Europa und ihr Stier

Ausgeliehen bei Eduthek Schule Austria


Eigentlich wollten wir über diesen großen deutschen Philosophen nicht mehr debattieren. Doch nachdem Hans Pfitzinger in seinem tazblog uns derart ins Schmunzeln gebracht hatte, mußten wir alle guten Vorsätze beziehungsweise die Erkenntnis, Totschweigen sei die am ehesten funktionierende Negativkritik, dahinfahren lassen:
Mit einer Meldung von der Kulturseite: Peter Sloterdijk bekommt den Lessing-Preis für Kritik, und ein Satz aus seinem neuen Buch (hört der denn nie auf?) wird auch zitiert — um zu unterstreichen, daß er den Preis verdient hat? Also sprach Sloterdijk: Lessings Ringparabel sei ein Versuch der «Domestikation der Monotheismen aus dem Geist der guten Gesellschaft».

Dann doch lieber DJ Bobo, über den Kirsten Riesselmann auf derselben Seite schreibt. Seine Philosophie verstehen die Menschen wenigstens: «So, Leute, ihr nehmt jetzt den linken Arm hoch, dann den rechten, und wenn der Rhythmus einsetzt, klatscht ihr alle im Takt die Hände zusammen! Genauso, toll!»
Wie sprach doch unser Hausphilosoph Werner Enke vor vier Jahrzehnten: «Es wird böse enden.» Damit war irgendwie auch das geistig-moralische Deutschland gemeint. Und das ist ja bekanntlich angekommen.

Beschreibe ich's mal so: Da kaum jemand Peter Sloterdijk versteht — und damit ist nicht nur sein Genuschle gemeint, lediglich unterbrochen von den Hilflosigkeiten, auch nur einen Satz halbwegs unfallfrei zuende zu sprechen —, er also weiter keinen Schaden außerhalb seiner Jüngerschaft anrichten kann, wurde ihm (für Intellektuelle) besten öffentlich-rechtlichen Sendezeit die Möglichkeit gewährt, einen gewissen Bekanntheitsgrad über sich hinaus zu erlangen. Diejenigen, die bereit sind, sich dieses gegenaufklärerischen Geraunes wegen das Höhrrohr anzulegen, bewahren somit einen Philosophiebegriff, der sich keinen Jota von der Ironie des spitzwegerischen Dachkammerdenkers wegzubewegen gedenkt: der dialogische Austausch der Philosophie verliert sich unterm Regenschirm des vermeintlich Elitären. Das paßt zu diesem Land, in dem das hermetisch vernagelte Kryptische als Synonym für geistige Vollendung steht und das gerne mit Lobpreisungen bedacht wird, gegen die ihre Namensgeber sich nicht mehr wehren können.

