Fertig mit Essen

Mir ist gar nicht nach essen. Ich habe in angespannten Situationen nie Hunger, und wenn er vorhanden ist, wird er bei intensiverem Nachdenken zurückgedrängt, verdrängt. Essen kann und mag ich eigentlich nur in völlig entspannter Stimmung. Hunger habe ich des öfteren, richtiger Appetit kommt bei mir jedoch erst dann, wenn sich alle Anspannung gesenkt hat. Wenn ich spüre, daß ich unbedingt etwas essen muß, reiße ich eine Packung mit Fertigsalat oder ähnliches auf, stopfe ich irgendwas in mich hinein. Überhaupt habe ich das Kochen aufgegeben. Früher, ja, als ich des öfteren, häufig langanhaltenden Besuch hatte, da stand ich stundenlang in der Küche und habe mit den bescheidenen Kenntnissen, aber eben durchaus genießbar arrangiert, was an Phantasie und Wissen zur Verfügung stand. Es war nicht ganz wenig, was mich dieses Schlitzohr von Koch gelehrt hatte in den drei Monaten, die ich bei ihm — eigentlich als Küchenhelfer — durch sein, hier würde man sagen «gutbürgerliches» Restaurant gehetzt (worden) war. Nie wäre mir danach in den Sinn gekommen, irgendein Fertigprodukt zu kaufen. Alles bereitete ich selbst zu. Immer hatte ich drei verschiedene Fonds hergestellt und portionsweise eingefroren, immer nahm ich nur frische Gemüse und Kräuter. Und ich hatte immer jemanden, der es gerne aß. Doch nun eben nicht mehr.

Ich ging essen, wenn ich auf Reisen war, manchmal in ein gutes Restaurant, dann achtete ich nie auf das Geld. Darum ging es ohnehin nicht. Ich hatte genug davon, auch weil ich kaum welches ausgab, allenfalls unterwegs eben, denn gute Hotels müssen bei mir immer sein. Die Qualitätsbezeichnung gut beinhaltet bei mir keine Sterne, gleichwohl sie bei Herbergen wohl unabdingbar scheinen, nicht grundsätzlich, aber eben in der Regel, in Deutschland allemale; doch auch damit kann man schwer in die Bredouille geraten. So mußte ein Restaurant wirklich gut sein. In Frankreich ist das gefahrloser, wenn man sich nicht an die Gastronomieführer für Touristen hält, da ist die gesellschaftliche Einstellung vor, die Essen und Trinken nicht als notwendiges Übel oder das Übel des Kultischen für mit der Zeit und in deren Geist lebende Menschen zum Inhalt hat. Rechtsrheinisch bin ich zurückhaltender, am liebsten gehe ich dorthin, wo ich weiß, was mich erwartet. Etwa die kleine, ruhige, schlichte Restauration dieses Parisers, der es seit bald dreißig Jahren am Charlottenburger Savignyplatz betrieb; keiner dieser Modeläden, die immer abgefüllt waren mit besserverdienenden Globaldenkern — Hauptsache, sie waren aus der scheinbar italienischen, völlig überteuerten Hochfrequenz, die von München aus vor allem nach Berlin geflossen war. Wenn es hieß, wir gehen zu dem oder dem Italiener, dann war ich in der Regel müde — ich hatte ja immer eine gute Entschuldigung mit meiner «Krankheit», die ein vermeintliches frühes Ruhen erforderte. Und dann ging ich meistens unweit des Hotels zu dem Asiaten an irgendeiner Kantstraße, mit Blick auf diese Paris-Bars, rechts das Abgehangene, besser das Abgehängte mit den arg Zuspätgekommenen, denn die Künstler gingen schon seit Ewigkeiten nicht mehr dorthin, nur noch die Camarilla der dritten Generation und deren Groupies, links der Versuch, die jungdynamischen Kunstverweser, richtiger wohl eine Art Dealer, samt Gefolge zu versammeln, ihnen mittels Mittelprächtigem den Eindruck ihrer Höherwertigkeit zu bestätigen. — Ach, Kundera, ich paraphrasiere dich mal ein bißchen: Kitsch wird in erster Linie von Spießern produziert, die sich nicht dafür halten. — In der Regel bekam ich bei meinen chinesisch-thailändischen Roten Khmer der Küche etwas nach meinem Geschmack serviert. Und unter gebratene Nudeln mit Gemüse konnte man nur schwerlich Hunde- oder Katzenfutter rühren (obwohl das sogar für Vegetarier geeignet sein dürfte, da das handelsübliche meist nicht mehr als zwei Prozent Fleisch enthält).

