Wer jetzt kein Haus/ des Mittelmaßes hat ...

Zur Zeit höre und lese ich atempausenlos von der Mittelmäßigkeit, vom Mittelmaß, zum Beispiel eines Wutbürgerpräsidenten. Es kommt aber immer darauf an, wo so einer herkommt, wer oder was dessen Niveau gebildet hat, an dem man sich orientiert, vielleicht auch, wer das Niveau bestimmt, das schließlich gesenkt oder erhöht werden kann, wie das Bild vom Bild-Fahrstuhl bei Wolfgang Michal, mit dem es rauf- oder runtergeht. Zur Auffahrt anderswo scheint mir allerdings kein ernsthaftes Bedürfnis zu bestehen, auch oder gerade bei denen, die dazu beitragen könnten.

Ja, Einemaria, das Volk spricht eine seltsame Sprache. Ich meine durchaus, daß Rilke in seinen Satzbauten auch gelebt hat, sich zumindest seine Verstecke gehalten hat darin, etwa in Wer jetzt kein Haus hat/baut sich keines mehr//Sein Blick ist vom/Vorübergehn der Stäbe/so müd geworden, daß/er nichts mehr hält. Ortega y Gasset hat bereits als Dehumanization dell arte die Vertreibung des Menschen aus der Kunst diagnostiziert. Vielleicht sollte man ihn, bin ich als hoffnungsloser Romantiker (sowas kannten die nämlich nicht) heute versucht zu meinen, ihn erstmal reinlassen, den Menschen in die Kunst. Aber wer will das denn? Wirklich. Also nicht nur kreativen Rock'n'Roll an der Volkshochschule. Nichts gegen Volkshochschule. Aber das Denken über die Kunst lernt man dort eher nicht so. Dafür benötigt man vermutlich eher die Einzelnen, die bezahlt werden wollen und auch sollen, und die sind als geeignete Fachkräfte nicht so billig, was für die Discounter der Bildung schwierig wird, da das Bares kostet, das man nicht mehr hat, weil es spätestens seit dem Jahr der geplatzten Blase auf einmal endgültig verschwunden ist im Müllschlucker der Geldverbrennungsanlagen, die auf Vernichtung von Massen geeicht sind, von denen es ohnehin schlicht zuviele gibt und man für die nicht auch noch kostbare Güter ausgeben kann, soll, will.

«Die Masse vernichtet alles», hat Ortega geschrieben. Nun gut, er war nicht eben ein Revolutionär, sondern eher dem mir nicht so sehr am gelben Blatt meines Herzens liegenden Adel zugetan. Doch es war eine andere Zeit. Zu der huldigten die meisten noch dem Herrn. Aber ich bin auch kein Revolutionär, wahrscheinlich, weil ich nicht möchte, daß jemand geköpft oder auch nur bildergestürmt wird, nicht einmal eine Statue, und bin obendrein gerade auch mit diesem Herrn Gasset beschäftigt, deshalb richtungsändert dieser Spanier mir, als ginge es um Picabia oder diesen Lichtenberg1 oder Wittgenstein oder wie die alle sonst noch heißen oder hießen, zur Zeit auch ständig im Kopf herum.2 Also: «Die Masse vernichtet alles, was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und erlesen ist. Wer nicht ‹wie alle› ist, wer nicht ‹wie alle› denkt, läuft Gefahr, ausgeschaltet zu werden.» (Das habe ich jetzt auf die Schnelle bei Wikipedia gekopiet und gepäistet, man kann's aber auch bei rororo im Ganzen lesen.) Da kann er noch so jesuitisch — wie das diese von mir auch nicht sonderlich gemochten Katholen im allgemeinen sind, die aber ziemlich was draufhaben — daherschreiben, aber da ist was dran.