Nun gut, im Zusammenhang mit Herrn Professor Sloterdijk gehen die Meinungen auseinander. Zwar hatte ich bei Schmoll et copains mal geäußert, es gebe «Bücher, die sollte man einfach nicht mehr in die Hand nehmen. Man sollte sie in den tiefen Kartons auf dem Dachboden des Vergessens belassen.» Aber offensichtlich soll dem nicht so sein, zumal gerade Sloterdijk für ein historisches Bewußtsein plädiert. Und das las sich 1994 bei ihm so:
«Der jähe Ausfall von vierzig Millionen Toten hatte die Atmosphäre in Schwingung versetzt, eine mystische Emission, die an den Lebenden zehrte wie eine grenzenlose Schuld.»
Manfred Jander meinte daraufhin:
«Wenn ich mich nicht irre, bestand der ‹Ausfall› darin, daß vierzig Millionen lebende, teils lebendige Menschen gefallen, verhungert, erfroren sind — oder ohne Umwege ermordet wurden; außerdem kann ich mich nicht erinnern, daß der gewaltsame Tod zwanzig Millionen sowjetischer Menschen in der westlichen Welt eine spürbare ‹Schwingung› verursacht hätte.»
In einer Ausgabe des Laubacher Feuilleton waren einige Meinungen zu Sloterdijks Essay Falls Europa erwacht veröffentlicht worden. Zwar ist zur Zeit mehr die Rede von dieser spezifischen Wackelwährung, die zu meinem anhaltenden (Monarchisten-)Bedauern dann doch nicht Écu heißen durfte, aber im Zuge dessen kommt es mehr als marginal, also eher schon zur seitenfüllenden Schreibe über die Sehnsüchte vieler, wieder in den idyllischen Urwald der Kleinstaaterei zurückkehren zu wollen. (Dabei bin ich geneigt, die modernen Mittelaltermärkte zu assoziieren, die zur Hochsaison vor allem des deutsch eingegrenzten Fremdenverkehrs zunehmend die Zentren der Städtchen illustrieren, in denen es keinen Unrat gibt, der stinkend durch die Gassen fließt, und auch das einfache Volk kunterbunt gewandet voller Glück im Müßiggang vor sich hinschlendert.) Der Prophet Sloterdijk aber blickte seinerzeit zurück auf den Mythos von Europa und ihren hinterlistigen Stier und bot verwirrten Politikern «geschichtspilosophische Information» sowie «klare Orientierung». So möge nicht verlorengehen, was uns offensichtlich mehr noch als vor fünfzehn Jahren beschäftigt, und sei deshalb ins nichts wegschmeißende Zwischennetz nachgemeißelt.

In der Anmoderation zur Diskussion von Peter Sloterdijks Buch hieß es:

«Was für das Frankreich der siebziger Jahre die Nouveaux philosophes André Glucksmann, Alain Finkielkraut oder Bernard Henri Lévy und andere, ist für die Bundesrepublik der achtziger und neunziger Jahre sicherlich ein Peter Sloterdijk. Kaum jemand unter den jüngeren Philosophen ist so umstritten, löst so heftige Diskussionen aus wie er.

Gerade sein Essay Falls Europa erwacht löste eine Flut an Verwünschungen und Vergötterungen aus, es hagelte polemische Verrisse und kotauähnliche Lobhudeleien.

Auch innerhalb der Redaktion schieden sich die Geister an den Thesen des in München lebenden Sloterdijk. Deshalb haben wir einige Personen außerhalb unseres Blatts, aber auch Redaktionsmitglieder gebeten, Kommentare abzugeben.»

Weil Wolfgang Flatz alphabetisch ganz oben stand, sei um irgendeiner Ordnung willen mit ihm begonnen.
Warum hat Peter Sloterdijk seinen Essay nicht Europa erwache betitelt? Warum heißt er Falls Europa erwacht? Begreift er sich als einen jener Pop-Ulär-Philosophen, die die Zeichen der Zeit zwar lesen, verstehen und zu interpretieren imstande sind, jedoch nicht die Rolle des Rufers oder handelnden Einpeitschers übernehmen wollen, sich somit auf die Verantwortung für das notwendig gesagte nur im historisierenden Mahnbereich zurückziehen, um sich mit dieser Haltung nicht mehr als notwendig zu exponieren? Oder hat Sloterdijk Angst, daß ein Buchtitel Europa erwache zu sehr an die Sprachterminologie der Zeit erinnert, die zu jener Absence Europas der Macht-Gestalt und Verantwortungslosigkeit im Weltgeschehen geführt hat, die er in seiner Schrift als Hauptübel und Ursache des der Totenstarre ähnlichen Handlungswillens und -vermögens zuordnet? Womit wir schon mitten im Fall Europa erwacht sind.

Oder — falls der Philosoph weder am Menschsein orientierte Zukunftsbilder entwirft, im Gegensatz zur Philosophie-Mode jüngsten Datums (Stichwort Baudrillard, Derrida ...), die die Menschheit als Opfer ihrer Zeichenwelt begreift und sich keine Lösung aus diesen selbstgeschaffenen Denkmustern vorstellen kann.

Es kann nicht Sinn der Philosophie, schon gar nicht des Lebens sein, die Zukunft als unbeeinflußbares Verderben zu sehen und darzustellen.

