Leben und Art

Gegenüber der japanischen Lebensart habe ich, seit ich denken kann, also seit etwa vierzig Jahren, ein gespaltenes Verhältnis. Vielleicht sollte ich vorabschicken, daß mir bereits die Verbindung der Begriffe Leben und Art Verständnisprobleme bereitet. Es hat etwas Künstliches, das mir widerstrebt. Ich bin da eher bei den Romantikern, denen Art Bestandteil des Lebens, deren Leben Kunst war. Kunst kommt von Leben. La vie est un roman. Gelebt habe ich es nicht unbedingt so, in seiner Gänze, das Leben. Aber meine Idealvorstellung ist es seit langem. Und so, wie ich mein Leben heute lebe, kommt es dem nahe. Aber das geht auch nur, weil ich bestimmten gesellschaftlichen Zwängen nicht mehr unterworfen bin, weil sich die Gelegenheit ergeben hat, weil ich mir inzwischen die Möglichkeit geschaffen habe, das zu tun, was in den Siebzigern und Achtzigern ein Modewort war und das ich nur noch selten höre: aussteigen. Dem voraus ging ein langer Kampf mit dem Blut, das mich über die Adoleszenz hinaus umquälte. Ich habe mich, zumindest geistig, von ihm getrennt. Ich habe in jungen Jahren die Leine zu meiner Erzieherin gekappt, was mir leichter fiel, als mein Miterzieher gestorben war. In einem Aufwasch habe ich meine Blutsverwandschaft gleich mit aus meinem Leben getilgt. Von da an gab es nur noch die des Geistes.

Die japanische Lebensart erweckt möglicherweise deshalb zwiespältige Gefühle in mir, weil ich, wenn vielleicht auch unbewußt seitens meiner Erzieher(in), mittels einer Disziplin erzogen wurde, die ich für landestypisch halte und die gerade von der Natur über den Haufen geworfen wurde: Disziplin. Äußerste. In jedem Fall. Nur nicht aus der Haut fahren. Keine Gefühle zeigen. Immer der Sache dienen. Mir ist es einigermaßen gelungen, mich diesen Zwängen zu entziehen, denen die indigenen Bewohner dieser mittlerweile schlimm durcheinandergeratenen Insel dauerhaft ausgesetzt sind, und zwar, seit sie ihre eigene Geschichte zu denken gedrillt werden. Ihr sind sie verhaftet, aus dieser Haut können sie nicht hinaus. Wieder einmal Heimito von Doderer: Man bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Ehre. Vaterland. Kaiser. Der Liebende stürzt sich (und andere) in den Tod. Nur daß der Kamikaze, wo auch immer er gelandet sein wird am Ende seines (und anderer) Leben, nicht von Jungfrauen umtanzt wird. Das ist eine andere Religion, quasi von Staats wegen. Aber die tut, was auch andere tun: Sie diszipliniert. Bis zur bitteren Neige. Sie erzieht, zur Demut und, hier spezifisch, zum Glauben an den Fortschritt.

