Meer und mehr der Wörter und Worte

Eigentlich hatte ich lediglich vor, auf einen vor gut zehn Jahren gestorbenen Übersetzer hinzuweisen, der immer irgendwie hinter denen verschwand, die er klärend ins Deutsche übertragen hat, und nun gänzlich, das ist jedenfalls mein Eindruck, vergessen zu werden droht; da hilft auch kein nach ihm benannter, von den mittlerweile weniger lesenden als vielmehr auf Zahlen schauenden Mäzenaten der Industrie geförderter Preis, solange das Buch für viele oder die meisten von uns wie andere Lebensmittel auch vor allem eins zu sein hat: billig. Wen interessiert bei soviel Spannung schon, wer da hin- und herrudert auf den Ozeanen der Sprachen. Nun, auf jeden Fall bin ich ins Blättern und Wiederlesen geraten, in Stilübungen. Autobus S, in einer alten Suhrkamp-Ausgabe aus dem Anfang der sechziger Jahre. So wurde daraus nicht nur eine Wiederbegegnung mit dem mehr als geschätzten Raymond Queneau, sondern erinnernd eher eine mit einem meiner besten Lehrer: Eugen Helmlé.

Er hat mir nämlich erheblich dabei geholfen, meine Muttersprache oder auch die Sprache meiner Mutter wieder oder überhaupt zu erlernen. Sie hatte ich in jungen Jahren nicht nur abgelehnt wie das oktroyierte Klavierspiel sowie ein paar weitere bürgerlich-elterliche Attituden, die ich im Anschluß samt aller Blutsverwandtschaft allesamt wegkippte wie kindlich verweigertes, also irgendwie schlecht gewordenes Essen. Doch da man seiner Geschichte nicht entrinnen kann, habe ich mich eines Tages ihrer besonnen und bin daraufhin wieder Franzose geworden. Jedenfalls der Anteil sollte wieder der Bedeutung gemäß zum Zug kommen, die in mir irgendwann zu rumoren begonnen hatte. Als ich also einige Jahre später begann, nicht nur wieder vermehrt in mein Mutterland zu reisen, sondern mich obendrein der Kultur (wieder?) zu nähern, in der ich eine meiner Wurzeln habe und derentwegen meine gestrenge Erzieherin mich fast zwei Jahrzehnte traktiert hatte, war ich gezwungen zu lesen. Vieles verstand ich nicht, sah ich mich doch nach dem Studium mit einer Lektüre konfrontiert, deren Sprache mich überforderte, da sich solche Inhalte völlig außer Form oder auch Norm befanden. So war ich auf Menschen angewiesen, die mich hin- und übersetzten, wenn ich mal wieder in eine Flaute geraten war und kein Lüftchen mich voranbringen wollte über den großen Sprachteich. Eugen Helmlé war einer von ihnen, er im besonderen Maß, da ich ihn immer zurate ziehen konnte, wenn ich bei einigen meiner literarischen Lieblingen mal wieder ins Dümpeln geraten war. Sie heißen, zumindest in einzelnen Büchern, unter anderem: Louis Aragon, André Breton, Albert Cohen, Queneau habe ich bereits genannt, dann Georges Perec, Jacques Roubaud, überhaupt die Oulipo-Autoren, die ich jedoch auch ohne deren Gebrauchsanweisung aus dem Laboratorium L'Ouvroir de Littérature Potentielle gerne las, und und und. Sie alle hat Eugen Helmlé aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt.

Perec und Queneau seien vorrangig genannt, nicht nur weil er sich nahezu allein derer sprachlichen Artistik angenommen hat, sondern weil er mir nach wie vor ein Netz bietet in dieser Zirkuskuppel, in der ich mich so fühlen darf wie auf dem gemütlichen Sofa, einem meiner liebsten Lebensplätze außerhalb meines Gehirns: nichts sehen, nichts hören, aber sehr viel erleben im Kopfkino nach Gianni Celati:
«Denn wenn man Erzählungen schreibt oder liest, sieht man Landschaften, sieht man Gestalten, hört man Stimmen: Man hat ein naturgegebenes Kino im Kopf und braucht sich keine Hollywoodfilme mehr anzusehen.»
Gianni Celati, Cinema naturale, Wagenbach 2001