Sloterdijks Plädoyer für ein vorausgerichtetes, konstruktives, historisch abgeleitetes, verantwortungsvolles, politisch bewußtes Handlungsstreben um eine ausgeglichene Machtverteilung im Weltgefüge, in der Europa als Mitte des Denkens und Austragungsort geistiger Polaritäten der Evolution und Mutation des Planeten Erde zu begreifen war, ist die richtige Forderung an ein Europa in einer Epoche, die sich, vom Werteverfall gebeutelt, bis nahe ans Koma tatenlos zum Spielball ihrer eigenen Kinder mit Namen Kapitalismus und Kommunismus degradieren ließ.

Peter Sloterdijk hat eine Erkenntnis in eine Sprachform gebracht, die einer möglichst großen Öffentlichkeit zugänglich und bewußt gemacht werden sollte, bevor es zu spät zum Handeln ist.

Solange die Künstler, Philosophen, Wissenschaftler und Politiker nur das Jetzt interpretieren, es aber nicht verändern wollen noch Visionen vom lebenswerten Leben entwerfen, verdienen sie keinen Platz auf dem Plateau des Weltgeschehens.

Mut tut gut, Mr. Sloterdijk.

Europa erwache, es ist Zeit zum Aufstehen.

Die weiteren Kommentare folgen.
 
Di, 27.09.2011 |  link | (3119) | 9 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele


jean stubenzweig   (29.09.11, 13:35)   (link)  
Der neue Europäer
Wenn Jahre «Müllsäcke» sind, die nach Silvester abgeholt werden, wenn wir «bodenlos» sind, weil wir zwischen 14 Arten von Dressings wählen müssen — dann hat Sloterdijk recht, dann findet die translation imperii im nationalen Maßstab nicht ein Ende, dann wird Europa in den nächsten drei Generationen untergehen.

Aber meine Jahre sind keine Müllsäcke, und Dressing verabscheue ich, und ich fühlte mich 1945, sieben Jahre alt, nicht gedemütigt, sondern befreit — von einer großen Angst. Kann sein, daß ich mich später deshalb der Historie zugewandt habe. Als gelernter Mediävist wundere ich mich, wieviele Aspekte Sloterdijk bei der Ausbreitung seiner durchaus anziehenden translatio-Idee übersehen hat — zum Beispiel, daß Macht ohne Metaphysik weder Spaß macht noch Bestand hat, zum Beispiel, daß eine Reichs-Ideologie in einer Demokratie keinen Platz finden kann und darf.

«Moderne politische Systeme müssen ihre Erfolge ohne jenseitige Stützen denken», schreibt Sloterdijk. Denken: vielleicht — leben? Der junge Europäer — und da widerspreche ich dem Autor entschieden — ist nicht nur verbrauchender Ästhet. Der «alte ernste Mensch» wird nicht verdunsten. Der neue Europäer wird Legitimation vom politischen System fordern, und die kommt allemal von «jenseitigen Stützen», sprich: von den alten europäischen Tugenden, aus der Tradition der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte. Hoffen wir, daß das genügt, Europa wach zu halten (es hat nie fest geschlafen). Denn eigentlich, wissen wir, sind wir anthropologisch dazu geneigt, einem höheren Wesen, wir nennen es Gott, zu folgen.

Den europäischen Intellektuellen eine Revision des Imperiumsprinzips abzufordern — das heißt, um einen glaubbaren Gott für die Demokratie zu bitten. Leichter treten an seine Stelle: Kaiser und Könige. Schneller tun das: alte und neue Sekten.

