«Das hilft dem Vater auf die Mutter.»
Carne vale Heute, nachdem ich vor dem Nickerchen in die Stunksitzung hineingeraten und tatsächlich gelacht habe, als Moses die Heiligen Lobbyisten anschleppte, auf daß der Liebe Gott hoch oben auf einem Turm aus Pfeffersäcken (?) stehend die zehn Gebote neu verkündete und in Stein meißeln ließ, will ich eingefleischter Anti-Faschingst mich beteiligen. Nein. Ich verstehe diese seltsamen Rituale nicht einmal annähernd. Noch immer sitzt der Schock tief in mir, den ich Anfang der Siebziger erlitt, als ich an einem Karnevalsfreitag in Aix-la-Chapelle das Hotel verließ, um gemütlich einen Kaffee trinken zu gehen. Ich hatte die abendlichen Warnungen der Dame an der Reception ignoriert. Diese verzerrten Gesichte anläßlich meines mehrfach geäußerten Getränkewunschs werde ich mein Lebtag nicht vergessen, dachte ich doch, die wollen mich, bevor sie mich runterwerfen in Charons Vorgarten, vorher noch massakrieren. Dabei hatte ich, aus London kommend, meine Bahnfahrt nach Berlin lediglich unterbrochen, um mir die heiligste Architektur dieser Stadt anzuschauen. In die war ich anschließend geflüchtet. Aber selbst dort hatte man Pappen an der Nase und auf dem Kopf und war überhaupt von seltsamer Fröhlichkeit. Nun, ich habe auch nie dieses Cowboy und Indianer gespielt. Ich fand das immer sehr langweilig. Vielleicht, weil mein geologischer Vater sein Söhnlein ein paarmal zu den Indios hinauf in die sieben Berge mitgenommen hatte. Aber nachdem ich bei MelusineB, deren Protokolle zu ihren Gleisbauarbeiten ich ohnehin immer sehr gerne lese, heute deren Maskeraden verfolgt habe, beginne ich wenigstens so langsam zu verstehen, weshalb ich mich von klein an unter Mädchen immer irgendwie wohler gefühlt habe als unter faden Meinesgleichen: „Warum verkleidest du dich nicht als Indianer oder als Cowboy?“, fragte meine Mutter, als ich ihr mein Leid klagte. „Ich will nicht immer an den Pfahl gebunden werden.“ Ich bin kein Mann. Warum muss ich das sagen? Sie weiß es doch. Ich will auch keiner sein. Ich will eine Frau sein, die mit der Faust zuschlägt.“Ich danke für diese wunderschöne Auslegung des Karnevals und verleihe Ihnen hiermit den ortsunüblichen Orden für den tierischen Ernst.
Demokratische Identität Im Sommer 1980 geschah in der Nürnberger Norishalle etwas, das nicht allzu häufig vorkommt: Publikum und Kulturkritik waren sich einig im Lob. Gezeigt worden war die Ausstellung Lebensgeschichten. Anhand von Alltagsgegenständen, also Werkzeuge und Hausrat, Photographien und Schautafeln erläuterte sie die Deutsche Sozialgeschichte 1850 – 1950. Besonders aufschlußreiche Gegenstände dieser dokumentarischen Geschichtsschau waren sechs Biographien, angefangen bei der des Industriellen bis «hinunter» zu der eines Dienstmädchens. Die erfolgreiche Ausstellung war einer der ersten Schritte auf dem Weg zur Identitätsfindung einer Gesellschaftsschicht, der im Museum bislang allenfalls die hinterste Ecke freigeräumt wurde — der Arbeiterschaft. Ideenlieferant, Initiator und Leiter dieser Geschichtsbetrachtung aus der Perspektive des Grases (und mal nicht aus der der Burg) war der Historiker und Kulturwissenschaftler Wolfgang Ruppert, zu dieser Zeit Projektleiter am Nürnberger Centrum Industriekultur. Was die Ausstellung leistete, ließe sich auch als Erinnerungsarbeit bezeichnen. Das ist denn auch der Titel eines Buches, als dessen Herausgeber Ruppert Beiträge von Historikern zum Thema «Geschichte und demokratische Identität in Deutschland» vorstellt und in zwei Fällen selbst als Autor fungiert. Die neun Aufsätze bestehen im wesentlichen aus Forumsbeiträgen zum Nürnberger Gespräch '79, eine Veranstaltung des Schul- und Kulturreferats der fränkischen Metropole, und stellen eine Sammlung mittlerweile unerläßlicher Informationen dar. In vielen Fällen bemühen sich die Autoren um eine angenehm lesbare, im Fall von Hans Mayers Text gar anregende Sprache. Einzig der Aufsatz von Rudolf zur Lippe, Professor für Sozialphilosophoe und Ästhetik in Oldenburg, ist von einer sprachlichen Prägung, daß ich zugunsten einer breiteren Leserschaft, um die es letztlich geht, das eine ums andere Mal gerne den Redigierstift in die Hand genommen hätte. Mit Archäologie verbinden wir in der Regel gedanklich eine Vergangenheit, die mumifiziert ist. Wir denken an Pharaonen und deren Pyramiden, verneigen uns dabei in Ehrfurcht vor dem Glanz exotischer Herrschaft. Diejenigen, die frei nach Bertolt Brecht, diese Monumente gebaut, die die schweren Steine geschleppt haben, nehmen in unserem Geschichtsbewußtsein einen untergeordneten Raum ein. Wie auch anders? Die in unseren Museen ausgestellte Historie zeigt «traditionsgemäß» die adlige Spitze des Eisbergs. An die unter der sichtbaren Oberfläche verborgene Masse werden wir nicht erinnert. Der Begriff Kultur wird gemeinhin recht weit «oben» angesiedelt, hat etwas von Höherem, Weihevollen. Die «Gesamtheit der Lebensäußerung eines Volkes», wie mich mein Brockhaus lehrt, bleibt versteckt im edlen Band der leinengebundenen Encyclopédie, eingestaubt vom Wissen der Gelehrten, die mit Diderot oder d'Alembert mal angetreten waren, das Volk aus der Gefangenschaft des Nichtwissens zu befreien. Allenfalls Namen und Zahlen, «Relikte» aus der Schulzeit, schwirren in unseren Köpfen herum und vernebeln Zusammenhänge. Hauptsache, wir wissen, woher die Kohle kommt. Die fürs Portemonnaie und die für den Strom. Der Tatsache, daß wir es sind, die wir sie ausgegraben haben und weiterhin ausgraben, gehen seit einiger Zeit Historiker auf den Grund. Wie immer, wenn eine Epoche sich ihrem Ende zuneigt. «Jedenfalls ist es in der Geschichtswissenschaft keine seltene Erscheinung», schreibt Klaus Tenfelde, «daß man über Ereignisse und Entwicklungen in dem Augenblick zu forschen beginnt, in dem sie zu einem gewissen Abschluß geführt zu sein scheinen.» Man betreibt die Archäologie der Industriekultur, so Wolfgang Ruppert, beginnt mit ihrer «musealen Präsentation», denn wir stehen «an der Schwelle der Entdeckung der Genese unserer eigenen industriell geprägten Lebensformen». Mit seiner Arbeit am Centrum Industriekultur hatte er die Anfänge zu einem Modell Nürnberg geschaffen. Dem inzwischen dort ausgeschiedenen Historiker ging und geht es darum, «die Kenntnisse der Entstehung der modernen Industriekultur zu vertiefen und einsichtig zu machen». Dabei genüge es jedoch nicht, so Ruppert weiter, «eine antiquarisch-historische Sammlung von Objekten und Industriedenkmalen anzulegen» Denn, vervollständigt Klaus Tenfelde, «es escheint uns sinnlos, Kulturelles aus dem Kontext von Werten zu lösen». Nur eine historisierende Schau zusammenzutragen reicht nicht aus, um zur Selbstfindung zu gelangen. Die Autoren von Erinnerungsarbeit fordern uns auf, selbst Archäologen zu sein und ans Tageslicht zu fördern, was diese andere, eben nicht «hochkulturelle» Vergangenheit kennzeichnet. «Unsere persönlichen Erfahrungen», stellt Lutz Niethammer fest, «datieren wir nicht nach dem Kulturfahrplan, sondern nach Geburt und Tod von Verwandten, nach Umzügen, Heiraten, Berufseinschnitten». Diese persönlichen Erfahrungen sind beispielsweise festgehalten in Photographien oder Briefen. So sind Familienalben, Keller, Speicher und so weiter Fundgruben der eigenen Geschichte. Mit ein bißchen Aufmerksamkeit läßt sich diese mühelos mit der anderer verbinden. «Lebensgeschichte», hat Rudolf zur Lippe an seiner eigenen Vita herausgefunden, «führt im Rahmen der Wirkung der anderen zu einer Identität.» Eine andere Lebensgeschichte kann sein die der Frau, die 1978 immerhin 111 Jahre alt geworden war. Ruppert hatte das damals einer Zeitungsmeldung entnommen und war angeregt worden, zurückzurechnen: «Ein Jahr vor ihrer Geburt (1866) hatte der letzte ‹Bruderkrieg› zwischen Preußen und den süddeutschen Staaten stattgefunden. [...] Die Arbeiterbewegung organisierte sich gerade. [...] Die Verstädterung setzte gerade ein. Nach wie vor galt das Züchtigungsrecht der Herrschaft gegenüber den Dienstboten. Frauen waren zum Studium an den Universitäten nicht zugelassen.» Auch ein Bummel über den gemütlichen Flohmarkt muß kein nostalgisch verklärter Rückblick sein. Er kann sich als «Spurensicherung» unserer Geschichte erweisen. Vorausgesetzt, wir halten uns an die These von Rudolf zur Lippe: «Bedingung für Geschichtsbewußtsein ist eigenes Erleben und Bewirken von Prozessen ...» In diesem zwar von Wissenschaftlern verfaßten, aber dennoch für jeden lebaren Handbuch für ein dringend notwendiges neues (Geschichts-)Bewußtsein fehlt auch nicht der Hinweis von Karl Bosl, die Wurzeln unserer Identitätsfindung seien in Kenntnissen des Mittelalters verankert. Denn aus dieser Aufbruchsepoche heraus sei «ein großartiger Aufstieg aus Lebeigenschaft, Hörigkeit, Schollegebundenheit, Zwangsarbeit, Dienstverpfichtung zur adleigen und bürgerlichen Freiheit sowie zur bäuerlichen Besserstellung erfolgt [...], und zwar gerade in Deutschland ziemlich einheitlich aus der Grundstruktur der familia». Erinnerungsarbeit. Geschichte und demokratische Identität in Deutschland. Flohmarkt der Pseudonyme: Vorwärts spezial, 2.1983