Das ist zumindest mein Eindruck, der mir über die Japaner vermittelt wurde, die ich in meinem Leben kennengelernt habe. Das begann in meiner späteren Kindheit, als ich Insasse eines Internates geworden war, in dem der Nachwuchs aller erdenklichen Nationen geparkt worden war, deren Erzeuger dienstlich die Welt bereisten. Zu näheren Kontakten kam es kaum, denn kaum hatte eine Freundschaft zu keimen begonnen, fraß elterlicher, zu dieser Zeit nahezu ausnahmlos männlicher Wandertrieb den zarten Trieb genüßlich weg. Der Herr über Mumien, Analphabeten und Diebe hat einmal mehr eine Erinnerung in mir wachgerufen, hier mit dem japanischen Mitschüler seiner Kindheit. Ich hatte auch so einen Freund. Nein, korrekt muß es heißen, es wäre vermutlich einer geworden. Wäre es dazu gekommen, würden wir möglicherweise heute elektrische Briefe hin- und hersenden. Oder auch nicht (mehr). Er war ein sehr stiller Junge, wie ich damals auch, das waren vermutlich meine Ansätze zur Werdung von Geistesverwandtschaft. Soweit ich mich erinnere, ging es uns beiden nicht sonderlich gut. Wir litten quasi gemeinsam unter dem Arbeitswahn unserer Eltern. Ihm jedoch ging es vermutlich um einiges schlechter als mir. Denn während das Revoluzzerische in mir relativ früh zum Ausbruch kam, indem ich mich einfach verweigerte, eine fürchterliche Fresse zog und auch schonmal einfach für zwei Tage vom Erdboden verschwand, ohne daß sich eine Spalte aufgetan hätte, hatte dieser Beinahe-Freund immer alles still zu ertragen, allenfalls zu nicken, was sich in einem bejahenden Verbeugen ausdrückte. Immer nur lächeln, immer vergnügt. Doch wie's da drinnen aussieht, geht niemand was an. Das mögen besonders Deutsche, die meinen, etwas von Romantik zu verstehen, weil das ihrer Meinung nach ohnehin eine deutsche Erfindung ist wie der Blick gen Osten auf den Divan. Diese Schmonzette aus der Welt der Operette, dem früheren wirklichkeitsverneinenden Kitschical, zielt zwar auf das feste Land gegenüber, aber in dem spielt ja das Verbergen von Gefühlen ebenfalls eine nicht unerhebliche Rolle. Deshalb wohl haben ein paar tausend Volksabgeordnete oder vom Volk Delegierte auch gerade beschlossen, noch weitere drei Dutzend dieser kernkräftigen Energielieferanten zu bauen. Das war ein Bild wie 風水 / 风水 aus dem sozialistischen Realismus.

Das mit der Freundschaft wurde, wie erwähnt, nichts. Aber ich bin später noch ein paar Japanern begegnet. Dabei denke ich nicht unbedingt an diejenigen, die als spätere Ehefrauen und Mütter in der alten europäischen Welt angelandet wurden, weil jungdynamische europäische Männer ein paar gute Yen aus dessen Land mitnehmen wollten, die meist aus guten Familien kamen und eine gute Ausbildung als Pianistinnen und/oder Opernsängerinnen vorzuweisen hatten und ihren Kindern dieses und bei der Gelegenheit auch gleich mit großer Disziplin vermittelten. In näheren, engeren Kontakt kam ich zu Kindern Nippons, die es vorzogen, sich diesen Gewalttätigkeiten, der sich meiner Meinung nach auch in Kindesmißbrauch in Form von Erziehungsdrill äußert, zu entziehen und deshalb sozusagen in dem Land eine neue Heimat gefunden haben, das nach Ansicht der deutschen Bundeskanzlerin und deren Blutsbrüdern und -schwestern als Kultur gescheitert oder gar tot ist: Multikulti. Der Künstler, mit ich ich über einige Jahre hin an allen erdenklichen Orten stundenlange Gespräche über Künste und Kulturen, also für mich auch nahe sowie fern(öst)liche Philosophien zu sprechen das Vergnügen hatte, belegte genau das Gegenteil. Aber selbstverständlich meinen diese national Gefestigten, mögen sie nun Le Pen oder Friedrich oder Merkel oder Sarkozy heißen, das nicht. Dienstbare ausländische Geister mit guter Ausbildung sind immer willkommen. Deren Parallelwelten in Düsseldorf oder Paris sind auch völlig anders zu bewerten als die in Berlin oder Köln. Die dienen nämlich einer (Ab-)Geschlossenheit, die belegt, daß sie wieder zurückkehren werden in ihre Heimatländer. Daß sie möglicherweise jetzt darüber nachdenken könnten, lieber in der Nähe der sehr viel sicheren Kernkraft am Rheingraben oder der lieblicheren an Rhône oder Loire zu bleiben, das steht unter Umständen zu befürchten. Andererseits kann solche nachträglich dem Blut beigegebene Disziplin einem Land nur dienlich sein.