Seitdem das Gehirn sich mit seinem Ausfall auf das Wesentliche reduziert und mich in die innere Emigration, in die Höhle der Einsicht geführt hatte, kam es zuhause allenfalls mal zum halbstündigen, allerdings konzentrierten und sorgsamen Prozeß des Zubereitens von Fleischsoße, anderswo gerne Bolognese genannt, auf daß der Speiseplan nicht allzu eintönig würde. Nichts durfte mehr Zeit wegnehmen von der wenigen, die mir bleiben sollte. Ansonsten nahm ich nur noch schmackhafte Salate und bereits Vorgekochtes mit nach Hause. Allerdings war das Angebot auch enorm verbessert worden in den letzten Jahren. Da muß ich der wegen ihrer Gleichmacherei ungeliebten Europäisierung dann doch mal einen Stein in den Garten schmeißen. Dadurch, daß die Grenzbalken hochgingen, gelangten seit Ende der neunziger Jahre auch andere Geschmäcker ins deutsche Land. Und da es sich in den romanischen Ländern selbst Nahrungsmittelfabriken nicht leisten konnten (oder wollten), Geschmacklosigkeiten wie die deutschen in den Marktumlauf zu bringen, kam Abwechslung in die Fertiggerichteküche. Das war dann doch mal ein positives Ergebnis des grenzenlosen Waren-Hin- und Hergeschiebes auf den LKW quer durch Europa. Doch in erster Linie lag es wohl daran, daß es außer mir noch ein paar gab, die sich Single nannten, obwohl den meisten diese Bezeichnung wahrlich nicht gebührte, denn ihr Alleinstehen hatte überwiegend unfreiwillige Ursachen — während der Single in ursprünglicher Bedeutung ja bewußt partnerlos lebte. Aber auch das ist untergegangen in der mittlerweile arg kurzlebigen modernen Zeit des viel- und gernzitierten Sprachwandels. Eine Zeit gab's, da hielt das entschiedene Einzelwesen seinen Status hoch wie einen Schild gegen die Vereinnahmung. Heute ist es ein beklagter oder beklagenswerter Zustand einer Gesellschaft, die nicht mehr mit sich klarkommt.

Ich sollte mal wieder wenigstens einen trinken gehen. Ach nein, ich lasse es lieber. Denn dann werde ich rausgeschickt auf die Straße, wenn ich eine rauchen möchte.

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählung • Geschmackssache
 
Sa, 05.09.2009 |  link | (3228) | 14 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage


nnier   (05.09.09, 14:03)   (link)  
Es gibt eben so Tage, an denen Körper und Geist exakt nach einer solchen Mahlzeit verlangen. Nichts Verfeinertes, und bitte auch keinen Kartoffelsalat mit Pinienkernen oder italienischem Öl. Bei mir: Eine ganz bestimmte Sorte Dosenwürstchen (zufällig) Bremer Herkunft, sie wird exklusiv und preisgünstig beim bekannten Discounter verkauft, sie ist knackig und bissfest, man bekommt so etwas nicht im Glas und erst recht nicht frisch. Dazu den "blauen Senf" aus der Tube, keinen anderen, sowie einen Fertigkartoffelsalat mit Mayonnaise. Letzterer allerdings darf auch sehr gerne selbst hergestellt werden, in der Praxis jedoch steht dem der anfallhafte Appetit entgegen, der sich willkürlich einstellt und zuverlässig verhindert, dass man Pellkartoffeln kocht, sie abkühlen lässt und so weiter.


damenwahl   (05.09.09, 18:09)   (link)  
Grünkohl.
Mamas Kartoffelsalat.
Heimatessen.