Ich beziehe mich aber in erster Linie auf den Gewöhnungseffekt. Da ist ebenso eine Menge dran. Da komme ich auf den Einschleifeffekt im Sprachlichen, manchmal tät ein bißchen Rilke gut, zum Beispiel bei Michal, da schlürft und schmatzt die Soße und nicht der Schmatzer und der Schlürfer. Der produziert, so recht er in einigen, aber dem Wissenden — na, das ist vielleicht doch ein wenig zu altbacken unverständlich, das klingt ja nach der Vorstufe des Süttherlin, also: dem informierten Leser — längst bekannten Punkten haben mag, mittels schief im Rahmen hängender Sprachbilder dieselbe totgerührte Soße, die er in einem «Essay» (!) anprangert. Das ist nicht mehr als Sahne aus der Tube, pasteurisierte nämlich, ganz nach dem Geschmack des Volkes, das den Geschmack von der natürlichen, also der nichtlilanen Kuh her nicht mehr kennt. Für viele mag das ein vernachlässigbarer Nebenaspekt sein, für mich ist er aber, da es meines Erachtens nichts ohne Zusammenhänge gibt, mit (mittel-)maßgeblich.

Ich habe mal notiert (und mich dabei eingeschlossen): Die Pflicht des Urteilenden, in einer sogenannten Bildungsgesellschaft allemale, obendrein einer, die Informationen sehr viel leichter zugänglich macht als noch vor zehn Jahren, jedoch bleibt: Wer richtet, also (ver)urteilt, der muß wissen. Dazu zählt das Unterscheidungs-, auch Vergleichsvermögen, also die intellektuelle Fähigkeit, zu abstrahieren. In allen anderen Fällen empfehle ich mal wieder den guten alten Wittgenstein in Paraphrase, mit freundlicher Unterstützung von M. A. Numminen.

Ach, auch ich sollte mich bei all den «unwürdigen» Debatten (kann eine Debatte eine Würde haben?) zurückziehen auf Wittgenstein.
 
So, 08.01.2012 |  link | (3790) | 11 K | Ihr Kommentar | abgelegt: lingua franca


enzoo   (09.01.12, 09:27)   (link)  
wie gut
ihre kommentare/einsichten/usw. zu lesen. immer wieder.

wie schlecht, dass sie auf diesem flüchtigen bit-und-byte-medium (eben nicht) gespeichert sind. darum drucke ich manchmal aus, was sie ausdrücken.

beste grüsse!


jean stubenzweig   (09.01.12, 13:01)   (link)  
Sie, Enzoo, der Sie mich
immer wieder, wenn ich Ihr nom de plume lese, daran erinnern, was es für schöne Musik gibt, der mich nahezu ausnahmlos inspiriert, die einer meiner Lieblingschanteuses zu starten, die ich, wie wenige, auf dem Rechner habe: Enzo Enzo (hier ein Filmchen der Guten, die mich auch heute noch entzückt). Sie haben drüben bei Seemuse, die wiederum mich in der Wurzel an die Undine (nicht nur an die) von Ingeborg Bachmann erinnert:
«Denn ich habe die feine Politik verstanden, eure Ideen, eure Gesinnungen, Meinungen, die habe ich sehr wohl verstanden und noch etwas mehr. Eben darum verstand ich nicht. Ich habe die Konferenzen so vollkommen verstanden, eure Drohungen, Beweisführungen, Verschanzungen, daß sie nicht mehr zu verstehen waren. Und das war es ja, was euch bewegte, die Unverständlichkeit all dessen. Denn das war eure wirkliche große verborgene Idee von der Welt, und ich habe eure große Idee hervorgezaubert aus euch, eure unpraktische Idee, in der Zeit und Tod erschienen und flammten, alles niederbrannten, die Ordnung, von Verbrechen bemäntelt, die Nacht, zum Schlaf mißbraucht. Eure Frauen, krank von eurer Gegenwart, eure Kinder, von euch zur Zukunft verdammt, die haben euch nicht den Tod gelehrt, sondern nur beigebracht kleinweise. Aber ich habe euch mit einem Blick gelehrt, wenn alles vollkommen, hell und rasend war — ich habe euch gesagt: Es ist der Tod darin. Und: Es ist die Zeit daran. Und zugleich: Geh Tod! Und: Steh still, Zeit! Das habe ich euch gesagt. Und du hast geredet, mein Geliebter, mit einer verlangsamten Stimme, vollkommen wahr und gerettet, von allem dazwischen frei, hast deinen traurigen Geist hervorgekehrt, den traurigen, großen, der wie der Geist aller Männer ist und von der Art, die zu keinem Gebrauch bestimmt ist. Weil ich zu keinem Gebrauch bestimmt bin und ihr euch nicht zu einem Gebrauch bestimmt wußtet, war alles gut zwischen uns. Wir liebten einander. Wir waren vom gleichen Geist.»
Ingeborg Bachmann: Das dreißigste Jahr, in: Das dreißigste Jahr, Erzählungen, hier: Undine geht, p 237f. Piper-Verlag, München 1961 (23. Auflage)