Schließe ich für heute meine alles andere als objektive Kladde, einmal mehr, mit Musik. Eine in Deutschland lebende und mit einem in den Siebzigern vogelwilden Pianisten (Der Krach soll Musik sein?!) verbandelte, später sogar verehelichte Japanerin traf Ende der Achtziger auf eine Portugiesin, und sie produzierten eine CD und dann noch eine. Die Klavierspielerin jazzte phantastisch zu den jazzigen Gesängen der Sängerin. Vielleicht sagt mein dürftiger Musikverstand mal wieder etwas Falsches, aber ich nenne es nunmal gerne lebendiges (nicht einfach nur lebendes, als wäre es vor sich hin dämmerndes, schlicht dahinsiechendes Zoogetier) Multikulti. Ich komme dabei ins Quietschen vor Lust.
 
Di, 15.03.2011 |  link | (2384) | 16 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten


edition csc   (15.03.11, 19:25)   (link)  
Drei Dutzend in China?
Hier lese ich: „26 davon in der Volksrepublik China˝. Na gut, Zahlen. Und Thema auch nicht.

–cabü


jean stubenzweig   (15.03.11, 21:23)   (link)  
Gehört und gesehen
hab ich's, ich meine, der Hetkemper war's, der von rund vierzig gesprochen hat. Dem alten Asienhasen traue ich noch am meisten (ich sage nur: Walkampf). Er schien mir auch der einzige zu sein, der ehrlich sagte, daß er kaum etwas weiß, weil so gut wie keine Informationen flössen. Allerdings hat er vor drei Tagen von vierzig Millionen Menschen in der Metropolregion Tokyo gesprochen, ich dachte noch, aha, Korrektur vom wirklichen Fachmann, gestern abend nahm er dann wieder zehn Millionen weg. Korrektur? Oder übernächtigt? Durchgerüttelt vom vielen Beben? Oder einfach zuwenig Schlaf wegen Überarbeitung rund um die Kernschmelze oder Explosion oder radioaktive Verseuchung? Verseucht? Gehirnschmelze? Aber der darf das, er dürfte schließlich bald in die öffentlch-rechtliche Pension einziehen.

Egal, Zahlen. Eben. Anderes Thema auch. Aber der Phom-Text hat was, wie so oft, interessant. Nur die neue Grundfarbe seines Blogs gefällt mir nicht. Das fast reine Weiß behagte mir eher. Die jetzige hat etwas von einem Rentner-Blouson. Rentner bin ich schließlich selbst. Er aber, so vermute ich, ist jung.

Egal. Anderes Thema eben: Geistesverwandtschaft. Der Tenno, der Kaiser und der Gehorsam der Kadaver. Der olle Ottomeyer, früher Münchner Stadtmuseum, heute das nationale historische in Berlin, so oll wie ich, hat mal, angesprochen auf die deutsche Identität durch die Kontinuität der Geschichte gesagt: Hat kaum stattgefunden, nämlich nicht länger als etwa hundert Jahre habe es einen tatsächlichen nationalen Zusammenhalt gegeben. Daraus habe sich allerdings vor allem eines, besser: unter anderem ergeben: Obrigkeitsdenken. Das hätte ich dem gemütlichen Sachwalter von Kunst und Krempel gar nicht zugetraut. Aber er hat meine frühere Sympathie ihm gegenüber bestätigt. Dennoch graust's mich bei dem Gedanken an diese Pflichterfüllung, die den armen Japanern momentan quittiert wird.