Der Autor Konrad Franke, Jahrgang 1938, ist studierter Mediävist. Von 1995 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2002 war er Leiter der Hauptabteilung Kultur beim DeutschlandRadio Berlin. Zu den Themen, mit denen sich Franke seitdem befaßt, gehören besonders das Altern der Gesellschaft. Dazu hat Franke mehrere Bücher verfaßt.


edition csc   (29.09.11, 19:07)   (link)  
Globke, Strauß, Filbinger
Das Ärgernis beginnt schon auf Seite dreizehn. Nur weil die «amerikanischen Engagements von 1917-1918 und 1941-1945» sich hübsch «als säkularisierte Kreuzzüge in die Alte Welt» bezeichnen lassen, muß auch ein adäquater Kriegsgrund erfunden werden: «hier gab es ein heiliges Grab (sic!) der Menschenrechte, Paris und andere Gedenkstätten zu befreien, an denen die Pietät von Amerikanern haftete». Befreiung vom Faschismus durch lauter(e) pietätvolle amerikanische Haftmi(e)nen!

Und nach der Befreiung? «Die moralisch Sensibleren unter den Europäern beugten sich spontan, wie Delinquenten mit Schuldeinsicht, unter die neuen Verhältnisse. Vor allem deutsche Politiker und Intellektuelle nahmen die Umwälzungen von 1945 wie ein gerechtes Urteil an.» Spontan fielen mir Globke, Oberländer, Maunz, Strauß, Lübke und Filbinger ein. («Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.»)

Der Grund für die Sensibilität der «Davongekommenen» wird von Sloterdijk näher bestimmt: «Der jähe Ausfall von vierzig Millionen Toten hatte die Atmosphäre in Schwingung versetzt, eine mystische Emission, die an den Lebenden zehrte wie eine grenzenlose Schuld.» Wenn ich mich nicht irre, bestand der «Ausfall» darin, daß vierzig Millionen lebende, teils lebendige Menschen gefallen, verhungert, erfroren sind — oder ohne Umwege ermordet wurden; außerdem kann ich mich nicht erinnern, daß der gewaltsame Tod zwanzig Millionen sowjetischer Menschen in der westlichen Welt eine spürbare «Schwingung» verursacht hätte.

Nach dem letzten zitierten Satz beendete ich die Lektüre. Der tägliche Schwachsinn reicht; dem geschichtsphilosophischen Sloterdijk werde ich mich künftig nicht mehr aussetzen.

Der Autor Manfred Jander stammte aus dem Remstal, in der Nähe von Stuttgart. Dort absolvierte er eine Lehre zum Schriftsetzer. Im Anschluß studierte er Geschichte und Soziologie. Nach dem Abschluß als Magister artium war er überwiegend in München in der Erwachsenenbildung sowie als freiberuflicher Lektor tätig.

–cabü



jean stubenzweig   (30.09.11, 10:24)   (link)  
Lustlos und kleinkrämerisch
Europa, das heißt, das westliche EG-Rumpf-Europa, hatte sich häuslich diesseits der Weitengrenze eingerichtet. 1989 kam ungerufen, und die Reaktion war Erschrecken: «business as usual» hier seitdem die Devise.

Die Europäische Union als Nukleus eines geeinten Europa war Programm gewesen — aber nur bis sich die Chance der Realisierung bot. Nach dem Ende der Pax sovietica hätte rasch eine neue Struktur gesucht, eine neue Friedensordnung geschaffen werden müssen. Europäische oder nationale Orientierung — dies war die Alternative jenseits der ehemaligen Weltengrenze. Das EG-Europa hat Schuld auf sich geladen in seinem Verzicht auf eine visionäre Politik, und es droht dabei, seine eigenen Grundlagen zu zerstören, wie der Maastricht-Prozeß zeigt.

Sloterdijk hat recht: Die lustlose und kleinkrämerische Nachahmung der Vereinigten Staaten von Amerika des Brüssel-Straßburg-Typs wird sich erschöpfen — hat sich, genau besehen, schon erschöpft. Es bedarf europäischer Visionen, aber der richtigen — z. B. der bescheidenen einer europäischen Friedensordnung, die die Vielfalt der Kulturen und Identitäten aushält und die das normative Postulat des staatlichen Gewaltmonopols auf diesem Kontinent ohne klare Grenzen neu zu buchstabieren erlaubt. Es bedarf jedoch keiner neuen Reichsidee, auch nicht ihrer Translation, keiner Renaissance der «Wahrheitsfragen» als Merkmal genuin europäischer Politik.

