«Die beiden Besucher krieg ich kaum mit. Ich höre hauptsächlich mein eigenes Tippen, wenn ich das nächste Buch in die elektronische Maske eingebe, und ab und an Schritte. Mehr ein Schleichen. Als wären Bücher Beute. Viertel vor sechs. Ich geh rüber in Raum 2, wo ein Ensemble zum Lesen einlädt: Designer-Stühle, deren Rücken aus strammen, silbrigen Seilen geflochten sind, wie bei Harfen, aus denen Silbermusik tönt, wenn man sich anlehnt. Ist aber niemand da. Lehnt sich niemand an. Die Beiden sind schon weiter, in Raum 3. Wo die Kunstbücher sind. Meine Schätzchen.» Mittendrin, hier aus Engel und Indianer planen sich selbst, eine der stilleren Erzählungen von einem, bei dem ich etwa einmal pro Woche reinschaue und von dem ich mich nicht erinnern kann, daß er mich je gelangweilt hätte, ich auch nur einmal eine Geschichte nicht zuende gelesen hätte. Es liegt nicht an den Themen, die nicht meine Welt sind und von denen ich mir auch nicht erhoffe, ich könnte in sie eintauchen. Seine außergewöhnliche Erzählkraft ist es, sein unverwechselbarer Stil, sein eigenartiger Humor und sein von Selbstironie durchsetzter Witz, seine Einfühlsamkeit bei der Beschreibung seiner Charaktere, die mich geradezu zwingen, alles genau zu lesen. Also tauche ich doch ein, unvermeidlich. Und manchmal bin ich dabei erschüttert, so wie heute: Nur ein paar dumme Stunden
Pro- und Nekrolog Bleib erschütterbar und widersteh Also heut: zum Ersten, Zweiten, Letzten: Allen Durchgedrehten, Umgehetzten, was ich, kaum erhoben, wanken seh, gestern an und morgen abgeschaltet: Eh dein Kopf zum Totenkopf erkaltet: Bleib erschütterbar — doch widersteh! [...] Widersteht! im Siegen Ungeübte, zwischen Scylla hier und dort Charybde schwankt der Wechselkurs der Odyssee ... Finsternis kommt reichlich nachgeflossen; aber du mit — such sie dir! — Genossen! teilst das Dunkel, und es teilt sich die Gefahr, leicht und jäh — — — Bleib erschütterbar! Bleib erschütterbar — und widersteh. Peter Rühmkorf Ein Dankeschön an den Meister und den Schenker hap, der's geschenkt hat: Selbstredend und selbstreimend (Auszug aus Prolog). Auswahl und Nachwort von Peter Bekes. Philipp Reclam jun. Stuttgart 1987, S. 7 Original in: Haltbar bis Ende 1999. Gedichte. Rowohlt, Reinbek 1979 (hier auch Biographisches zu Rühmkorf)
Volksfest und Flaggenlied Vor einiger Zeit bestätigte eine Untersuchung, was ohnehin längst bekannt gewesen sein durfte, zumindest denen, die schon einmal etwas von Völkerwanderung, von den römischen Eroberungen gehört hatten und beim Beharren der Bayern oder Preußen oder Holsteiner et cetera auf Rassereinheit mehr als nur schmunzelten. Unlängst hat es die Wissenschaft mit Zahlen belegt: Gerademal dreißig Prozent derer in diesem unserem Lande dürfen sich germanischer Abstammung erfreuen — wenn sie das denn überhaupt erfreut. Doch diese Erkenntnisse sind ja auch erst ein paar Jahrzehntchen her, wie uns Der Querschnitt. Das Magazin der aktuellen Ewigkeitswerte in den zwanziger, dreißiger Jahren übermittelte: Die Leute ums Hakenkreuz halten sich bekanntlich für Arier und sind überzeugt, wenn sie es auch nicht bestimmt wissen, daß jeder von ihnen die Götter Walhalls in nächster Verwandschaft hat. Wenn gar einer zufällig mit blauen Augen und blonden Haaren auf die Welt gekommen ist, was dazwischen der Fall sein soll, dann hält er sich selbst für den wiedergeborenen Siegfried. Weil das aber nun mit den Haaren, Augen und Nasen eine eigene Sache ist (man kann nie wissen!), haben sich unsere «Völkischen» neben dem Hakenkreuz ein anderes gemeinsames Symbol verschafft. Es sind die Farben schwarz-weiß-rot. Von diesen Farben nehmen sie an, daß sich darunter nur Arier finden könnten, obwohl nicht recht einleuchtet, warum auf diese Farbenzusammenstellung nur Arier ein Privilegium haben sollten. Kann sich nun ein Mensch vorstellen, daß bereits 700 v. Chr. in Palästina die Fahne schwarz-weiß-rot geweht hat? Die Wissenschaft hat es herausgebracht: Schwarz-weiß-rot sind die Stammesfarben eines der zwölf Stämme Israels gewesen. Und jetzt rate einer welches Stammes wohl: Der Stamm Levi (ausgerechnet!), von allen zwölf Stämmen Israels der vom meisten Eifer und Fanatismus besessene Stamm, ist damals unter schwarz-weiß-rotem Banner ausgezogen. Was sagt H St.Chamberlain dazu? Wird er etwa den ganzen Stamm Levi für Arier erklären, wie