Ach. Ich mag überhaupt nicht mehr hinschauen.


edition csc   (16.03.11, 11:08)   (link)  
Walfang, nicht Walkampf
hieß das mal, und der Name des Herrn Hetkämper und nicht Hetkemper. Aber um im aktuellen Strom mitzuschwimmen, wurde der Titel geändert: Boykott japanischer Produkte.


nnier   (15.03.11, 23:21)   (link)  
Diese Disziplin und Selbstdisziplin hat schon etwas Beeindruckendes, vom edlen Samurai bis zu den Kamikazefliegern wird da ja einiges an Projektionsfläche angeboten - und ich habe mich oft gefragt, wie ausgerechnet in so einem Land diese absolut verrückten Fernsehshows entstehen konnten. Und dieser Schulmädchenfetisch. Und Karaokebars.


jean stubenzweig   (16.03.11, 02:16)   (link)  
Samurai und Tiefflieger
Sie ergänzen es. Dazu Schulmädchen und Karaoke. Auch das deutschbeliebt. Es hat mich immer durchgeschüttelt. Es ist jämmerlich. Wäre ich ein religiöser Mensch, ich hätte des öfteren Gott um Erbarmen bitten müssen. So bleibt mir ein gottloses Bitten: Mögen die endlich irgendwann in einer Aufklärung ankommen, die sich anders artikuliert als rein wissenschafts- oder auch gut- oder auch geldgläubig. Das ist das Dilemma, in das die gesamte europäische, ach was, globale Bildungspolitik hinsteuert; Glauben an das, was andere zu wissen vorgeben. Alleine deshalb kann ich den Begriff Demut nicht ausstehen. Die verbeugen sich ständig in Demut vor dem, von dem sie glauben, daß er recht hat mit seinen ganzen Fakten. Und da sind sie, oben bei Ottomeyer habe ich's angerissen, den Deutschen sehr ähnlich. Gleichwohl sie auf eine geradezu unglaublich ältere Geschichte zurückblicken können. Und das wird ihnen auch permament eingetrichtert. Ich würde mich da auch nur noch besaufen wollen, um bloß nicht dahinter zu kommen, was die eigentlich mit mir zu machen gedenken.

Viele lange Gespräche hatte ich darumherum – durchaus auch schon mal im Strom endend, aber nie von Beginn an, um die Wirklichkeit zuzuschütten. Die mir genehmen Asiaten von der erschütterten Insel wurden durchweg deshalb eurasisch in ihrem Denken, blieben lieber in der Alten Welt, weil sie sich dort nicht mehr nur verbeugen mußten. Gut, die Verbeugung als solche haben sie nie abgelegt. Aber sie wurde von einer gewissen Gelenkigkeit interruptiert. Ich habe großartige Menschen unter ihnen kennengelernt. Aber das ein wenig zu zeigen wurde ihnen in der Regel erst dann möglich, wenn sie sich aus ihrem erzieherischen Umfeld herauszulösen in der Lage waren.

Aber ich schreibe dummes Zeugs. Das ist mit allen Menschen so, die zur Freiheit gelangt sind, auf welche Weise auch immer. Und daß die nicht materiellen Ursprungs, nicht Geld-Art ist, muß ich Ihnen nicht erzählen. Es ist immer eine Frage, nach welchen Werten ich Wert definiere. Die Unterschiede zwischen der japanischen und der berlusconischen Welt sind so elementar nicht. Der Schnitt besteht vermutlich lediglich wegen anderer historischer Hintergründe, die allerdings auch auf der asiatischen Insel mittlerweile genauso fragmentarisch «überliefert» werden wie auf Sizilien. Die globalisierte Mafia des Wirtschaftswachstums wird irgendwann jedes sich in einem Erdlöchlein versteckenden kulturellen Sämleins weggemontesanot haben. Sie bewerkstelligt das eben auf unterhaltsame Weise. Das ist eben die Strategie. Wir wissen, das ist ein ursprünglich militärischer Begriff wie auch dieser Warentransportverkehr, den man mittlerweile ungehemmt Logistik heißt. Auf den völlig als Gemeinplatz abgesoffenen Begriff Avant-garde will ich gar nicht eingehen. Längst firmieren Ladenketten unter ihm.