Sie haben dort gerade so einen bemerkenswerten Satz geschrieben, der schlicht klingt, aber so klug und weise ist, daß er alltäglich werden sollte: «[...] man hat schliesslich das recht, gescheiter zu werden, bzw. seine meinung zu ändern.» Wobei das mit der Meinungsänderung so eine Sache ist, die zwar ihre Berechtigung hat, aber nicht im Sinn der zu schön flapsig klingenden, in den letzten Tagen hier ein paarmal zitierte Äußerung von Francis Picabia: Der Kopf ist rund, damit die Gedanken ihre Richtung ändern können. Das wird mir von zu vielen zu häufig mißbraucht. Diese «Technik» des Zitierens mochte ich bereits lange vor dem «schnellen» Internet nicht, etwa bei diesen gedruckten Zitate-Kompendien wie Nietzsche für Gottsucher oder Rilke für Häuslebauer oder Hesse für Bayern, heutzutage werden oft verhackstückte Sätze ins Feld einer Argumentation geführt, die häufig das Gegenteil von dem bewirken, das beabsichtigt wurde, weil die Zusammenhänge nicht stimmen, weil kaum mehr der Zitierenden noch die Originale lesen. Ich mag bei solchen mir unbekannten Sätzen lieber erstmal das Hirn einschalten, nicht einfach der Sause freie Bahn lassen. — Es ist der Wille, gescheiter zu werden, der mich ausmacht, vor allem in den letzten Jahren, die ich als meine schönsten empfinde (ich dabei sogar die ärgsten Zipperlein vergesse, die das Älterwerden mit sich bringen), weil sie mich dorthin geführt haben, was ich bereits als sehr junger Mensch anstrebte: gelassen zu werden.

Es gab ein Buch, das ich außerhalb oder auch nach der mir in der Kindheit verordneten Literatur gelesen hatte und das einen für mich bis heute seltsam anmutenden, wohl wegen völlig unterschiedlicher Biographien zwischen dem Autor und mir nicht ohne weiteres nachzuvollziehenden Auslösungsfunken auf mich überspringen ließ. Ich dürfte noch nicht zwanzig Jahre jung gewesen sein, da wußte ich, mein Leben würde eine bestimmte Richtung einnehmen, die der differenzierenden und zulassenden Sichtweise, die eine rasche Festlegung auf etwas fast nie zuließ. Ich hatte Irrlicht und Feuer, später dann noch ebenso beeindruckt Stellenweise Glatteis von Max von der Grün gelesen, einem Schrftsteller, der die Arbeiterwelt beschrieb, der mich einführte in eine Welt, die mir zuvor völlig unbekannt gewesen war und ich von da an wußte, es geht nur mittels differenzierender und abwägender Sichtweise, die allerdings nicht nur aus der Theorie erfolgen kann. Ich habe mich dann tatsächlich für ein Jahr vom Studium beurlauben lassen, um die andere Seite der Welt kennenzulernen. Ob es die dunkle Seite des Mondes ist, weiß ich allerdings bis heute nicht genau. Wahrscheinlich hatte ich nicht genügend Zeit oder war letzten Endes zu bequem, konsequent darüber nachzudenken. Zumal es in Europa Arbeiter kaum noch gibt, allenfalls im Fernsehen und in der sozialromantisch-nostalgischen Form des Mitteldeutschen Rundfunks, dem Nachlaßverwalter der DDR.