Nobler Verkehr Aussterbende Gesellschaften (Großbild) Rot- und schwarzbetucht stehen der alte Adel, das neue Geld und die grüne Front um das Holzfeuer. Vor dem Filet Château Latour mit Trüffeln am Abend löffelt man zur ersten Stärkung Erbsensuppe mit Speck, und die Marketenderin geht mit ihrer Bouteille feinen Danziger Goldwassers reihum, um die Gläschen nachzuladen. Die Foxhounds und Beagles haben noch den Schweiß vom Run auf der Fährte im Fell. Die Zuschauer in den neuesten Modellen der Leder- und Pelz-Haute-Couture sind darauf bedacht, ihre mit dem Portemonnaie erjagten Teile während der einbrechenden Dämmerung im gerade noch rechten Licht auszustellen. Die Schleppjagd hat abgesattelt, die Pferde, über deren Einkaufspreis und noch weniger über deren Handelswert man grundsätzlich nicht spricht, sind abgerieben, kolikvermeidende Decken sind ihnen auferlegt. Man hört kein Knallen der Hetzpeitschen mehr, das Jagdhorn, das cornet anglais (während des Ritts korrekt zwischen dem zweiten und dem dritten Knopf des roten Rocks getragen) ist abgelegt: zum Halali war schon geblasen. Bei der noch hechelnden Meute steht ein Reiter, an der Hand die Zügel eines Pferdes, das an Lawrence von Arabien erinnert: es hat zwei Kanister hinter dem Sattel, in denen die Wasserversorgung für eine Wüstenexpedition untergebracht sein könnte. Enthalten ist allerdings Heringslake, es darf gegebenenfalls auch Anis sein; die klassische Mischung für die «Schleppflüssigkeit» heißt jedoch Fuchslosung, zu deren Gewinnung sich viele Meutenhalter zahme Füchse in Käfigen halten. Schleppflüssigkeit benötigt man für die Schleppjagd, und diese alles andere als schleppende Jagd ist das, was früher einmal die Fuchsjagd war: der Traum des berittenen Jägers vom scharfen Rennen hinter dem Fuchs. Alles, was man zur Fuchshatz braucht, ist vorhanden: Pferde, Hunde, die herrschaftlichen Parks und Weiden, der Arzt für das Pferd und der für den Reiter, der Roßschlächter für alle Fälle und das Halali. Was fehlt, sind lediglich die Füchse. Die Fuchsjagd mit der Meute ist in Deutschland seit den zwanziger Jahren verboten. Der schlimme Anblick des von der Meute zerrissenen Wildes war dem tierliebenden Deutschen unerträglich geworden. Die einzigen, die in Europa heute noch wirkliche Füchse jagen, sind Engländer und Iren. Die imitierte Fuchsjagd ist bei den Niederdeutschen beliebter als bei den Oberdeutschen. In Bayern steht nur eine einzige Beagle-Meute, zwei gibt es in Baden-Württemberg, vier in Hessen und die anderen sieben in der englischen Besatzungszone der norddeutschen Tiefebene, in der die meisten Beagles und Foxhounds den Füchsen und Hasen gute Nacht sagen. Vierzehn Meuten gibt es in der Bundesrepublik. Das sind mehr als ein Drittel aller vierzig in der Welt auf der Schleppe jagenden Meuten, die hierzulande alljährlich etwa fünfzehntausend Reiter im Schlepp haben. Bevor das Halali bei Gesprächen über die Infiltration des Gotha durch Seiteneinsteiger und den letzten Versuch, den Steuerberater von Jochen Steffen zu bekommen, zuende geht, hat die ganze Meute (jeder Hund gehört einem eingetragenen Verein an) ihren gebrühten Pansen bekommen, ist die Hasenjagd längst im Gange, und nun müssen nur noch die Ordnungshüter den noblen Verkehr regeln. Nachtrag 21.12.: Eric Prieditis ist zur, der Jagd aufgesessen und hat die oben verkleinerte Fähe zur, auf die (hiesige) Strecke gebracht. Flohmarkt: Savoir-vivre, 1977
Das Schmuddelkinder-Problem Weil's zu wesentlich ist, um in den (häufig nicht beachteten) Kommentaren vor sich hinzudümpeln. Das gab's allerdings bereits (oder noch?) Anfang der achtziger Jahre. Eine Dame von irgendwas mit Medien, verheiratet mit einem, ebenfalls vom Film, der heute wegen seiner Herkunft aus Nahost und seinem Äußeren unter ständiger Beobachtung von einigen Millionen Deutschen stünde, die beiden hatten ein Kind, und deshalb wollten sie sich bei mir behördlich anmelden, weil die Tochter in eine bessere Lehrversorgung — na, Sie wissen schon. Sie durften nicht, auch nicht um des Peppermint Friedens willen, den diese Produktion durchaus erbracht hatte, nicht nur, weil ich ein solches Verfahren zu dieser Zeit bereits abgelehnt habe. Sie wohnten selber in Schwabing, nur eben im falschen Sprengel. Die Ablehnung beendete eine ohnehin schon getrübte Freundschaft endgültig. Nun ja, mittlerweile werden solche Leute von anderen «angeschwärzt». «Lichtenberg lässt mit Hilfe der Polizei Klingelschilder überprüfen und Nachbarn befragen.» Bislang kannte man das eher von Schwarzfernsehfahndern. Wenn sich das so weiterentwickelt, sind wir bald wieder in den dreißiger oder vierziger Jahren, von denen dieser Film teilweise erzählte, an dessen überaus friedliche und freudvolle Dreharbeiten ich mich sehr gerne erinnere, nicht zuletzt, weil er eine (religionsfreie) Botschaft transportierte, die bis heute die meine ist und in der damals Neunjährige auch noch keine Vorstellungsgespräche zu absolvieren hatten — auch wenn sich das, siehe oben, bereits abzeichnete. Konservativ? Bereits zu Beginn der Siebziger kam ein Begriff auf, der denjenigen ins Mundwerk geriet, die sich nicht zu sagen trauten, daß sie mit alldem nicht einverstanden sind, der da lautete wertkonservativ. Dabei hätte es dieses letztendlich pleonastischen Ablenkungsmanövers gar nicht bedurft. Recht ins Grübeln brachte mich, was mir der Vater des deutschen Verteidigungsministers, dem mit der medienfortschrittlichen