Die Partikularisierung universaler Ideen für die Zwecke europäischer Identität wäre ein gefährlicher Irrweg, auch deshalb, weil damit der größere Rest der Welt aus der kosmopolitischen Bindung normativer Prinzipien entlassen wäre. Die Suche nach der Differentia spezifica ergibt nur aus einer Sicht Sinn, die Europa in den Begriffen des Nationalstaates verstehen möchte.

Europa sollte man nicht in einer kollektiven Identität suchen. Es muß keine eigene, so ganz andere Geschichte erzählen können. Europa kann Modell und muß Teil einer kooperativen, institutionell abgesicherten internationalen Struktur werden — alles andere wäre gefährdet, in imperiales Denken und Handeln zurückzufallen.

Der Autor Julian Nida-Rümelin war Professor am Philosophischen Seminar der Georg-August-Universität Göttingen, in den Jahren 1998 bis 2000 Kulturreferent der Landeshauptstadt München und in den Jahren 2001 und 2002 als Kulturstaatsminister Mitglied der Bundesregierung. Zum Sommersemester 2004 wechselte er auf einen Lehrstuhl für politische Theorie und Philosophie an die Ludwig-Maximilians-Universität München.


edition csc   (03.10.11, 20:01)   (link)  
Föderale Phantasie
Bei Peter Sloterdijks Essays hat mich noch nie gestört ... — ach was: Ich finde es gut, daß er die Kulturgeschichte mit sicherem Gespür durchmißt, um mit seinen ausgewaschenen Nuggets die Löcher zu stopfen, an denen der Zahn der Zeit nagt. Aber schnell hat man auch am falschen Zahn gebohrt. So dentakosmisch sah ich Peter Sloterdijk — mit seinem Falls Europa erwacht als schrill-schreiendem Bohrer in der Hand; und das, obwohl Europa den Behandlungsstuhl längst verlassen hatte.

Wie konnte es dazu kommen. Sloterdijks Prophylaxe für die verschlafene Patientin sollte sicherstellen, daß sich die heutige Translation des europäischen Keimlings (Römisches Reich) nicht zum supranationalen Leviathan entwickelt. Deshalb visioniert Sloterdijk Europäer, die künftig «das Prinzip Großmacht oder Imperium selbst in einer historischen Metamorphose aufs Spiel [...] setzen». Nach dem Identitätsverlust und mythodynamischen Vakuum Europas in der Zeit des Kalten Krieges sieht er die Herausforderung darin, «die Imperialität des Großmachtgebildes selbst aufzubrechen und dieses zu einem Mitspieler auf der Bühne einer künftigen Weltinnenpolitik zu transformieren. Europa wird das Seminar sein, wo Menschen lernen, über das Imperium hinaus zu denken.»

Während Sloterdijk seine föderale Phantasie suggestiv als Neuheit beschwört und über die richtigen Werkzeuge und Hobelbänke in einer Politwerkstatt nachdenkt, beruhigt es mich, Europa schon mehrbeinig, -köpfig und -händig am Werk zu sehen. Und eines ist sicher: Sie wartet nicht auf ein Labor mit festgelegten Versuchszeiten.


Der Autor Wout Nierhoff ist 1965 in Köln geboren. Er studierte Kunstgeschichte, Philosophie, Anglistik (M.A.) und Betriebswirtschaft (MBA) und ist Vorstandsmitglied sowie Geschäftsführer von Eyes & Ears of Europe.