Ich bin also auch heute noch bei weitem nicht so gelassen wie angestrebt, sondern schäume oft vor Wut. Diese Therapie habe ich mir allerdings selbst verordnet, da ich festgestellt hatte, daß dieses mir anerzogene, ständige In-mich-Hineinfressen mich deformiert. Seitdem lasse ich manchmal laut Luft ab. Es hat mir geholfen. Ich muß mich also zwingen, so zu tun, als ob ich gelassen wäre. Dennoch spüre ich das Ankommen. Und manche Halte- oder Aussichtsorte meiner Reise notiere ich hier, exakt so, wie sie mir vom Kopf auf die Tastatur fallen, oftmals sicher (für andere) ohne sichtbare Struktur, aber ich benötige keine Ordnung, diese Fetzen sind in mir alle sortiert, außerdem bin ich kein Journalist (mehr) mit Aufklärungspflicht, ich darf also einfach in meine digitale Kladde kritzeln. In jüngster Zeit gebe ich zwar eigens das eine oder andere meines Privatlebens preis, weil ich meine, es könnte zur Klärung beitragen. Ob es das tut, das darf dennoch bezweifelt werden.

Es macht mir deshalb besondere Freude, daß andere das trotzdem nachvollziehen. Daher mein Dank in langen Sätzen für Ihre freundlichen Worte.


enzoo   (10.01.12, 09:02)   (link)  
es freut mich
dass mein nome de plume schöne gefühle in ihnen weckt, darum will ich ihnen gar nicht erzählen, auf welch langweilig normale weise ich ihn mir zugeordnet habe.

dass sie von einer anderen seite des mondes kommen als ich, wusste ich schon, bevor sie obiges schrieben, aber dass es ausgerechnet max von der grün ist, der diese beiden seiten verbinden kann und der diese beiden seiten sowohl bei ihnen als auch bei mir verbunden hat, oder zumindest einen tropfen klebstoff dazu geliefert hat, finde ich schon bemerkenswert. meine wurzeln liegen im arbeitermilieu, eine generation davor lagen sie noch im bauernmilieu, eine typische landfluch(t)karriere, und in meiner romantisch-kommunistischen lebensphase um die zwanzig herum gehörte max von der grün zu meinen lieblingsautoren, als personifizierte synthese von arbeitern und intellektuellen. geradezu mit gier las ich von den männern in zweifacher nacht, verschlang auch irrlicht und feuer. immer aber war ich beeindruckt von seiner offensichtichen liebe zu den menschen, die er in seinen büchern ausdrückte. mein bücherregal beheimatet noch heute ein schwaches dutzend seiner bücher, wenn man allerdings heute auf der alleshabenden website von amazon nach max von der grün sucht, kommen nach den vorstadtkrokodilen und irrlicht und feuer schon max raabe und nike air max laufschuhe. zwei treffer, 30 jahre nach der niederschrift von mehreren tausend seiten. da hilft in der tat nur die selbst verordnete gelassenheit, denn wut ändert daran auch nichts mehr.


jean stubenzweig   (10.01.12, 20:59)   (link)  
Max von der Grün
als der, wie Sie es so schön formulieren, «der diese beiden seiten sowohl bei ihnen als auch bei mir verbunden hat, oder zumindest einen tropfen klebstoff dazu geliefert hat». Das ist tatsächlich bemerkenswert. Und auch überraschend.

Nun denke ich darüber nach, wie es dazu kam, daß ich — wie ausgerechnet, muß ich wohl sagen — an ihn, an dieses Buch kam. Es ist momentan noch eine diffuse Erinnerung, gar lang ist's her. Ich sinniere, ob ich es in eine Erzählform fasse, wie ich es bereits mit einigen meiner Erinnerungen getan habe. Häufig fehlen mir genaue Einzelheiten, was ich auf eine Amnesie zurückführe, auf dieses Loch, in das ich tatsächlich gefallen war. Beim Erzählen gelingt es mir immer wieder — fast bin ich versucht, Kleist mit seinem Über das Verfertigen der Gedanken beim Schreiben paraphrasierend ein bißchen zu mißbrauchen (ach, das ist auch schon wieder so ein kleines Schwindeln, wende ich diese sicherlich von vielen genutzte Schreibtechnik doch beinahe immer an, sogar beim Verfassen von Aufsätzen; festgehalten habe ich mal im Zusammenhang eines Versuchs, einen Bogen zu beschreiben: auf daß ich selber verstehe, worin ich mich fortwährend verzettele).