Helmlé ist ein Phänomen und sei deshalb hier stellvertretend genannt für alle Übersetzer, die größtenteils für einen Hungerlohn — wenn ich mich recht erinnere, hat Hans Wollschläger für seine mehrjährige Arbeit an der Ulysses-Neuübersetzung einen Stundenlohn von etwas über drei Mark errechnet* — den Zugang zu einer Literatur ermöglichen, die vielen im Original zu lesen nicht möglich ist. Und ja, Helmlé oder Wollschläger sind dabei beste Beispiele, sie sind selber Dichter oder, meinetwegen, Schriftsteller, was häufig oder fast immer völlig in Vergessenheit oder Nichtbeachtung gerät. Sie müssen es aber auch sein, da vieles, aus welcher Sprache auch immer, in jeweiligen Idiomen schlicht unübersetzbar ist. So müssen sie, diese Wort- und Wörterfühlhörner, über herausragende Kenntnisse sowohl der zu übertragenden als auch der eigenen Sprache verfügen und dürfen doch nur ein einzig Wörtchen hinauslassen, das richtige eben. Das wiederum erfordert ein außerordentliches Wissen in den jeweiligen Kulturen, da ansonsten Bedeutungen nicht erkannt und nicht vermittelt würden. — Wie sollte ich sonst mit meinen paar Brocken Spanisch und den wenigen Tagen Andalusien mit Granada, noch bevor mich solches interessierte, einen Text wie den von Federico Garcia Lorca über Theorie und Spiel des Dämon verstehen, die Begegnungen mit der Muse, dem Engel und dem Dämon, denn «für die Suche nach dem Dämon gibt es weder Übung noch Landkarte» (ich finde das Bändchen dieses Vortrags nicht, aus dem ich diese Zeile notiert habe, weshalb ich den Übersetzer nicht nennen kann — halt, ach, das Internet und mit ihm die Deutsche Nationalbibliothek: «a. d. Span. übers. von Enrique Beck», Friedenauer Presse, Berlin 1984; Enrique Beck wurde zwar, wie es bei Felix Bloch Erben heißt, «zu einem wohlhabenden Übersetzer», aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß er das mit Lorca-Texten geworden sein soll).

«Den Dämon muß man erwecken in den verborgensten Kammern des Blutes» hat dieser Flamenco-Spieler einer Dichtung geschrieben, die gesprochen vermutlich nur als von der Gitarre begleitetem Gesang verstanden wird. Ohne meine großen Helfer, wie auch immer sie im einzelnen heißen mögen, wäre selbst manch ein lesbarer Teufel nicht hineingefahren in die in der hintersten Verborgenheit versteckten Kämmerlein meines Oberstübchens. Das hätte eine außerordentliche Lücke in mir hinterlassen. Und dort, wo sie bereits bestanden, die Löcher in meinen kulturellen Blutgefäßen, wurden sie aufgefüllt von den Übersetzern. Ohne Eugen Helmlé hätte ich am Ende einiges nicht gesehen von Perecs köstlichen Alltäglichkeiten, die da etwa unter einem Buchtitel wie diesem sichtbar werden können. Die Gehaltserhöhung oder Wie die physischen, psychischen, klimatischen, ökonomischen und sonstigen Bedingungen beschaffen sein müssen, damit Sie die größtmöglichen Chancen haben, Ihren Abteilungsleiter um eine Aufbesserung Ihres Gehaltes bitten zu können, Auch wenn die mir früher eher als Theaterdame bekannte Verena Auffermann ihnen nicht sonderlich zugetan zu sein scheint; aber die hatte zu dieser Zeit möglicherweise ohnehin bereits mehr die deutschsprachige Literatur im Blickfeld.

Ich für meinen Teil hätte ohne die Hilfe von Eugen Helmlé damals, Anfang der Siebziger, also lange vor der erneuten Einführung als Modespirituose, niemandem ohne weiteres und vor allem so gehaltvoll die exakte Zubereitung eines Absinth oder die Funktionalien eines freudvollen parisischen Mädchenhauses erklären können, wie das in Der Flug des Ikarus von Raymond Queneau geschehen ist. Auch wenn Bersarin, sicherlich nicht ganz zu unrecht, meint, der Romantitel sei schlecht übersetzt — aber wie? als der Raubflug? (egal, trotzdem unbedingt lesen, da in: Aisthesis) —, ich wäre seinerzeit jedenfalls sozusagen blind absinthiert abgestürzt, auf jeden Fall unfranzösisch. Aber mittlerweile sehe ich. Vor allem, was das wert ist. Mein großer Dank deshalb an Sie alle, an die Damen und Herren Hin-und-her-Über-Setzer! Denn ohne Sie säße ich möglicherweise in der Unterwelt und riefe hilflos laut nach dem Fährmann.