er bereits Jesus von Nazareth zum Germanen gemacht hat? Das wäre eine sehr einfache und nicht unsympathische Lösung der antisemitischen Frage. Der ganze Radau ist doch überflüssig, wenn die Leviten mit unseren Völkischen die gleichen Gesinnungsfarben haben. Bisher glaubten die Hakenkreuzritter, die republikanischen Farben schwarz-rot-gold wären eine jüdische Erfindung. Was werden sie zu dem peinlichen Zusammenhang sagen, der sich für schwarz-weiß-rot aus der Feststellung der Wissenschaft ergibt? Das Leben ist manchmal von einer unbegreiflichen Gemeinheit. Da singen unsere «Arier» mit Vorliebe in vorgerückten Stunden, wenn sie die Begeisterung beim Wickel haben, ein sehr schönes Lied. Es geht an: «Stolz weht die Flagge schwarz-weiß-rot ...» Aus meinen Flegeljahren erinnere ich mich, daß dieses Lied zum eisernen Repertoire der Volksfestkapelle Lang gehört hat, die es immer brachte, wenn noch eins getrunken werden sollte. Dieses treudeutsche Lied, dem man förmlich die Blauaugen und die Blaujacken ansieht, ist nun von einem gewissen Robert Lindner gedichtet. Kein Handbuch der deutschen Literatur gibt Aufschluß über die sonstigen Taten des «Dichters», von dem bisher angenommen worden ist, daß er ein wackerer Seebär von der Wasserkante sein müßte. Aber Robert Lindner ist kein Seebär, sondern ein waschechter Jude, und hat die deutsche Flotte, die er so schwungvoll besingt, höchstens auf Ansichtskarten oder im deutschen Flottenalmanach studiert. Es ist schon ein Verhängnis mit den Farben schwarz-weiß-rot. Fast scheint es, als hätten die Juden eine noch größere Vorliebe für diese Farben als unsere Völkischen selbst; denn greift man dahinter, zuerst hinter die Fahne des wilhelminischen Deutschland, dann hinter das vielgesungene Flaggenlied, immer kommt ein hebräischer Ursprung heraus. Wann findet sich der Komödiendichter, der diesen dankbaren Stoff aufgreift? Schiller hat schon recht mit seiner Behauptung, daß «des Lebens ungemischte Freude» keinem Sterblichen zuteil wird, auch wenn er noch so fest glaubt, von den alten Germanen abzustammen, die unseres Wissens keine Fahne schwarz-weiß-rot gehabt und auch nichts von dem Flaggenlied des Robert Lindner gewußt haben. M. P. Der Querschnitt, Das Magazin der aktuellen Ewigkeitswerte. Nachdruck aus den Originalbänden, 1924–1933, Hrsg. Christian Ferber, Ullstein Verlag, Berlin 1981, Seiten 97f.; wiederabgedruckt in: Laubacher Feuilleton> 5.1993, S. 14. Wer sich hinter dem Kürzel M. P. verbergen könnte, bleibt im verborgenen. Es sei denn, aus dem Kreis der Wissenden kommt (mal wieder) ein Lesezeichen.
Diese Nullen Das mußte längst mal gesagt werden: «es geistern ja momentan sehr viele nullen durch die nachrichten, diese sind auch noch englische, deutsche oder amerikanische nullen. das macht die sache zwar nicht kompliziert, aber etwas vorsicht ist geboten»: Alles weitere bei kenzaburo
Das Sprechen führt den Zug der zeitlichen Dinge an wie ein tanzendes Kind mit einem Wimpel, auf dem nichts geschrieben steht, oder etwas, das es weder weiß noch versteht, oder mit Kinderschrift: Tod. Deshalb folgt die Kunst in dem Zug der zeitlichen Dinge weit hinten nach, mürrisch. Sie träumt von der Gegendemonstration.» Jochen Gerz
Fister «Ich weiß, als Fister ist man etwas misanthropisch und hinsichtlich der weiteren Entwicklung nicht sehr optimistisch. Alles sieht schlimm aus, und es kann nur schlimmer werden. Zum Beispiel das immer größere Interesse der Menschen für Kunst [...]. Wenn es immer so war, daß der größte Teil des kunstinteressierten Publikums stets das Falsche wählt und auf das Billigste und Protzigste hereinfällt, dann wird diese Wirkung mit dem neuen Interesse und dem großen Andrang jedenfalls um ein Vielfaches verstärkt. Das Medienmonster ist im großen und ganzen das gleiche wie das Publikumsmonster: eine große Meute von sensationshungrigen Unterhaltungs-Vagabunden. Und plötzlich gibt es keine Normen mehr, sondern nur noch Wirkungen. [...] Man darf ja noch hoffen.» Per Kirkeby: Der Starenkasten. Gedanken und Exkurse. Aus dem Dänischen von Johannes F. Sohlmann. Gachnang & Springer 1998, S. 166, Fisters Kolumne (Scheidegger & Spiess) Ich muß mir Sorgen machen. Mittlerweile treibt's mich auch aus fremden Betten senil in die nächtliche Misanthropie. Vermutlich verspätete Wechseljahre. Aber ich war schon immer ein Spätzünder.