Es sei denn, die Menschheit kehrt zu dem zurück, was sie zivilisiert hat: eigenständiges Denken, in Gemeinschaft umgesetzt. In der Wutbürgerschaft sind vielleicht erste Ansätze zu sehen. Aber ich meine damit gewiß nicht dieses immerwährende Drängen zur Mitte, wird es dort bekanntlich doch ziemlich eng. Japaner und Deutsche mögen das mögen und andere Indigenien auch. Mir wird dabei eher schlecht. Nähme man mich als Randfigur des Geschehens ohne viel Wörter oder gar Worte dennoch als Teil einer Gemeinsamkeit wahr und akzeptierte auch Randfiguren, wäre mir als Außenstehendem oder anders als immerzu mittig Denkendem wohler. Ich mag keine Teetanzveranstaltungen, schon gar keine vom Zwischennetz aufgefangenen. Dann gehe ich allemale lieber auf die Straße oder steige wie früher auf die Zinnen als in irgendeinem elektronischen Club de plaisir abzusteigen, in dem ich mich flatrate mit Karaoke zuschütten kann.

Es ist für mich (im derzeitigen Biorhythmus) ungewöhnlich spät geworden, was mich ein wenig hat überschäumen oder auch tsunamigleich hat ausufern lassen. Ich weiß, Sie werden's mir gestattet haben.


charon   (16.03.11, 11:58)   (link)  
Von den japanischen Studentinnen rumorte es am College, sie seien im Bett die besten. Ich hatte nie Gelegenheit, dies zu verifizieren, ließ mir aber sagen, daß sie in ungezwungener Zweisamkeit fernab der Heimat sämtliche anerzwungene Selbstdisziplin fallen ließen.

Jahre später traf ich Herrn N., einen japanischen Doktoranden, der sich mit einem gefühlt 25-Jahres-Stipendium des Rotary Clubs in Deutschland aufhielt. Er arbeitete über die preußischen Agrarreformen, ein Thema, von dem er behauptete, es stieße auf großes Interesse in seiner Heimat. Das sollte wohl heißen, es gäbe außer ihm noch drei andere, die darüber nachdachten.

Tatsächlich hatten die preußischen Reformen, vermittelt durch die historische Schule der Nationalökonomie um 1900, einen großen Einfluß auf die konservativen Reformen im Japan der Meji-Periode. Das Modell der preußischen "Revolution von oben", der Kanalisierung revolutionärer Tendenzen zur Absicherung bzw. Herstellung staatlicher Herrschaft, schien den nach Westen blickenden japanischen "Modernisierern" der einzig adäquate Weg ins 20. Jahrhundert. Den Trödelhändler Ottomeyer mag ich nicht und ich bin froh gehört zu haben, daß bald ein frischer Wind durchs muffige Zeughaus wehen wird - vielleicht wie einst zu Stölzls Zeiten. Doch muß ich ihm zerknirscht zustimmen, daß die gemeinsamen preußisch-japanischen Traditionen der staatlich gelenkten Abrichtung von Staatsbürgern letztlich tatsächlich vorwiegend moralisch verkrüppelte Untertanen produziert hat.

Herr N. begleitete mein akademisches Arbeiten mehrere Jahre lang, immer anwesend, doch ohne über Höflichkeitsfloskeln hinaus je ein Wort von sich gegeben zu haben. Als ich ihn schließlich doch einmal über sein wissenschaftliches Arbeiten ausfragte, erzählte er mir in äußerst gebrochenem Deutsch, daß er im Schnitt eine Seite pro Tag lesen könne. Bei den (blind) geschätzten 35.000 arbeitsrelevanten Seiten in den diversen Reposita des Geheimen Staatsarchivs läßt sich die absurde Halbwertszeit der Arbeitslast berechnen.