oder auch fernseh(un)tauglichen Gattin, mal ins elektrische Notizbuch sprach: Es sei im Grunde absurd, daß gerade die Konservativen immer von Fortschritt reden und dabei aber «nicht konservativ sind, sondern zerstörerisch». Es war die Zeit, als die Grünen sich formierten, wenn sie in ihrem Streben auch noch eine Weile von ihren heutigen Zielen entfernt waren und sich noch nicht bei Freunden anmeldeten, um ihre Kinder in eine bessere Schule zu entsenden. Gerne will ich denn auch zugestehen, daß wahrhaftig nicht sie es waren, sondern die in Hamburg sich als liberal-konservativ bezeichnenden Hafencity- und Wirtschaftswachstumsbefürworter et cetera, die eine Verlängerung der Grundausbildung verhindert haben. Mir sind hinreichend Fälle bekannt, in denen Menschen es schulisch weitergebracht hätten, möglicherweise gar bis zum Studium mit Abschluß, wären sie mit der vierten Klasse nicht ein- für allemal in die Hauptschule eingesperrt worden. Wir hatten es ja bereits einige Male, aber es gibt Sachverhalte, die gar nicht oft genug wiederholt werden können: Ständig ist von Integration die Rede, wenn Assimilation gemeint ist. Multikulti haben wir allüberall seit, mal als Hausnummer, die cimbri teutonique gen Süden aufbrachen und, lange bevor da ein Jude die Grundlage heutiger gemeinsamer christlicher Werte auslösen sollte, von den damaligen wirtschaftsglobal- und zivilisationsgesinnten Römern überlistet und übel verprügelt wurden. Geholfen hat es ihnen nicht, eine Schlacht zu gewinnen, bis nach Nordafrika schwärmten sie aus, die, die später unter Germanen firmieren sollten und heute wieder zurückwollen auf den nördlicheren Kontinent. Es gibt zwar Afrikaner, aber keine Deutschen oder Franzosen und so weiter. Wir sollten sein ein einig Volk von Brüdern und Schwestern — denen es nicht schwerfallen würde, trotz unterschiedlicher Ansichten des einen oder anderen, sich zu integrieren, ließe man ihnen denn durch frühzeitige schulische Maßnahmen die Möglichkeit, in diese gesellschaftliche Mischbatterie zu hüpfen. Die einen schaffen oder wollen das nicht unbedingt, möglicherweise weil sie bereits im Elternhaus daran gehindert werden, wie sich das links- oder rechtsrheinisch und so weiter ebenfalls nicht anders verhält, weil das Mädchen ohnehin irgendwann heiratet und der Junge einfach rasch Geld verdienen soll, wie es bei den Alten auch nicht anders war. Einige schaffen es trotzdem. Einer aus der hiesigen Bloggergemeinde weist immer wieder mal darauf hin, und ich halte seinen leichten, durch Ironie abgemilderten Schaum vorm Mund für mehr als berechtigt. Auf der rechten Seite des Rheins sind es die kriegerischen Osmanen, bis hin zu diesen ganzen billigen Spargelstechern und Erdbeepflückern, auf der linksseitigen, bis hinauf an die Nordsee, wo der Afsluitdijk das flache Land abschirmt, die Mauren oder Mohren oder wie diese ganzen Anderspigmentierten auch heißen mögen, die in die Schranken oder hinter sie ge- beziehungsweise zurückgewiesen werden müssen. Lenin kam nur bis Lüdenscheid gerät mir in den Gedächtelfuß. Und im Film tritt der Schmuddelkinder-Poet ja auch ständig auf. Obwohl Richard David Precht immer wieder um Distanz bemüht ist, habe ich den Eindruck, daß seine auf diese Weise verbrachte Kindheit ihm nicht allzu sehr geschadet hat, scheint mir das Bild dieser Zeit jedenfalls nicht ganz so arg neben die Spur geraten zu sein, wie andere das sehen, vor allem dann, wenn man als achtundsechziger sogenannter Erwachsener Einzelheiten etwas dezidierter in Erinnerung hat und meint, das sich heute ebenfalls im Rückzug befindliche Stilmittel dieser Zeit, die Ironie, nicht nur als Überbleibsel «antiautoritärer» Erziehung herauszuhören, vor allem für diejenigen, die sich so gar nicht vorstellen können, was seinerzeit tatsächlich los war. – Ich will es nicht unterlassen haben, darauf hinzuweisen, daß es auch andere Blicke auf dieses Thema gab. Unterm Strich gelange ich nach diesem Buch oder auch dem Film nicht unbedingt zu der Ansicht, «die Menschen scheinen nichts voneinander ‹haben› zu wollen». Die alten Prechts dürften allein mit der Tatsache, anderspigmentierte Kinder adoptiert zu haben (heute eine der hinlänglich bekannten weltweiten Moden, neben der des in Dörfern und Städten gleichermaßen an- oder nachhaltigen DauerbeSUFFs) auch in ihrem selbsterzeugten Nachwuchs ein differenzierteres Verständnis vom Miteinander versenkt haben. Der Autor Precht weist unter anderem darauf hin, ein bundesdeutscher Minister der Sechziger habe davor gewarnt oder abgeraten, Kinder aus fremden Kulturkreisen zu adoptieren. Mit Vehemenz entgegnet der damalige Adoptivvater: Was für ein dummer Satz! Ein Kind, das noch nicht einmal eine Sprache spräche, gehöre keinem Kulturkreis an. Und genau so verhält es sich: Wer seinen Nachwuchs von klein an mit dem impft, was man ihm selbst bereits