jean stubenzweig   (05.09.09, 23:35)   (link)  
Solche Wurstanfälle
habe ich etwa alle vier bis sechs Wochen, dafür liegen solche ehemaligen, ebenso einheimischen Schweine immer schockstarr im Bürogefrierschrank. Dazu steht ein Kartoffelsalat vom Dorfkramer mit einer, ich geb's ja zu, Halbwertzeit von einem viertel Jahr parat, auch das Brot dazu ist immer eingefroren (und weiß, es hat lange genug gedauert, bis ich das in Kurz-vor-hinter-Sibirien aufgetrieben habe). Andere erledigen das mit diesen bratklopsigen Dingern, die sie zwischen Pappe stecken. An die gehe ich aber nie ran, die empfinde ich als widerlich. Als besonders bemerkenswert erachte ich allerdings, daß es (mir näher bekannte) Menschen gibt, die den Tag am liebsten mit einer Bratwurst beginnen. Allein bei dem Gedanken wird mir schlecht. Und wenn ich Fertiges anschaffe, weil ich kochfaul bin oder, das klingt besser, einfach keine Zeit, sondern ständig anderes zu tun habe, dann nur Gehaltvolleres, das ja, wie beschrieben, mittlerweile (fast) überall erhältlich ist, und auch nicht solches, das zu hundert Prozent aus Konservierungs- und Aromastoffen besteht. Denn – man erinnere sich an die Passage in Mamans Brustduftdrüsen. Ich kann nicht anders. Alles ist autobiographisch. Und auch, ebenfalls siehe unten, voller Widersprüche.

Grünkohl, Madame Damenwahl, den kriegen Sie , wenn Sie demnächst Ihrer kongolesischen Freiluftsauna entfliehen, auch nicht einmal von Ihrer Mama. Der braucht nämlich den ersten Frost. Aber besser keinen aus der Eismaschine. Den esse ich dann, während Sie wieder schwitzen, im Norden, mit demselben Hochgenuß wie dann im Süden schlabberige Tierchen. Alles zu seiner Zeit. Aber sie wird ihnen sicherlich einen Kartoffelsalat zubereiten. Und noch ein bißchen anderes Heimatessen mehr.


damenwahl   (07.09.09, 14:31)   (link)  
Ich weiß. Der leidige Frost. Aber das habe ich ja schon mal erzählt. Hunger.


jean stubenzweig   (07.09.09, 17:22)   (link)  
Ich hoffe, die Portion
da oben rechts reicht fürs erste.

Obwohl das eher nach Suppe aussieht. Berliner halt. Die können vielleicht Latte aus Pappbechern trinken und Äpfel bedienen. Aber Grünkohl? Die sollten eigentlich bei ihrer Currywurst bleiben. Aber dafür dürften wenigstens, zum Thema passend, die Würste aus der Fabrik sein.


damenwahl   (07.09.09, 17:45)   (link)  
Ohohoh - das sieht so wunderbar aus! Vielen Dank! Natürlich ziehe ich Wurst aus der Schlachterei um die Ecke vor. Noch drei Monate, bis Dezember...


jean stubenzweig   (07.09.09, 18:18)   (link)  
Dezember?!
Dann gibt's ja auch Frost! Nicht nur zur Runterkühlung der kongolesischen Temparaturen. Extra nur für – Sie wissen schon.


damenwahl   (07.09.09, 18:31)   (link)  
Im Dezember bin ich wieder zu Hause, zu Weihnachten nämlich, und dann erwarte ich, daß es vierzehn Tage lang nur Grünkohl gibt. Vielleicht gelegentlich Speckrüben dazwischen. An Heiligabend würde ich eventuell auch eine Gans akzeptieren. Aber sonst nix.


apostasia   (05.09.09, 16:14)   (link)  
Dem Erzähler
ist es wohl gestattet, zu erzählen. Ansonsten läse ich hier nicht unerhebliche Widersprüche zur sonstigen Geschmacksausrichtung ...


jean stubenzweig   (05.09.09, 22:50)   (link)  
Widersprüche?
Aber ja doch. Dafür gibt's das hier doch. Anderswo ist das ja streng verboten. Oder: Das ist das Schöne am Älterwerden. Man wird immer weniger darauf festgelegt, sich selber festlegen zu müssen.