«bei tageslicht jetzt extra noch einmal angeschaut, es ist wirklich, wirklich schlimm. nicht nur, dass einzelne barthaare einfach so herumstehen in der haut, einige länger, einige kürzer, ein paar mit leicht entzündlichen haarwurzeln, nein, ganz insbesondere der linke mundwinkel zeigt die reste eines dreitage-bartes, lieblich verlaufend von geschätzten drei millimetern im äussersten winkel bis zu fast null richtung oberlippenmitte.» plakat des grauens
Leutchen mit Pfiff «Ah — ihr Leutchen denkt, 'ne Zeichnung zum Beispiel sei Luxus? Das ist ein Pelzmantel auch. Ich würde mir schon zutrauen, Echt-Krokodil von I. G. Farben der Frau Feudel anzudrehen. Äh, äh — die Banausen, die hier in Rede stehen, WISSEN nämlich in Wahrheit, daß unter meiner Flagge derzeit mehr Fälschungen als Zeichnungen von meiner Pfote in Umlauf sind. Und solche sind gut zu erkennen: Sie sind in der Regel doppelt so groß wie die Originale. Für mich ist es eher komisch als ärgerlich, denn der Verkauf von Zeichnungen ist mein Geringstes, zumal ich gut + gern die Hälfte verschenke. Und wovon ich lebe, geht Euch Leutchen einen Pfiff an. Ein Beispiel. Ich verkaufe L. in Hamburg ein 35 cm x 25 cm großes Blumenstilleben für 700 Mark. («November»-Buch: «Mit Fasanenfeder».) Ein Herr S. «erwirbt» in München diese Zeichnung für 24.000 Mark — nur mißt die Zeichnung jetzt 60 x 40 cm. Besagter S. trifft zufällig mit seiner Beute am gleichen Tag in einer kleinen Gesellschaft auf meinen Freund T. und erzählt dem von seinem «Fang». T. läßt den S. sich auseuphorieren und sagt dann: «Wie schön, wie schön — nur das Original habe ich.» Gleich am nächsten Tag bringt S. seinen Janssen wieder in Umlauf und ruft den T. fröhlich an mit der Mitteilung, er hätte 1,5 Gewinn gemacht. Vor ein paar Tagen kam das Ding nun auf meinen Arbeitstisch. Eine Hamburger Galerie war inzwischen gegen 14.000 Mark der unglückliche Eigentümer geworden. Der Experte F. hatte das Unglück offenbar gemacht und nun wollte die Galerie von mir eine Negativ-Expertise. Hattse gekriegt. Wo das Ding heut ist, weiß ich nicht. Bis auf einige vergilbte Kleeblätter in dem Strauß war die Chose gar nicht mal so schlecht ...» Horst Janssen Auszug aus: Kurzschrift 3.2000, S. 23–28; mit Dank an Lamme Janssen für die freundliche Genehmigung; Erstdruck in: Konkret, Heft 8, August 1982, Seiten 68–71
Che-Lenin Marx Die meisten werden's schon vernommen haben auf dem Markt des Rebells: «Hollywood hätte es sich nicht besser ausdenken können, wenn die frisch ernannte Vizepräsidentenkandidation einer rechtsextrem-reaktionären, korrupten Partei, die gegen sexuelle Aufklärung in der Schule und für Enthaltsamkeit als Verhütungsmethode eintritt, eine 17-jährige Tochter hat, die justament zu Beginn der Kampagne schwanger wird, und erst noch heiraten muss. Fehlt nur noch, dass der Gatte ein in die Irre geführter, afroamerikanischer Schwuler namens Che-Lenin Marx ist.» Aber es soll ja auch Menschen geben, die nicht wissen, wer Che-Lenin Marx war oder sein wird. Und es ist eine zu schöne Ergänzung zu den (Wetter-)Aussichten auf den westlichen Herbst. Außerdem gibt's Angelegenheiten, die man gar nicht oft genug erwähnen kann.
Eine Illustration zu meinem Leid hat sich (während eines aufblitzenden Zwischen-Hochs) ebenfalls gefunden, den natürlichen Abläufen folgend auch von und mit fremder Feder: Heut nehme ich mein Kreatief
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