Lassen Sie mir ein wenig Zeit, darauf angemessen zu antworten. Vielleicht wird's ja tatsächlich eine Erzählung. Und sei's drum, daß ich beginne, «effizient» zu werden und es (auch) für den hiesigen Leser schreibe, der diese Form offensichtlich am liebsten mag. «Literatur am Morgen» oder so ähnlich, das hat er mal gemeint, ja, hier war's. Ich habe jetzt noch einen stolzroten Kopf. Mal kucken, ob ich's hinkriege und dem hehren Anspruch erneut gerecht werde.

Jetzt gehe ich erstmal in die Heia. Vielleicht träumt's mich ja.


nnier   (09.01.12, 09:45)   (link)  
Soße ...
... die schlürfend und schmatzend in den Schlund eines schwarzen Lochs tropft . Und so ein Brei interessiert mich auch, der unter dem Druck seines Eigengewichts explodieren kann. Sprachlich ist das kein Glanzstück, doch ist dieser Artikel nach meiner Kenntnis einer der ersten, die nicht dem von Bildspiegelfaz vorgegebenen Takt gefolgt sind, sondern ein paar - zugegeben: naheliegende - Fragen aufgeworfen haben. Da darf's dann auch mal schlürfen, finde ich.


jean stubenzweig   (09.01.12, 15:55)   (link)  
Ich stimme zu.
Jedenfalls aus Ihrer Perspektive. Die meine ist es nicht, sonst würde ich nicht grummeln wie oben. Mir war solches Geschwurbel von Journalisten, die auch ihre Dichtkunst unter Beweis stellen wollen, analog zu denen, die Fremdwörter würfeln, was sich zunehmend häuft, immer suspekt, sie gehen mir seit je auf die Nerven. Streichen Sie mal das Sprachgemurkse aus diesem «Essay» zusammen, die kaputten Metaphern raus. Dann bleibt immer noch etwas, meinetwegen eben jene Punkte, von denen ich meinte, er habe recht. Das reicht doch völlig aus, um Zustimmung einzuholen oder Diskussion auszulösen. In einigen Punkten habe ich sogar genickt. Da wir bei der Sprache des Volkes sind: Schuster, bleib bei deinen Leisten. Und fange nicht an (weil die Werbewelt suggeriert, daß man auch im Alter ein «kreativer» Mensch zu sein hat?), dem Informationswilligen aus Apfelblüten einen Kranz zu flechten.

Er schreibt immer wieder von seiner Veränderungsbereitschaft, betont sie gar in dem erwähnten Beitrag. Dabei hat er schon in den Achtzigern gerne danebengegriffen, sich zu Themen geäußert, von denen er garantiert nicht den Anflug einer Ahnung hatte. Was seine Leser selbstverständlich nicht wußten, jedenfalls nicht in der Regel. Hier hat er welche, gar über den Anflug hinaus, aber er muß sie aufblasen, als ob er Cheffeuilletonist der Weltzeitfaz wäre. Ich hatte mir zwar untersagt, «nach einem Vierteljahrhundert mit sowas anzukommen», schrieb sogar von Vergessen. Aber wenn ich so daraufgestoßen werde, kann ich nicht an mich halten. Gerade weil er einer dieser Sprachtäter ist, die auch noch danach trachten, dafür Applaus zu erheischen.