Und auch, selbstverständlich: Erzählung. Dennoch sei an den gestrigen Jochen Gerz erinnert: Alles ist autobiographisch. Also wankle ich mütig für mich hin.


aubertin   (06.09.09, 17:49)   (link)  
Etwas Erinnerung
muß ich hineinbringen, wenn sie es nicht selbst zugange bringt:

Romantische Gastronomie

bises
Anne


prieditis   (07.09.09, 19:31)   (link)  
Danke für das Foto
ich benötige nun ein Taschentuch, weil ich meine Mundwinkel offen ließ...


gorillaschnitzel   (08.09.09, 02:00)   (link)  
Es gibt ja -glauben Sie es oder nicht- durchaus Speisen, die sich mit sehr wenig Aufwand zubereiten lassen und dennoch sehr gut schmecken. Ohne Fonds, ohne Kräuter (deren beider großer Fan ich bin). Die Lieblingsspeise vieler Superduperprofisterneköche ist beispielsweise ein "simples" Wiener Schnitzel. Dazu brauchen Sie nur Kalb, ein altbackenes Brötchen (ersatzweise Paniermehl), Mehl (können Sie ganz zur Not auch weglassen) und ein Ei (nun gut, Salz und Pfeffer setzt man ja überall voraus, wie auch die Pfanne und das Butterschmalz, das ganzganzganz zur Not auch Butter sein darf, aber dann brennts eben schneller an). Es gibt deren mehr sehr einfache Gerichte, echt.


jean stubenzweig   (08.09.09, 03:24)   (link)  
Konsequenz kann ziemlich
anstrengend sein, glauben Sie's mir. Um Ihren liebevollen Hinweis auf Ihren Namensteil zu befolgen, benötigte ich keinen der «Superduperprofisterneköche», ich hätte für diesen Fall eine Büddenwarderin. Nur zu gerne würde sie, Mutter einer fleischfressenden Horde, die ständig den Buchtitel von Heinz Strunk als Philosophie-Banner vor sich hinparaphrasiert, auch mir so ein Stück Tier in den Magen legen. Nicht nur der Liebe wegen, sondern weil Schmieds Töchterlein den Viechern auch nicht gerade abgeneigt ist und auf diese Weise einen Grund hätte, zum Fleischer zu fliegen. Aber wenn schon Schnitzel, dann auf meine Art. Und die ist sehr zeitaufwendig. Meine vor Jahrzehnten erdichtete Version bereite ich deshalb nur zu, wenn es sich lohnt, sprich: wenn mindestens drei Viertel der Familie zusammenkommt. Daß das nicht allzu oft vorkommt, liegt (auch) an den Entfernungen. Dann bin ich jedoch auch gefordert, dann muß ich, dann wird mein stundenlanges Küchen(da)sein familiar gefordert, und zwar am Tag vor der versammelten Ankunft, da die vorbereiteten Stücke luftdicht verschnürt über Nacht im Kühlschrank ihrer Geschmacksnote entgegenziehen. – Und eine andere Schnitzelvariante mag ich nicht, da bin ich ausnahmsweise konsequent. Überhaupt habe ich's nicht so mit Fleisch. Es darf selten in mich hinein. So ist das eben mit dem Älterwerden – die Fleischeslust geht zurück.

Anders verhält es sich, wenn's ein Milchkalb ist. Daran kommt dann gar überhaupt nichts. Da ist das schiere Fleisch ein solcher Genuß, der würde verdorben sogar von einem Hauch von Salz. Aber an so etwas zu kommen, dazu bedarf es schon eines lang anhaltenden (nachhaltigen?) Verhältnisses mit einer Bäuerin. Besser noch zu einem Bauern. Aber in der Landwirtschaft haben sich die sexuellen Präferenzen noch nicht so gewandelt wie in der Politik.

Hingewiesen sein möchte allerdings auch darauf, daß es sich bei der obigen Schilderung um den Teil einer Erzählung handelt. Aber, na ja – alles ist ja irgendwie autobiographisch. Und auch nahezu allen anderen klinkt ja ebenso nahezu alles aus, wenn zu Tisch gerufen wird. Und das ist gut so.















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