ins Gehirn implantiert hat, der schafft eben jene Kulturismen, die zu diesen immer wieder aktualisierten Auseinandersetzungen führen. Würde Bildung als das verstanden, was ich (und andere) darunter verstehe, von wieder anderen jedoch schamlos als raschere Integration in den Wirtschaftsverwertungskreislauf auf den Kopf gestellt wird, bildete sich ein Unterscheidungsvermögen heran, das auch in Intellektualisierung genannt werden kann oder darf, würde mit dem Schmuddelkinder-Problem aufgeräumt. Es würde hinfällig von diesem Augenblick an, in dem der eine Mensch dem anderen die Achtung zukommen ließe, die ihm gebührt. Dann wäre ein Schulsprengel wie das andere. Dazu muß man, ob jünger oder älter, nicht unbedingt Kommunist sein — gleichwohl der Begriff an sich ja abgeleitet ist von Gemeinsamkeit, egal ob Kibbuz, Kindergarten, meinetwegen auch Kirche oder eben großstädtische Kommune.
Über alles in der Welt
(Postpost-)Moderne Zeiten Mit einiger Verblüffung nahm ich dieser Tage via Ich schau TeVau zur Kenntnis, ein Zulieferer der Kraftfahrzeugindustrie habe sämtliche Roboter nicht nur aus der Produktion, sondern überhaupt aus allem verbannt, was auch von Menschen geschaffen werden kann. Der Hauptgrund für diese Maßnahme sei, so der Fabrikant, der dennoch ein bißchen wie ein golfschlägerschwingender Manager aussah (ich trenne mich ungern von meinen Vorurteilen), die Unzuverlässigkeit dieses ganzen Digitalkrams. Die Störungen und damit letztendlich die Kosten hätten überhand genommen. Nun wuseln da in der Fabrikhalle allüberall Menschen und handfertigen mehr oder minder lächelnd jene Teile, die zuvor in Windeseile von digitalgesteuerten Maschinen produziert worden waren. Wie in modernen Zeiten fahren (wenngleich qualmfreie) Bähnchen mit menschlichen Lokführern durch die Fertigungsstraßen, nehmen auf, liefern ab. Ein entsprechendes Hinweissystem wurde entworfen, mittels gestanzter oder gedruckter Buchstaben. Überhaupt ist alles beinahe eindimensional systematisiert, farblich unterschiedliche Kärtchen zeigen Bedarf und Erledigtes, An- oder Abwesenheit an. Es funktioniere alles prächtig, meinte der Direktor, der sich nicht Manager nannte und äußerlich dennoch ein wenig dem ähnelte, der immer so (Achtung: handelsblattlerische Werbeeinblendung) wie frisch eigepellt durch seine hochherzöglich anmutenden Plattifundien hubschraubert, aber trotzdem seit eh und je abwegig Wirtschaftswunderliches zum besten gibt, der guten Auftragslage werde man problemloser Herr als zu digitalen Zeiten. Es holt mir Marseille in die Gedankenverbindung. Da gibt es tatsächlich Menschen, die an Bushaltestellen stehend darauf warten, anderen Menschen behilflich zu sein, und sei es, ihnen Luft zuzufächeln, wenn der Bordcomputer der Klimaalage mal wieder den Garaus gemacht hat. Und dabei eben nicht verkaufsgeschult lächeln. Wobei ich nun nicht wirklich weiß, ob die Herren Direktoren ihre Manufakturierenden so miserabel entlohnen, wie das der Standort Deutschland erfordert, wollen sie konkurrenzfähig bleiben gegenüber den Billigheimermächten des Ostens und weiterhin den Beweis erbringen, nur am Lohnmodell Deutschland könne Nun ja, Bewußtsein oder -werdung ist ziemlich anstrengend. Vor allem zur Bequemlichkeit neigende, gern älter genannte Menschen seien es, die zwar durchaus an der digitalen Welt teilhätten und auch daran -nähmen, sich aber schlicht weigerten, ein dreihundert Seiten dickes, aus dem Koreachinesischen übersetztes Betriebanleitungshandbuch zu lesen, um dann wenigstens telephonieren zu können. Diese ganzen Apps würden sie nur down machen, auch hätten sie keinerlei Spaß daran, kostenpflichtige Wochenendseminare zu belegen, in denen man ihnen das Einlegen von Beuteln in Staubsauger oder Kartuschen in Drucker beibrächte oder das Ingangsetzen eines Digitalomobils. Bei letzterem hatten sogar Studenten (selbstverständlich auch -Innen) einer Arbeitsgruppe der Fachhochschule Pforzheim angegeben, etwa einen Tag zu benötigen, um das problemfreie Funktionieren quasi begriffen zu haben. Schließlich soll ein Auto nicht nur fahren. Bekanntlich navigiert sich's über viele Wege in den römischen Stillstand. Hat das Älterwerden letztendlich doch mit Weisheit zu tun? Ich habe mein Mobiltelephon bereits vor einiger Zeit auf die Verkaufshalde des Elektronikmülls gelegt und den seit rund zwanzig Jahren bestehendenden Vertrag mittlerweile sogar gekündigt. Ich fahre jetzt einfach hin, ohne vorher anzurufen. Und photographieren konnte ich damit ohnehin nicht. Der Herr über Mumien, Analphabeten und Diebe scheint auf dem einzig richtigen Weg zu sein. Zumindest arbeitet er daran. Und vermutlich nicht erst, seit er die sarrazynische Gedankenwelt zur Kenntnis genommen hat, in der in Kürze alles früher einmal rein gewesene Deutsche vom Multikulti abgeschafft wird — und dabei auch noch zunehmend vergreist.
