegelt sich das Göttliche. Die Schönheit geht über alle profanen Erklärungsversuche hinaus.

Und doch muss das Göttliche nicht "oben" sitzen, man muss nicht aufschauen, das versuchen uns nur religiöse Gemeinschaften einzureden, die nicht das Göttliche meinen, sondern Götzen. Das Göttliche kann überall sein, kann sogar in mir sein. Es gibt keinen Grund, nach oben zu schauen, um Schönheit zu schauen, und in der Schönheit das Göttliche.


jean stubenzweig   (26.02.09, 02:12)   (link)  
Zustimmung meinerseits,
daß der erzwungene Blick nach oben durch die Kirchen geschieht. Aber Cabrita Reis sprach von Kathedralen, und in der Zeit, als die ersten errichtet wurden, gab es nichts anderes als die Macht, die den Blick der Fürchtigen nach oben zwang. Daß dies auch heute noch in den meisten Menschen steckt, auch in Künstlern, das deutete er damit an.

Die Naturdarstellung des Menschen, daß die grundsätzlich religiös sein muß, das bestreite ich hingegen heftig. Es gibt auch andere Perspektiven. Weshalb sollte ich beim Betrachten oder Abbilden der Natur an einen Gott denken müssen? An welchen auch immer. Es gibt eine evolutionäre Schönheit, bei deren Anblick ich auch nicht unbedingt Herrn Darwin anbeten muß.

Überhaupt will Schönheit erst einmal definiert sein. Nicht für alle feiert die Antike fröhliche Urständ, auch wenn man so manches Mal meinen möchte, die Hülle des Herrn Winckelmann stünde überall herum. Allerdings huldigen meist diejenigen dessen inhaltsloser Formalästhetik – und das häufig mißverstehend –, die nicht mitbekommen haben, wie ausgeprägt ein Baumgarten Mitte des 18. Jahrhunderts das Ästhetische differenziert hat. Aber deshalb verstehen viele beispielsweise auch einen Cabrita Reis nicht. Weil sie spätestens bei Winckelmann aufgehört haben, darüber nachzudenken. Wenn Sie's überhaupt je getan haben. Und dann auch noch Rosenkranz: das Amorphe, die Asymetrie, die Disharmonie, die Inkorrektheit. Und so weiter. Mitte des 19. Jahrhunderts. Das ist ebenfalls an den meisten vorübergezogen.

Das alles spricht nicht gegen die Feier des Schönen auf Ihrer Seite. Das darf man genießen. Doch sollte man wissen, daß es auch anderes gibt. Und wer das am Ende gar verleugnet, ist ein stumpfer Winckelmann-Adept, der dumpf anbetet: vages Göttliches nämlich, das als solches vorgegeben ist. Und bei alldem meine ich nicht den Maya oder Mayo, den Schopenhauer den «Nichtwissenden» genannt hat, denjenigen, der an der Teilnahme gesellschaftlicher Entwicklung gehindert ist.


tropfkerze   (26.02.09, 09:13)   (link)  
Oh, das ist ja eine ganze Menge, worauf ich gar nichts Substantielles entgegnen kann. Aber "mein" Begriff von Schönheit hat gar nicht Inhaltliches, er sieht ab von Fragen der Symmetrie, des Goldenen Schnitts, vom Objekt, worin Schönheit erscheint, selbst von dem, was landläufig als "schön" bezeichnet wird und der Mode unterliegt.

Was ich hier unter dem "Göttlichen" verstehe, ist nur dieser unaufgeklärte Rest, den keine noch so dolle Bestimmung von Schönheit einfangen kann und auch über die Betrachtungen der biologischen Evolution (menschliche Proportionen als Hinweis für Fruchtbarkeit usw.) hinausgeht. Diesen unaufgeklärten Rest (eigentlich den Kern) der Schönheit bezeichne ich als "göttlich" und damit undefinierbar. Ahnlich wie das Gute sich allen möglichen ethischen Betrachtungen letztlich entzieht - auch wenn die Goldene Regel oder das Neminem laede von Schopenhauer noch so nützliche Hilfestellungen geben.















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