Dabei fällt mir ein: Charon scheint sich in seine zwischen den Ufern schwimmenden Bücher-container zurückgezogen zu haben.


*Vielleicht irre ich mich, mittlerweile völlig konfus von der neuen Schreibung, in den Euro und es waren sechs — während der geneigte Käufer weit über hundert dafür hinzulegen hatte. Kurz nach Erscheinen legte der Verlag eine einbändige Ausgabe ohne den zweiten Band mit dem umfangreichen literaturwissenschaftlichen Anhang zu einem Preis von etwas über vierzig Mark nach, also rund hundert Mark weniger. Man weiß es, Wissenschaft hat ihren Preis, aber seitdem kaufe ich, bei aller Begeisterung für Anmerkungen, die ungemein spannend und manchmal auch hilfreich sein können, dennoch keine Neuerscheinungen dieser Art mehr. Denn zu dieser Zeit wollte ich, nach jahrelangem Warten, nichts anderes, als dieses alte Monstrum in neuem Gewand endlich gelesen haben.
 
So, 09.05.2010 |  link | (2597) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino


caterine bueer   (11.05.10, 11:46)   (link)  
Für die Übersetzung,
daran sei erinnert, eines anspruchsvollen 15seitigen Kunstessays wurden etwa 450 Mark bezahlt, während die belgische Kollegin unter Berufung auf die Tarife ihres Landes für die selbe Arbeit 1000 forderte, die Hälfte des Honorars für die Autorin, und auch erhielt. Solche Löhne erhalten in Deutschland m. W. nur Übersetzer für Technik und juristische Schriftsätze. In der (hoch)geistigen Literatur ist das sicher kaum mehr geworden. Aber mit anderem Licht betrachtet könnte Beck auch mit Lorca "wohlhabend" geworden sein, weil er sicher nicht nach deutschem Wertarbeitstarif bezahlt worden sein dürfte. Die Frage müßte eher lauten: Ist Eugen Helmlé deutschreich geworden? – Und der zählte sicher bereits zu den Angekommenen, die vermutlich Ansprüche stellen können – ein etwas älterer Artikel von Burkhart Kroeber (Umberto Eco u.a.) scheint allerdings das Gegenteil zu belegen. Andere können das nicht. Sie werden schlechter bezahlt als Hilfsarbeiter am deutschen Fließband. Und die 6tausend Euro für den Preis erinnern leicht an den Stellenwert dieser Arbeit. Wie lange kann man davon leben? "Da Übersetzer (Durchschnittseinkommen ca. 1000 Euro pro Monat) pro übersetzter Seite bezahlt werden, verdienen sie umso weniger, je anspruchsvoller und schwieriger ein Text ist." (Brigitte Grosse) Wie lange braucht man, um 300 Seiten von Queneau oder Perec wirklich gut zu übersetzen? Oder Lorca? (Über dessen Übersetzungen ja seit einiger Zeit heftig gestritten wird, aber das nur nebenbei).

Tatsache ist, daß anderswo mehr bezahlt wird. In Belgien zum Beispiel. Oder in Frankreich.


jean stubenzweig   (11.05.10, 20:03)   (link)  
Ja, bis fünfzig Prozent
mehr Honorar erhalten Übersetzer in Frankreich, was vergleichbar wäre mit der erwähnten belgischen Dame, deren Arbeit seinerzeit noch nicht einmal sonderlich gut war. Dafür war sie aber auch Professorin der Kunstgeschichte an einer renommierten Universität des wallonischsprachigen Raums. An einer solchen, welcher Sprache auch immer, muß man zwar sprechen oder sonstwas, aber nicht unbedingt, das ist nachgewiesen, schreiben, sprich übersetzen können, nicht mal eigene Texte. Sie hat sich auf diese Weise eben ein anderthalbfaches Honorar erwirtschaftet. Nun gut, das ist ohnehin eine sehr eigene Geschichte, deren Einzelheiten zu schildern jetzt aber ins Intime führen würde, ein Sonderfall; so etwas ist auch nie wieder vorgekommen.