Als ein gesellschaftliches Problem erscheint mir zunächst, geschildert hier oder dort, ach, allerorten, daß alles in trockenen Tüchern schien. Alles ging seinen recht- und damit ordnungsgemäßen Gang. Es wäre nicht das erste Mal, daß Pläne, Planungen, Bauvorhaben et cetera in irgendwelchen Kellern (fern) der Öffentlichkeit präsentiert worden wären. Und auch hier unterlag offensichtlich alles (mehr oder minder) dem parlamentarischen und damit juristisch einwandfreien Procedere. Dafür oder auch dagegen an- oder vorzugehen ist die ausführende Gewalt Polizei nun aufgefordert, und die tut nun das, wie ihr von oben, ihrem Arbeitgeber, letztendlich der Bundesrepublik Deutschland, befohlen. Inwieweit solche Maßnahmen erforderlich, gegebenenfalls notwendig oder irgendwelchen Hier-oder-da-Demonstrationen zuträglich sind, das steht auf einem anderen, durchaus auch von den Medien mit zu verantwortenden politischen Blatt Aber festzustellen ist: Da haben ein paar Menschen etwas arg vertrödelt. Möglicherweise unter anderem diejenigen, die nun laut und stark tuend dagegen sind und sich (sowie andere) dabei sogar in die (populäre) Forderung nach einem Volksentscheid stürzen. Zur aktiv gelebten Demokratie, also neuerer Zeit, nenne ich deren Beginn mal die späten sechziger und deren Inkraftreten die achtziger Jahre, gehört auch, über aktuelle Verfahren informiert zu sein. Zumindest für Menschen, die ohnehin teilnehmen an den politischen Geschehnissen. Und das dürften nicht wenige sein unter denjenigen, die nun so tun, als ob das alles gottgesandt sei, also aus (un-)heiterem Himmel käme. Ich mißbillige die Ereignisse in Stuttgart. Schrecklich finde ich sie. In jeder Hin- oder Ansicht. Aber ich kann diese unsäglichen (Ver-)Pennereien ebensowenig ausstehen, die solche gesellschaftlchen Zustände erst herbeiführen. Meine Vorstellung von aktiver Demokratie ist diejenige, eine solche Politik erst gar nicht in ihr Amt zu wählen, zumindest dann auf die Straße zu gehen, bevor Gesetze — möglicherweise gar an darüberstehenden Gremien vorbei — in Kraft getreten werden. Also, das war's von meiner Seite aus mal wieder spät am Abend und überhaupt politisch. Ich ziehe mich zurück auf den 14. Juli.
Kultur(an)schaffende Kulturwirtschaft. Sollte es sich dabei um jenes Etablissement handeln, in das Monsieur Salis im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts die kleinen Künste holte und das fortan Cabaret genannt werden sollte — wenn also die Kultur in die Wirtschaft (ins Wirtshaus, den Gasthof) geht? Nein. Mir scheint es eher eine dieser Kuriositäten zu sein, die die ökonomische Entwicklung seit den neunziger Jahren in Umlauf brachte und der durchaus eine kabarettreife Nuance anhängt. Da die wirtschaftlichen Nöte des Bundes der Kunst in Ländern und Kommunen Luft und Licht nehmen, müssen ausgerechnet diejenigen das Büßergewand anlegen, denen die Mißwirtschaft eher nicht anzulasten ist, und in die obersten Etagen der Wohlstandskathedralen pilgern, auf daß deren Päpste der Kultur finanziellen Odem einhauchen. — Es hat schon etwas Demütigendes, wenn, wie einstmals, Uwe M. Schneede als Museumsdirektor der Stadt mit dem höchsten europäischen Steueraufkommen sich das Geld für Heizung und Personalkosten seines Neubaus gegenüber dem Jungfernstieg — laut Journalisten-Prosa «Louvre des Nordens» — nicht ohne Mühe bei jenen Pfeffersäcken zusammenschnorren muß, deren weiter Kunsthorizont gerne bei Horst Janssens Landlieblichkeiten beginnt und sogleich endet. Drastisch hat dieses allfällige Problem Eduard Beaucamp in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung seinerzeit beschrieben: Die Kulturpolitiker verstießen ihre «Lieblingskinder», die riesigen neuen Museumspaläste, und schickten sie auf «die Straße zum ‹Anschaffen›». Da bleibt nur zu hoffen, daß die «privaten» Gelder, die die Fundamente der neuen Pinakotheken der Moderne und ähnlicher Architekturen bilden, auch dann weiter fließen, wenn Kunst und Kultur Einzug gehalten haben. Denn sonst dürfte Isar-Athen, quasi als geographischer Gegenpol zum hanseatischen, bald über den südlichsten hohlen BRD-Zahn der Kunst verfügen. Nun liegt es aber auch in der Natur der Sache, wenn Handel und Industrie erwirtschaftete Gelder wieder in den Kultur-Kreislauf bringen. Das zielt nicht unbedingt auf die Milliarden, nein: Billionen Mark, die in Stiftungen geflossen sind