Mit Herrn N. sprach ich auch über sein Leben in einem fremden Land, einer fremden Kultur. Ein wirkliches Interesse am Anderen konnte ich nicht feststellen, und auf die irgendwann gestellte Frage nach seinem persönlichen Wohlbefinden sprach er - ohne mit der Wimper zu zucken - den Satz, der mich noch heute Schaudern macht: "Ich bin sehr einsam." Manche Kulturen lassen sich nur sehr schwer erschließen. Ich möchte behaupten, mir Mühe gegeben zu haben, doch bin ich mir meiner Unzulänglichkeit durchaus bewußt.


jean stubenzweig   (16.03.11, 15:37)   (link)  
Meine Japan(er)-Kenntnisse
sind ja auch nicht eben globusumfassend. Aber ich bin eben, wie erwähnt, einigen persönlich und intensiv begegnet, kam so zu Eindrücken aus einer anderen Welt und habe mich vermutlich deshalb immer ein bißchen mit diesem Land beschäftigt. Immer wieder verblüfft hat mich beispielsweise das verzückte Gehabe vieler Deutscher, die dort, wo andere ein Gehirn haben, japanische Gärten angelegt zu haben schienen, vergleichbar vielleicht mit der Designtheorie der ewig lebenden Winckelmann-Jüngerschaft – bloß nicht hineinschauen, der Inhalt könnte sich als ein edles Nichts erweisen, was aber wahrscheinlich auch wurscht wäre. Und selbst diejenigen, die ins Land der aufgehenden Sonne gereist waren, wußten auch nach der Rückkehr fast nichts über das Land und dessen Menschen, weil sie sich strikt an die ihnen zur Reisebuchung übergebenen Anweisungen des Fremdenverkehrsbüros hielten. Doch der Blick nach Fernost hat schließlich eine gewisse deutsche Sehnsuchtstradition. Und jetzt kommen Sie und verweisen auf die «historische Schule der Nationalökonomie um 1900». Da puzzelt sich etwas zusammen, mit dieser Ingredienz köchelt sich das geistige Blutsüppchen noch geschmackvoller zusammen.

Am meisten gestört hat mich immer diese Parallelgesellschaft, dieses sich Abschotten von eventuellen Einflüssen, selbst dort, Sie haben ein schönes Beispiel geliefert, wo sie über lange Zeit zu Gast waren. Mich hat solches Verhalten, ob nun bei Japanern, Arabern oder Türken oder wem auch immer grundsätzlich unangenehm berührt. Die Töchter und Söhne Nippons, zu denen ich intensiven Kontakt hatte, wollten immer alles über ihre Gastgeber wissen und nahmen am gesellschaftlichen Leben teilweise (auf)munter(nd) teil. Und keiner von denen hat je seine angestammte oder ihm injizierte Kultur aufgegeben, sondern darüber hinaus eher die des jeweiligen Gastlandes bereichert. In den meisten Fällen sind sie gar Dauergäste geworden, weil sie keinen Trieb mehr verspürten, sich den bisweilen arg strengen gesellschaftlichen Regularien ihrer Heimat weiterhin zu unterwerfen. Das ist es eben, was ich unter Multikulti verstehe, was letztlich nichts anderes bedeutet, als daß es nie etwas anderes gegeben hat. Aber es gibt nach wie vor treu, etwa via politischem Aschermittwoch überlieferte, an ihre genetische Einzigartigkeit glaubende Ober- oder Niederbayern oder Jütländer oder Steiermärker oder solche aus dem Land der Kartharer oder ausgerechnet solche von den Auen des Flüßchens Vézère, wo die alten und die neuen Menschen einander über den Weg gelaufen sind und sich auch noch, nach neueren Forschungsergebnissen, fröhlich gepaart haben sollen (genau weiß ich's nicht, denn ich war seinerzeit noch etwas zu jung zum zum).