Aber zurück zu den deutschen Honoraren. 2009 gestand der Bundesgerichtshof den Übersetzern sogar ein Recht auf höheren Verdienst zu. Allerdings erst ab einer Auflage von fünftausend Exemplaren. Da meine ich, gewisse Parallelen zur allgemeinen Politik der Wirtschaft und des Sozialen zu erkennen: als ob die Großverlagslobbyisten am Urteil mitgeschrieben hätten, wie das bei der Gesetzgebung im allgemeinen der Fall ist. Was als Behauptung in beiden Fällen selbstverständlich jeder Grundlage entbehrt. Übersetzt heißt das: Jeder, der Bücher innerhalb der BRD ins Deutsche überträgt, die unter einer Auflage von fünftausend Exemplaren bleiben, schaut auch nach viel Arbeit weiterhin in die Finanzröhre der Leere.

Unseren Pfitzinger kann ich ja leider nicht mehr hinzuziehen, da selig. Aber allzu gut erinnere ich mich, wie oft er mir erzählt hat, unter welchen finanziellen Bedingungen er übersetzen mußte, um seine Miete bezahlen zu können. Oft genug hieß es, wenn er's nicht für das Geld tue, dann täte es eben ein anderer; beim letzten Mal waren das fünfundzwanzig Euro pro Normseite, selbstverständlich inclusive Expreßzuschlag, fünfhundert Seiten in sechs Wochen. Nun gut, es war irgendein Schmöker, irgendwas, in dem teilweise die US-Geschichte abgehandelt wurde. Aber wen interessiert das schon? Vermutlich nichtmal die meisten Amis, geschweige denn deren östliche Brüder und Schwestern. Aber Hans war das wurscht, er nahm das sehr genau. Schludern war nicht. Und so dürfte es vielen gehen aus der Branche.

Es ist zwar lange her, aber ich wäre gerne mal Übersetzer geworden. Doch zu meinem Glück hat's mir immer am Talent gemangelt.


alea torik   (13.05.10, 21:34)   (link)  
Lieber Jean Stubenzweig,
Sie haben ein schönes Blog. Sie schreiben gute Texte und verfügen über sehr weiträumige (kann man das so sagen?) Interessen, eine solche Bildung und Sie nehmen oft sehr kluge Standpunkte oder Perspektiven ein. Sie sind ein exzellenter Stilist und Sie brauchen sicherlich nicht mich, der Ihnen das alles sagt.

Sie haben in dem Kommentar, den Sie mir hinterlassen haben, angedeutet, dass Sie das Netz ähnlich einschätzen wie ich auch: es gibt wenig wirklich gute Texte in all dem Mist. Eigentlich sage ich nicht gerne, dass ich ein Blog führe oder dass ich Bloggerin bin. Das wirkt eher disqualifizierend. Ich mag gute Texte lesen und gerne möchte ich auch solche schreiben (obwohl ich mir auch manchen Schnitzer leiste): das eine wie das andere gelingt nicht immer. Ich habe das Gefühl, dass das, was ein guter Text ist, das Empfinden für Texte und ihre Formen, abhanden kommt. Das liegt auch ein bisschen am Internet: lange Texte, ersthafte Auseinandersetzungen oder auch nur solche Darstellungen: das ist nicht besonders beliebt. Man will wissen worum es geht. Und zwar so schnell wie möglich. Selbst die (wenigen) Leute, die bei mir kommentieren, lassen es in der Regel, wenn der Text länger ist als zwei Seiten. Die Auffassung, was ein guter Text ist, verändert sich.

Wenn man von den Siebenbürger Sachsen oder den Banater Schwaben redet, dann meint man in der Regel die sogenannten Rumäniendeutschen, die Nachfahren jener deutschsprachigen Einwanderer, die vor allem aus Österreich gekommen sind. Das sind nur noch sehr wenige und sie sprechen ihre Sprache wie vor dreihundert Jahren, da hat kaum eine Veränderung stattgefunden. Es sind kaum Worte ausgestorben, aber auch wenig neue hinzugekommen. Ich stamme allerdings nicht von denen ab. Mein Vater ist Deutscher und vor dreißig Jahren aus Deutschland weggegangen, meine Mutter ist Rumänin. Ich bin bilingual erzogen und habe ein Gymnasium besucht, wo Deutsch Unterrichtssprache ist und mit dem deutschen Abitur abgeschlossen wird.