Da ist sie wieder mal hin, die oben erwähnte angestrebte Gelassenheit. Ich bitte untertänigst selbstmitleidig um Nachsicht.


mark793   (09.01.12, 19:18)   (link)  
Habe mir bei Herrn Michal
ja auch den Hinweis nicht ganz verkneifen können, dass sein Text streckenweise den Brei reproduziert, den er zu beschreiben vorgibt. Aber mein Unbehagen an ein paar verunglückten Metaphern wiegt für mich nicht völlig auf, dass in dem Beitrag (und der anschließenden Diskussion) doch einige nachdenkenswerte Aspekte geliefert wurden, die in der medial schnappatmenden Debatte deutlich zu kurz kamen.


jean stubenzweig   (10.01.12, 13:40)   (link)  
Da die Sprache
eines der Themen ist, denen ich besondere Aufmerksamkeit zugedeihen lasse, weil ich der Meinung bin, daß durch sie vieles verkommen oder wieder nach oben nivelliert werden kann, moniere ich eben diesen Bereich. Ohne jeden Zweifel hat er einiges angerissen, das bemerkenswert ist, «dass in dem Beitrag (und der anschließenden Diskussion) doch einige nachdenkenswerte Aspekte geliefert wurden, die in der medial schnappatmenden Debatte deutlich zu kurz kamen». Doch da sind wir an dem von mir (und [so]eben auch von Ihnen) erwähnten Punkt: der anschließenden Diskussion. Möge einer wie er doch beim Klartext auch in seinen Formulierungen bleiben und das nicht so pennälerhaft ausschmücken. Oder aber: Jedem kann es passieren, daß ihm ein Bild aus dem Rahmen rutscht. Aber dann soll er seine Komposition vor Veröffentlichung eben nochmal lesen, sie klingen lassen und die Noten gegebenenfalls nachbessern. Dazu ist es allerdings zum einen erforderlich, die Basissprache, nennen wir sie hier mal die des Feuilletons, zu kennen.

Zum zweiten sei er Hinweis auf diesen Tempoirrsinn erlaubt, der auch oder mit Ursache für verunglückte (neudeutsch, wie so vieles in Wort und Gesang gerne aus dem Fremden übernommen, hier dem Schweizerdeutschen [neulich stellte mal jemand die Frage nach der Herkunft], also verunfallte) Sprachmalerei ist: Warum in aller Welt meint heutzutage eigentlich fast jede, meistens ist es jedoch jeder, einen nachgerade heroischen Kampf der Geschwindigkeiten gegen andere kämpfen zu müssen? Ständig wird nach links oder rechts geschielt, ob da einer zum Überholen ansetzt. An dieser idiotischen Raserei — idiotisch jetzt mal nahe an der Begriffswurzel des ursprünglichen Privatmenschen, den auch der heftig kritisierte Bernd Graff als Idiotae zu malen versuchte, für viele unverständlich, aber tatsächlich nicht nur interkulturell hermeneutisch oder imagologisch oder auch komparastisch um einiges neben die Palette greifend, nach der die Gesellschaft oder auch der vermeintlich Einzelne neu gefärbt sein will1, der sich nicht am öffentlichen Leben beteiligt, folglich den gewöhnlichen Menschen, den Laien, den Nichtkönner, den Stümper — meint sich heutzutage fast jeder beteiligen zu müssen, nicht nur beim Rennen durch die Dörfer, sondern auch im Wettkampf um die Leser. Welchen Klepper mit Anhänger zügellost da einer in diesem Rundstreckenrennen um die Gunst der Zuleser? Fühlt er sich als Ben Hur? Will er mitfahren bei den Großen, mögen es die Onliner sein wie der tägliche Mirror oder sonstwas. Will er rechtzeitig zitattauglich sein? Entsprechende Klickzahlen einfahren? Dieser Tage habe ich bei einem Experten, nenne ich ihn mal Bloganalyst, gelesen, daß ein Blogger unter täglichen vierhundert sozusagen ein Nichts ist. Wie haben wir früher zu dem Blatt gesagt, das Michal auch ständig im Visier hat: Millionen Fliegen können nicht irren. Das war zu der Zeit, als wir feststellten: Sechzig Millionen Deutsche jagen sechs.