Meine Begegnungen mit Otto Trödelmeyer liegen schon eine Weile zurück. Es war zu der Zeit, als das Münchner Stadtmuseum unter Stölzl mir nicht zuletzt dessentwegen ein angenehmer und beinahe ständiger Aufenthaltsort war. Damals hatte ich einige Gespräche mit dem für Innenausstattung zuständigen Abteilungsleitenden. Er hatte zwar bereits zu dieser Zeit, wir waren beide Mitte dreißig, er leicht jünger als ich, etwas ins Altväterliche Tendierendes, vielleicht angeboren Professorales aus der vorletzten Jahrhundertwende, das pfiffige oder auch schmunzelige Temperament seines Hausherrn ging ihm völlig ab, aber einer muß schließlich die Ruhe bewahren, und ich hörte ihm recht gerne zu. Vielleicht, weil er so gemütlich war und beruhigend (nein, ich sage nicht sedierend) auf mich ewig Neugierigen (ein)wirkte und geduldig alle Fragen beantwortete. Das bestätigte sich 2009 während eines Gespräch zwischen ihm und einem allerdings leicht devot Fragen Stellenden im alpha-forum, das ich aufgezeichnet hatte. Ein wenig erstaunt war ich allerdings über seinen enormen Karrieresatz vom Ressortleiter an ein wirklich großes Haus, seinerzeit Kassel, und dann eben Berlin. Nun gut, stellvertretender Museumschef wurde er noch, sein Oberster hatte ja, um einiges früher als uns das internette Volkslexikon vermittelt, den Ruf des großen Vorsitzenden aus dem Lande Saumagen gehört. (Nichts gegen den Magen einer Sau! Ich vermute, bezüglich der Macht des Essens dieser Region sind wir uns einig.) Als ich den denkwürdigen Katalog zu Entartete Kunst redaktionell betreute, fuhrwerkte er meines Wissens bereits Unter den Linden herum. Aber vielleicht trügt mich, wie so oft, meine Erinnerung, es ist doch schon einige Zeit her und viel passiert seitdem. Kurzum: Nach reiflicher Überlegung kam ich zu dem Schluß, daß der später politisch vom einst sehr frei denkenden in tiefes Dunkel gewendete Stölzl sich einen braven Höfling in seine kohle Geschichtsfestung geholt haben dürfte.


charon   (16.03.11, 16:45)   (link)  
Man muß noch sehen, was der Neue bringen wird. Ich kenne das, von ihm bis dato geführte Haus ganz gut. Flache Themen und große Spektakel scheinen seine Steckenpferde zu sein. Ob es ein Vorschußlorbeer ist, wenn ich lobend erwähne, daß die Kinderausstellung im alten Haus wirklich gut waren, sei dahingestellt. Zumindest steht auch er irgendwie in der Saumagen-Tradition, und selbst wenn diese politisch nur schwer verdaulich ist, ist die kulinarische Seite nicht zu verachten.

Wir verstehen uns, und das freut mich sehr.


jean stubenzweig   (16.03.11, 18:50)   (link)  
Wie kommt Neumann
denn auf den? Das soll keine wertende Frage sein, da ich ihn nicht kenne (ich sollte mal wieder nach Speyer fahren, fällt mir dabei ein, zur Not ist es ja nicht allzu weit nach Bitche, wo wenigstens gut Garnelen einkaufen ist). Aber ein bißchen notnagelig kommt mir das, wie in der Taz geschrieben, dann doch vor. Da wird doch der Oggersheimer – nein, das geht doch gar nicht ... Allerdings, Kernkraft ist ja auch sicher. Auch wenn wir uns verstehen, was mich ebenso freut, aber verblüfft lassen Sie mich dennoch zurück.