edition csc   (12.10.11, 16:08)   (link)  
Großeuropa
Geändert werden muß die Politik. Und wo fängt man damit an? Na klar, im Überbau, wo's Spiel und Unterhaltung ist und keinem wehtut. Spielen wir mit Peter Sloterdijk: «Die neue Politik beginnt für uns mit der Kunst, Worte zu schaffen, die an Bord der Wirklichkeit den Horizont aufzeigen.» Nach der Lektüre von Falls Europa erwacht wähne ich mich allerdings auf einem anderen Schiff. Von hier aus sehe ich, daß Waffenlieferungen aus dem schlafenden Europa immer noch die halbe Welt in Angst und Schrecken versetzen. Mir graut vor einem ‹Großeuropa›, auch als Staatenbund. Sollen jetzt die mickrigen Nationalismen, ohne die der Mensch anscheinend nicht auskommt, einer «Vision», einer «großeuropäischen» (Sloterdijk) Ersatzlösung zugeführt werden? Ich spiele da lieber mit John Cage: «Alle wollen sie ein eigenes Land, dabei könnten sie eine eigene Weit haben.» Und Land, Nation, will ich nicht einfach durch Europa ersetzt wissen. Mir graut vor staatlichen Institutionen, um so mehr, je mächtiger sie sind. Aber was tun, um zu verhindern, daß dieses Pack von Kriegsgewinniern und Blutsaugem weiterhin ungestört Amok läut und dafür sorgt, daß jeder auf der Welt so wird wie die Konsumopfer hier? Sloterdijk will in Europa «Lebensformen» schaffen, «die den Menschen als ein von Grund auf reiches und zur Größe fähiges Wesen würdigen». Falls Ihnen das reichlich geschwafelt vorkommt, sind wir schon zwei. Ich geh wieder spielen.

Der Autor Hans Pfitzinger, Jahrgang 1945, hat Politische Wissenschaften studiert und lebt(e), lediglich unterbrochen von der Liebe zu San Francisco, seit den sechziger Jahren in München, nicht nur als Autor und Übersetzer.


edition csc   (13.10.11, 20:50)   (link)  
«Bund der Bünde»?
Europa, so scheint es, ist kein gutes Thema angesichts der realen Horizontlinie. Zuviel wird im Disput über Europa von den neuen Visionen und Ideen gesprochen, ohne dies in der Regel auch nur im Ansatz mit Inhalten zu füllen.

Straßburg und Brüssel als status quo einer europäischen Fiktion, sicher, im Hinblick auf die Katastrophe von Sarajewo und der damit verbundenen Handlungsunfähigkeit Europas ist das entschieden zu wenig für einen bunten Haufen von Staaten am Ende der Blockkonfrontation und nach dem Verlust gesellschaftlicher Utopien. Nach Maastricht und der in der BRD real existierenden Schäuble/Lammers-Debatte über ein Europa der zwei Geschwindigkeiten sich über die Rue de Loi und ihre Eurokraten lustig zu machen, ist allerdings so einfach wie unvisionär.

Vor gut 45 Jahren formulierte der Europa-Politiker Altiero Spinelli sein Manifesto di ventotene, in dem er damals schon feststellte, daß das Europa der Nationalstaaten nicht mehr zeitgemäß sei und ein föderalistischer Bundesstaat aufgebaut werden müsse, wie Sloterdijk heute den «Bund der Bünde» fordert. (Eine Konstruktion irgendwie zwischen UN und — ja, was eigentlich?)

Nach dem spannenden geschichtlichen Aufriß fordert Sloterdijk, «Europa zur Werkstatt einer zeitgemäßen Reichs-Metamorphose» zu machen, um damit «eine ganz neuartige und verfremdende Fortsetzung der Geschichte zu erfinden». Und so wird aus dem Vacuum der vergangenen Zeit auf einmal das Seminar, «wo Menschen lernen, über das Imperium hinaus zu denken». Sicherlich braucht auch das Europa des Jahres 2000 eine andere ‹Corporate Identity›, wenn man diesen Begriff schon dafür wählen möchte. Aber daß die ‹Consulting-Experten› die Wege finden könnten, darf ja wohl bezweifelt werden.