Aber eines möchte ich doch deutlich hervorheben: Es ist eben nicht alleine Wolfgang Michal. Da trägt es auch andere aus der Kurve mit ihrem Verständnis von Ästhetik, auch Schönheit genannt. Gut achtzig Millionen hat die BRD heute, samt blühender Landschaften nach wiedervereinigter Zusammengehörigkeit. Sechzig Prozent davon denken mittig, also wie Herr Wulff oder dessen geistesverwandte Ästheten wie beispielswese Herr Gauck, die sich damit zu beruhigen gedenken, daß die Stahlgewitter (über deren Autor Herr Michal übrigens auch essaiiert hat, gleichwohl er sich nicht mehr daran erinnert) in Bälde enden werden, daß alles schon wieder stiller werden wird wie weiland nach Verdun. Das sind immer noch achtundvierzig Millionen. Doch soeben fällt mir ein beim Verfertigen der Gedanken beim Reden: Das Bild ist irgendwie schief, habe ich doch vergessen, diejenigen zu berücksichtigen, die noch nicht oder überhaupt nicht denken können (oder wollen?). Ich habe aber keine Zeit mehr, weiter darüber nachzudenken, es muß raus ins Klick-Geschäft.

1Ich schaue dabei in die Kunstgeschichte, weil sie mir ebenso naheliegt: Nicht nur mit den unterschiedlichen Epochen haben sich die Farben verändert, auch einzelne Künstler, seien es nun, als Beispiele, van Gogh oder Picasso oder Caravaggio mit seiner Hell-Dunkelmalerei, der mittels Farben die Realität veränderte (oder die Veränderung suggerierte), haben innerhalb ihrer Entwicklungen über sie zu neue Bildsprachen gefunden. Das erste, was sie dabei auslösten, war heftige Kritik. Heute übt man fast nur noch Kritik am Preis oder fragt; Warum hat ausgerechnet der sich eigentlich das Ohr abgeschnitten? Mit dem vielen Geld hätte er doch gut leben können.


einemaria   (11.01.12, 11:47)   (link)  
Die Mittelmasse
Da wird einem klar, was so manche/r nicht sein möchte, dämlich gewohntes Mittelmass. Das Amt des el Bundespräser als Mann der Mitte - wenn sich das mal nur nicht in der Bezahlung niederschlägt. Ich glaube, die häufigen Urlaubsaufenthalte bei seinem Spezl Maschmeyer auf Mallorca stemmen das Niveau auch nicht höher. Wer die Belanglosigkeit zum Ziel erhebt, wird sich schwer tun einzusehen, dass er für so manches belangt werden könnte. Der Mann müsste schon ein neuer Münchhausen sein, um sich an den Haaren selbst aus dem Sachsensumpf zu ziehen.

Wie sehr ich mich da freue, dass mein gutes Gewissen, also Sie, nicht nur durch seine Worte ein Gegengewicht erzeugt. Ein Gewissen, das sich, wie Rilke Sie da haben, in seinen Worten auch zu leben gewillt ist. Und wie überlegt und ehrenhaft, sein vorschnell Händchen sich den Freiraum schafft, nicht das feuernde Kanonenrohr zu richten, sondern zu gewichten, was sonst nur eine Waage schafft. Merci, Jean!

@Wittgenstein: Dein Gedankengut ist kein Gut auf das man sich zurückziehen kann. Zumindest ist es nicht die musige Laube, in der sich guter Wein kandieren lässt - dein Schicksaal in Betracht ziehend.


jean stubenzweig   (11.01.12, 16:00)   (link)  
Aufklärung tut not.
Ja, klären Sie mich nur ordentlich auf, mich in meinem blaublumigen Elfenbeinturm. Als Donnerschützen habe ich ja Sie. Das hat Vorteile, wenn man nicht im Glashaus sitzt. Und ohne Sie möcht' ich nicht sein.

Ist das tatsächlich Wittgenstein? Das klingt so goethisch.


einemaria   (12.01.12, 00:21)   (link)  
Ne,
in der Gosse meiner Seele wurde es geboren, sonst wär es ja als Zitat markiert.
Und Glashaus ist kein Ort für Donnerschützen, wohl wahr, aber ein Turm der tut es schon, so er aus Elfenbein auch sei. Eine andere Gangart wäre natürlich, das scheinbare Mittelmass von oben und von unten einzuzingeln und zumindest zur Rede zu stellen ... zumindest. Halten Sie mich zurück im rechten Moment, sonst















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