famille   (16.03.11, 17:53)   (link)  
Von einem Künstler
ist oben die Rede. Warum wird der nicht namentlich erwähnt? Da gäbe es doch was zu erzählen. Oder nicht?


jean stubenzweig   (17.03.11, 12:01)   (link)  
Ein paar Geheimnisse
muß ich ohnehin weit aufgeklapptes Buch schließlich bewahren. Oder so: Hier ist doch nicht die gelbe oder bunte Presse.


jean stubenzweig   (17.03.11, 17:12)   (link)  
Der Untote Altägypter
Sethos gibt auf der Dunklen Seite ein Gastspiel als Erklärbär, der als solcher seine «japanologisch-akademische Labermaschine» anwirft. Das ist so unterhaltsam aufklärerisch, daß auf dieses Stereotyp des japanischen Mannes alter Prägung hier unbedingt hingewiesen werden muß.


diplomuschi   (18.03.11, 20:57)   (link)  
Noch mehr Japanisches
entdeckt: interessant und schön.


jagothello   (16.03.11, 20:40)   (link)  
Beeindruckend
Das ist eine mich beeindruckende Meditation über einen interkulturellen Austausch und ich glaube, Sie haben Recht (wenn ich das richtig verstehe): Kunst und Wissenschaft bringen uns zusammen. Ich bin, fernab des Glaubens, Katastrophen könnten Gutes bewirken, jedenfalls inspiriert, in Kürze das hiesige Museum für Ostasiatische Kunst zu besuchen.


jean stubenzweig   (17.03.11, 01:58)   (link)  
Mit rechter Freude
nehme ich Ihre Er-, vielleicht sogar Ihr Bekenntnis zur Kenntnis. Ja, das ist mir seit langem wichtig. Diese Internationale, von der S. D. Sauerbier Anfang der Neunziger unter dem Titel die Die Gemeinschaft der Künstler ein überzeugendes Sprachbild gemalt hat, auch oder gerade weil es die Artistik aus dem Fokus der Marktmechanismen rückt, hat früher agiert und weitaus mehr bewirkt, als Politik, Kirchen und ähnliche Versammlungen das auch nur im Ansatz zu leisten in der Lage wäre.

Die aktuelle Katastrophe und deren «fernes» Land waren mir Anlaß gewesen, neben der Problematik scheinbarer Vererbung geistiger Zustände, auch auf dieses Phänomen hinzuweisen. Ein japanischer bildender Künstler, der sich unter anderem intensiv mit deutschen Literaten und Philosophen beschäftigt hat und auch in der Konkreten Poesie zuhause war, hat mich einmal beeindruckt mit dem Bild: «Ich gehe über eine Brücke und bin gelb geschminkt. Es ist der Weg von Asien nach Europa. Dann habe ich mich wieder weiß geschminkt. Gelb-Weiß, das war die Auseinandersetzung: Wer bin ich? In Japan hieß es immer, du bist so europäisch, hier heißt es: Du bist so japanisch. Ich bin gelb. Ich bin weiß.» Die Farbe Gelb ist beliebig austauschbar, etwa mit Rot oder Schwarz, ebenso Grün, das ich im Gesicht werde, wenn ich jetzt wieder so viele phrasenhaft Freundschaft proklamieren höre, weil es die gesellschaftliche höf(l)i(s)che Konvention verlangt, dieses Spruchband, das wieder in der hintersten Ecke der Lagerstätte überflüssiger Worte verschwindet, sobald der Brand gelöscht und die Feuerwehr in aller Stille abgezogen ist. Wissenschaftler legen ein vergleichbares soziales Verhalten an den Tag. Sie haben keine Berührungsängste. Nationen spielen keinerlei Rolle im großen humanen Theater. Viele leben von und in der Gemeinschaft. Aber es sind ausnahmelos diejenigen, die sich zur Freiheit eigenständigen Denkens durchgekämpft haben.















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