und fließen werden. Mit ihrer Hilfe ist seit Jahrzehnten so manches Kleinod gerettet, so manches kulturelle Projekt auf den Weg gebracht worden. Und Sponsoring hat bisweilen auch außerhalb der Sport-Arenen Wirkung gezeigt, und sei es, daß der Künstler mal wieder die rückständige Miete hatte überweisen können. Das ist schließlich entscheidend: die Künste als Wirtschaftsfaktor. Galerien, Museen wollen geplant, gebaut, mit den ihr eigenen Inhalten ausgestattet werden. Hier verdient die Architektin, der Handwerker, die Künstlerin, der Spediteur, der Rahmenhändler, die Messegesellschaft, der Kritiker, die Graphikerin, die Werbeagentur, der Zeitschriften- ebenso wie der Kunst- und der Getränkehandel. Und wer Geld verdient, zahlt Steuern. Eben diese Tatsache darf den Fiskus nicht aus der Pflicht entlassen, die nach dem bundesrepublikanischen politischen System und dessen Gesetzesgrundlage Verantwortung oder auch Verpflichtung heißt (in anderen «vorbildlichen» Staaten überläßt man solches gerne denen, die stärker als der Staat sind). Denn je mehr die Wirtschaft sich solistisch oder auch dirigistisch ins finanzielle Kulturgeschirr legen darf, um so drastischer steigt die Gefahr, daß sie alleine zum Zugochsen wird — der dann immerfort auf das ewig alte Scheunentor zusteuert. «In der Kultur», schrieb Eduard Beaucamp, «dürfen Marktregeln, Wachstumsgesetze, Konkurrenzen nie die Oberhand gewinnen. Sonst zerstören sie — die Politiker — zwangsläufig das, was sie pflegen wollen: die Kunst.» Eine ältere Randbemerkung, von 1998, dem Jahr, nach dem die Löhne sinken sollten, erschienen in einer Kunstzeitschrift, hier jedoch leicht verändert. Den alten Beutel neu aufzugießen, darauf hat mich der längst zur Instititution gewordene Olaf gebracht, der mir endlich korrigierend erklärt, weshalb aus der Kultur eine Wirtschaft geworden ist. Photographie: frankartculinary CC
Legendenenden Zwei mehr oder minder legendäre (Bild): Fernsehanstalten kamen am Wochende ihrem Bildungsauftrag nach. Der Sender aus Hauptstadt und Brandenburg ging grenzüberschreitend vor und funkte ins Hoheitsgebiet des parallel ausstrahlenden norddeutschen den nahe des eher als lustiger Dom bekannten Heiliggeistfeldes statt-findenden Tag der Legenden. Es war tatsächlich legendär. Frau Braggelmann wurde im Stadion am Millerntor von einer Kamera erfaßt. Hanseatisch-anglophil wie sie nunmal ist, trug sie gleich den Damen beim Derby südlich von Windsor einen dieser legendären Hüte. Dabei hatte auch sie sich obenrum dem Ereignis angepaßt: Das auf ihrem Kopf plazierte Euter glich einem Bündel an Bratwürsten. Sie hingen ein wenig, wie die bierlichen Bäuche der sich jeweils fünf bis sechs Minuten über den Jungrasen rettenden Legenden. Die Legende vom Heiligen Pauli wurde bei dieser Gelegenheit gleich ein wenig mit überschrieben. Was manch einem mit älteren Rechten offenbar nicht sonderlich behagte. Wie mir zugetragen wurde, sollen sich sogar einstmals hartnäckige Paulianer von ihrem Verein abgewandt haben und in die Nachbarschaft zu Altona 93 übergelaufen sein. Sogenannte VIP-Lounges in der neuen Hall of Fame des Sponsorings, das ertrugen sie nicht. Dem sportlichen Geld war offenbar auch vorm Millerntor nicht Einhalt zu gebieten. Wie es zuvor bereits das Schanzen-Viertel erobert hat. Für ihr Eintreten für informationelle Fremdbestimmung einschlägig bekannte Neuigkeitensender verkündeten deshalb wohl am Vortag per Dauerlaufbandmeldung: Krawall! Randale! Straßenschlacht! Und wer ist schuld? Ich. Mit meiner früheren, nicht minder legendären Sucht, mit der ich einmal zur (gleichwohl leicht hinterhinkenden) Avantgarde gehörte, zu denen, die das Ende des Antikonsumismus zwar nicht unbedingt einläuteten, es aber als wahrhaftige Glückseligkeit priesen. Die legendäre Jugend hat Tücken, vor allem, wenn sie mit Mitte vierzig so langsam ihr Ende zu finden scheint. Auf dem die Rote Zora umgebenden, mittlerweile prachtvoll dahinsiechenden Schlachtfeld, das seit Anfang der Neunziger langsam und ab deren Mitte immer heftiger von den Jungen Kreativen in Beschlag genommen wurde, gab es im Schanzen-Viertel, dem der seinerzeit ebenfalls in München ansässige, aber das Quartier gut kennende Autor in seinem polyglott-konnotierenden Einfallsreichtum den nachgerade idealen Werbe-Spott «Chancen-Viertel» (Chance = Glück, Zufall; Herbert Achternbusch: Du hast keine Chance, aber