Der Nachname meiner Mutter lautet Torik, der meines Vaters Müller. Es war meinen Eltern wichtig, dass der Name ihrer Tochter in beiden Kulturen vertretbar war, meine Mutter fand Katrin schön. Und so hätte ich heute eigentlich Katrin Müller geheißen. Wenn mein Vater nicht dem hebräischen Namen Aléa begegnet wäre. So komme ich mit dem moldawischen Nachnamen des Großvaters zu meinen ungewöhnlichen Namen. Den würde ich auch gegen nichts auf der Welt eintauschen, und schon gar nicht gegen Katrin Müller.

Aléa Torik


jean stubenzweig   (14.05.10, 14:00)   (link)  
Wenig wirklich gute Texte,
durchaus. Aber es gibt sie ohne jeden Zweifel. Immer wieder entdecke ich neue in dieser sich immer immer weiter ausdehnenden Unendlichkeit. Deshalb durchforste ich gerne Blogrollen und schaue in Kommentaren nach. Wie anders wäre ich auf Sie gekommen?! Wobei es nicht alleine dieser, anfänglich tatsächlich als Pseudonym wahrgenommene – Alea-torik, dachte ich, da muß man draufkommen –, wunderschöne Name war, sondern eben auch, was Sie und wie zu sagen hatten. Es gibt also ständig neues zu entdecken. Allerdings dürfte vielen die Zeit dazu fehlen, die ich nunmal habe und die anderen zu fehlen scheint.

Andererseits gibt es nunmal unterschiedliche Betrachtungsweisen. Die einen machen daraus eine «Philosophie» – «Blogger versus Journalisten», nun ja – und unterliegen dabei auch schonmal selbst auferlegten oder durch andere vorgegebenen Direktiven, im Umfang möglichst nahe an die Zwitscherei zu gelangen. Man darf, aber muß es nicht mögen.

Kürzlich war ich mit den Jungen in einer Ausstellung, als eine von ihnen, die zum Beispiel die Gemälde von Max Beckmann mag, vor den dort ausgestellten Bildern meinte, sie könne gar nicht soviel fressen wie sie kotzen und so weiter. Darauf fragte ich sie, ob sie denn wisse, wer das gesagt habe und warum. Sie wußte es nicht, sie hatte es in einem Blog gelesen. Das ist das, was mich dann auch schonmal zu einer meiner gefürchteten Langatmigkeiten anheben läßt, auch weil es mich unsäglich nervt, dieses dahingerotzte: Der Kopf ist rund, damit die Gedanken die Richtung ändern können, das ein renommierter Kunsthistoriker und Museumsdirektor mal innerhalb eines Vortrages Ludwig Wittgenstein zuschrieb. Er hatte in der Eile des letzten Drückers nicht mehr gewußt, von wem das Zitat stammt, das passiert nahezu jedem einmal, und deshalb im ganz schnellen Internet nachgeschlagen. Bei der erstbesten, in der Suchmaschine ganz oben stehenden Quelle hat er zugegriffen. Es war ein Blog. Was nicht heißt, daß es nur Blogs sind, in denen solche Falschkürze verbreitet wird, die so griffig ist, daß man gar nicht mehr nach der eigentlichen Bedeutung oder gar der Herkunft greift. Auch in Zeitungen und gar Büchern findet sich solches. Allerdings dürfte das auf das Internet zurückzuführen sein, das mit zu einem Geschwingkeitstaumel verführt, von dem mir keiner wirklich erklären kann, worin sein Sinn liegen könnte; vor allem für diejenigen, die ohnehin niemand hetzt, es sei denn, sie sind von der Meinung gejagt, die alle die haben, die sonst nichts zu tun haben als sich denen anzuschließen, die es für erstrebenswert halten, keine Zeit zu haben.

Aber es besteht auch kein Zweifel, daß eine aphorismusähnliche Notiz gehaltvoll und auch amüsant sein kann. Das sind dann jedoch Raritäten. Ich mag's, Sie mögen's, wir hatten es erwähnt, eben gerne etwas länger. Nenne ich wagemutig Kurt Tucholsky als einen frühen Wegbereiter des Bloggens, hat er doch in weiten Teilen seiner vielen Schnipsel in etwa ein Maß vorgegeben für eine Kürze, die tatsächlich Würze ist – eventuell für das, was sich im Kopf eines denkenden Lesers so angesammelt hat, von dem er noch nicht so recht weiß, was daraus einmal werden könnte, nun aber (vielleicht) wenigstens die Richtung erkennt, die seine Gedanken nehmen könnten.