So werden wir noch ein bißchen auf ‹Europa-Trainer› oder ‹Europa-Künstler› warten müssen und uns bis dahin mit den Thesen für ein ‹Kerneuropa› — ohne konkrete Absicht auf Erweiterung, um z. B. zehn mittel- und osteuropäische Staaten — oder der Ausweitung demokratischer Strukturen beschäftigen. Für England sind augenblicklich nicht einmal Mehrheitsentscheidungen auf Ministerratsebene vorstellbar. Das — im übrigen allseits beklagte — «Demokratie-Defizit» soll nicht auf der Ebene des Europäischen Parlaments, sondern durch eine stärkere Einbindung der nationalen Parlamente erfolgen. Während im Süden dieses Europas weiter gestorben wird, versuchen die ‹Grünen› sich, — angestrengt — außenpolitisch zwischen Aufklärungsflügen (AWAKS) und Tornado-Einsätzen zu entscheiden.

So, befürchte ich, wird es vorerst nichts mit einer «institutionsschöpferischen Geste von epochaler Natur in Europa», wie sie Sloterdijk zu recht einfordert, ohne jedoch allzuviel von seinen eigenen Visionen preiszugeben.

Es bleibt nur, zitiert nach dem Autor, der Verweis auf Vasco da Gama: «Vorwärts, Kinder, das Meer zittert vor euch.» Und man möchte, einschlafend, anfügen: angesichts solcher Ideen.


Der Autor Sebastian Popp, Jahrgang 1965, studierte Politologie und Soziologie. Zum Zeitpunkt unserer Diskussion bzw. des Verfassens dieses Kommentars war er Stadtverordneter der Grünen in Frankfurt am Main.


jean stubenzweig   (13.10.11, 21:41)   (link)  
Und der Alte?


jean stubenzweig   (13.10.11, 21:43)   (link)  
Ach, ich und das Alphabet.
Es ist dasselbe wie mit den Zahlen. Kein Ende.


edition csc   (20.10.11, 20:34)   (link)  
Ein Hauch von Größenwahn
Viele interessante Gedanken, aufgezeigte Zusammenhänge, gescheite Hinweise, viel Fleiß. Aber die Dialektik von Nachdenken und Wille zum Handeln kommt nicht recht zum Zuge, genauer, das Denken grast die Wiese ab, jedoch fürs Tun bleiben alle Fragen offen.

Schöne bunte Stichworte ohne Zahl: Vakuum-Ideologie, Absence-Periode, Europa ein Theater für Imperium-Metamorphosen, Kreuzzug nach Europa, Europäische Mythomotorik, Eurogenese.

Es wird zuviel über Größe und Visionen gesprochen, wenn auch viel vor den Untiefen des Großen gewarnt wird, aber ein Hauch von Größenwahn steht als Wolke über dem Aufsatz.

Was überlebensnotwendig ist, ist ein flächendeckendes Umdenken und Umwerten im kleinen, eine neue Praxis in den Einzelheiten des Alltags unter der Ägide der Büchnerschen Prämisse (diesem 1. Hauptsatz der Demokratie) aus der Rede des St. Just: «Es darf daher jeder Vorzüge und darf daher keiner Vorrechte haben, weder ein einzelner noch eine geringere oder größere Klasse von Individuen.» Denn: Wenn Europa nicht erwacht, dann wird die Welt aus dem Schlaff der Verdrängung und Bewußtlosigkeit mit Schrecken geweckt werden vom Lärm der Katastrophen neuer Kriege und ökologischer Einbrüche.

Sehr ernst und nachdenkenswert merkwürdig ist der Satz: «Heute schuldet die europäische Intelligenz sich ein Beispiel dafür, daß eine Politik im Großen jenseits des Imperiums und jenseits der imperialistischen Verachtung möglich ist.»
Der Autor Ulrich Popp, Jahrgang 1937, studierte zunächst Mathematik und Physik und kam über das Studententheater in Frankfurt am Main zur Bühne. Für sie entschied er sich letztlich als Profession, wobei sein Kopf immer die Politik nicht nur im Blickfeld behielt, sondern sie auch lebte. Gestorben ist er Ende 2010.















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