nutze sie.) geschenkt hat, eine Halle enormen Ausmaßes, vor der die Hamburger Freundin immerzu gewarnt hatte: Geh da nicht hinein! Das ist für dich äußerst gefährlich! Dort bist du extrem gefährdet! Doch es heißt ja Chancen-Viertel, weshalb man es verständlicherweise immer wieder aufsucht, wenn man auf der Suche ist nach dem ultimativen Glückskeks, kreiert von den konsumgestalterisch erfindungsreichen Freunden jenseits des Atlantiks. Und auf der in der Kaffee- und Teestadt abseits des Kaufrausch nachgerade ungeheuerlich schwierigen Suche nach einem die beinahe mediterrane Luft stützenden Espresso winkte dann eine. Eine Fahne, auf der zwar filigranlettrig, aber weithin lesbar Café geschrieben stand. Unglücklicherweise wehte die Chancen-Fahne genau von eben diesem Gebäude her, das ich meiden sollte. Aber der Espresso war nunmal einer, der die ohnehin menschenfreundliche Nordmetropole noch näher an ihre Schwesterstadt Marseille heranrückte, sie noch ein bißchen südlicher machte (wenn’s dort auch auch bißchen eher nördlich-nieselig frisch ist dann im Winter, wie ich später feststellen sollte). Mittlerweile kenne ich als Ein- und Anwohner des Hanseatischen auch andere Stehausschänke; in einem der besten in Zeitnähe kann man sogar sitzen. Aber damals habe ich sehr lange suchen müssen nach Maurizio Molinari. Nein, nicht der La Stampa-Korrespondent in New York oder der Psychiater in Basel, sondern der Italienisch-Lehrer aus Rom, der schlicht und ergreifend den wohlschmeckendsten Café außerhalb Neapels zubereitete, und der ihn portionierte wie an der Südküste: nicht mehr als einen heißen Schluck, einem Conjäckchen gleich, nicht, wie üblich in der vollintegrierten deutsch-italienischen Philosophie des viel und billig: das Täßchen gefüllt, bis das Untertellerchen der Oberflächenspannung wegen dem Untergang gleicht. Deshalb mußte ich hinein, in diesen KaffeeKulturBazar, und nur deshalb. Aber, ein Stück des Wegs dorthin führte den Blick über diese Halle. Alles war geradezu ungeheuerlich preiswert. Chancen, die man sonst nie wieder geboten bekommt. Also: Messer gekauft. Messer braucht braucht man immer. Zumal man immer noch eines findet, das besser in der Hand liegt als die vielen anderen, die kaum benutzt in der Schublade herumliegen. Weinpumpe, nein, gleich zwei, denn eine könnte ja, man weiß ja heutzutage nie, schon bald defekt sein. Ein Spitzsieb, eine Passiermühle. Die alte ist vom vielen tatenlosen Herumhängen schon ganz angelaufen. Wunderschöne Geschirrhandtücher! Auch die soll man der vielen Bakterien wegen ja täglich mehrmals wechseln. Und außerdem kann man die alten, deren Kauf ja auch schon acht Wochen zurückliegt, schlecht für die ebenfalls dort frisch erstandenen Chianti-Gläser hernehmen. Sie würden zwar ohnehin nie benutzt werden, da ich italienischen Roten nur trinke, wenn er aus dem Piemont kommt, also dialektisch irgendwie francoprovençal schmeckt. Aber dennoch hieße es, ihnen den Stil zu brechen. Und einen traumhaften sechsflammigen Gasherd, für den Fall, daß es endlich soweit sein würde mit dem Umzug in die entzückende, knapp vierzig Quadratmeter riesige Wohnung im Cours Belsunce. Er war ein Ausbund an Ästhetik, wie die feinen Stil liebende Friseuse zu sagen pflegt, sozusagen die Inkarnation davon. (André Glucksmann — der als Frontier der Kulturnation schlechthin es ja wissen muß — hat festgestellt, die Italiener seien für die Schönheit zuständig. Weshalb man in Frankreich so etwas auch nur importieren kann.) Vorerst würde er eben in die Garage gestellt werden, der Herd (wie die ebenfalls hinzugekommene Kupferedelstahltopfkollektion). In der Wohnung gab es zwar keinen Gasanschluß, aber Veränderungen kommen schließlich häufig unerwartet. Das Auto muß allerdings kürzer werden. Machte nichts, es wurde ohnehin unfein, mit so einer so schrecklich großvolumigen Voiture den Stadtraum zu reduzieren, und überdies war er schon anderthalb Jahre alt, so daß seine Abwrackstunde sich abzeichnete. Aber damals kriegte man dort noch einen Parkplatz vorm Cucinaria, vor dem Café mit dem wirklich guten Espresso. Jedenfalls war das mal so, als ich noch kaufberauscht durchs Leben flog. Doch mittlerweile ist sogar mein Küchentempel vertrieben worden aus dem Chancen-Viertel. Die Jugend ist zuende. Photographie: findustrip — Ende der Legende
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