Die literarischen Blogs, das ist ohnehin eine Branche für sich, das mit der oben erwähnten sogenannten Philosophie des Bloggens noch etwas weniger zu tun hat. Das sind diejenigen, die das Web 2.0 oder mittlerweile auch 3.0 als gebotene Technik nutzen, als Möglichkeit, Texte zu veröffentlichen, «Projekte» durchzuführen wie Sie oder bei ANH oder bei Rheinsein, auf das ich kürzlich über LitBlogs kam. Die Klein(st)verlage hat das Internet schließlich nahezu allesamt zu makulatürlichen Teilchen zerhäckselt. Aber dafür darf nun wirklich jeder. Wenn es auch nicht jeder mögen muß, was da dargeboten ist. Allerdings gibt es auch hier Entdeckungen zu machen, leichter noch als früher in der Buchhandlung bzw. durchs Hörensagen. Eines benötigt man allerdings, wahrscheinlich mehr noch als in den kleinen Lädchen oder in einem Antiquariat (in denen ich mich in meiner kurzweiligen langen Weile noch lieber herumtreibe als im Internet, vermutlich des haptischen Erlebnisses wegen): Zeit.

Unterm Strich: Nicht gerne zu sagen, daß man ein Blog führe oder Blogger sei, das halte ich auch wieder nicht für richtig. Das ist möglicherweise der Nachhall von Stimmung, die häufig im Printmedium gemacht und allzu gerne unreflektiert verbreitet wird. Für richtiger halte ich es, darauf hinzuweisen, daß es Unterschiede gibt, und zwar nicht nur kleine. Zeitung ist schließlich auch nicht gleich Zeitung oder Buch gleich Buch. Auflage (oder Klickzahl) sind ja, wir wissen es, kein Beleg für Qualität. – Ich komme gerade deshalb darauf, weil ich vor einigen Tagen bei Genova das als Argument vorgetragen bekam: «Wie ich bereits bei Exportabel schrieb, hat es schon seine Gründe, warum derlei WordPress-Blogs bei ~100 bis max. ~500 Besucher pro Tag vor sich hin dümpeln, während PI-News so viele Leser in nur einer Stunde hat. Die Anzahl an verträumten Multikulti-Realitätsverweigern mit Hang zu pseudo-intellektueller Lesekost ist in absoluten Zahlen gemessen erfreulich gering.» Das kenne ich aus der Zeit, als es noch kein Internet gab und wir ein bestimmtes Blatt damit charakterisierten: Millionen Fliegen können nicht irren.


vert   (14.05.10, 15:21)   (link)  
(klingt wie der nicht endenwollende redford-sermon, der mir echte schmerzen verursacht .
wie ich dort auch schon schrieb*:
selbst ein buzzwordbingo-bot mit fragwürdiger programmierung bringt mich während des unaufhaltsamen abspulens seiner programmroutinen langsam zum fremdschämen.
ein denkender mensch kann das gar nicht schreiben.)


jean stubenzweig   (15.05.10, 09:29)   (link)  
Ja, der so benamte.
Nun hat der auch noch sein eigenes Blog eröffnet. Und sicherlich nicht, um andere zu entlasten. Ich werde da nicht hineinschauen. Das wäre ja, als ob ich mir eine dieser Zeitungen kaufen würde. Und damit meine ich gewiß nicht nur die eine, auf die die Fliegen sich stürzen. Es gibt genügend andere, in denen unterm Strich dasselbe drinnensteht, lediglich sozusagen in übersetzter Form für diejenigen, die die Sprache der four letter news nicht verstehen; die allerdings, genauso wie er, offensichtlich nicht wissen (wollen), daß Intellektualität nicht an eine politische Richtung gebunden ist und schon gar nicht an die Zugehörigkeit bestimmter Hellhäutigkeiten oder Nationen. Ja, es ist kaum zu ertragen, nicht gedruckt und nicht in diesem elektronisch vermittelten Bild. Allerdings ist das gegenüber früheren Jahren, in denen eines Volkes Stimme nicht anders klang, deutlicher geworden: Heutzutage wandert kein Leserbrief mehr ins Altpapier. Was selbstverständlich auch seine Vorteile hat. Denn so landen unserere Klageschreiben ja ebenfalls nicht im Papierkorb. Aber ob sie gelesen werden, das steht sozusagen unter einer anderen Zahl.















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