Erinnerungsinseln

Photographie: Chodaboy CC


«Was ist das für ein Land, das den anbrechenden Übergang zur Demokratie mit einem Bildersturm beginnt?» fragte Wladimir Miljutenko, als die Denkmale von den Sockeln gerissen wurden.

Und der frühere Chefredakteur von Sowjetunion heute fügte an, in vielen Ländern stünden die Monumente verschiedener politischer Regime und Perioden nach wie vor, in Paris riefe niemand dazu auf, die Place Stalingrad umzubenennen: «In Rom zeigt man den Besuchern außer dem Kolosseum und dem Forum den Stadtbezirk mit der sogenannten faschistischen Architektur, Gebäude einer steingewordenen Parodie auf die Antike. Jeder versteht sofort den Unterschied zwischen Benito Mussolini und Augustus.»

Helmut Bucher schrieb in dieser Zeit: «Genosse Uljanow, es soll dir auch nicht bitter aufstoßen, daß Leute wie Bismarck oder Hindenburg oder die unseligen Hohenzollern hier weiterhin verewigt bleiben und sogar der Schicklgruber fröhliche Urständ' feiert, während deinesgleichen verdammt werden.»

In seinem 1991 gesendeten Rundfunkbeitrag erinnerte Hans-Ernst Mittig daran: «Zur Zeit wird in Koblenz sogar ein Denkmal für Kaiser Wilhelm I. wiedererichtet, der die letzten demokratischen Aufständischen von 1848/49 in Rastatt hatte zusammenschießen lassen.»

Kunstwerk oder nicht Kunstwerk, das ist nicht die Frage dieser Erinnerungsinsel, sondern: Revolutionärer oder restaurativer Bildersturm? Weil der Tenor ein ganz anderer ist, weil die vielfach in die, auch politische (sic!), Diskussion eingebrachte Frage, ob's denn nun Kunst sei oder nicht, darin eher peripher behandelt wird, weil es vielmehr darum geht, was Wladimir Miljutenko mit «Wir dürfen nicht geschichtslos werden» überschrieben hat.

«Hier ging es nicht um den Abriß von Kunstwerken», so Robert Halbach in Demontage ..., «hier wurde tatkräftig mit einer Ideologie abgerechnet.» Halbach, einer von dreiunddreißig Autorinnen und Autoren, die sich in dieser Dokumentation mit der Denkmalstürmerei in der ehemaligen DDR und anderen sozialistischen Staaten auseinandersetzen, sieht im Fall des geköpften Friedrichshainer Lenins «eine Form des rituellen Mordes» und verbindet dies mit dem Erfurter Vorfall, bei dem, sozusagen im Gegenzug, dem Christentum gegenüber nicht eben Wohlgesonnene eine Jesus-Statue vom Kreuz gerissen hatten. «Köpft ihr unseren Lenin, reißen wir euren Christus vom Kreuz», auf diese Formel bringt er, nicht ohne Bitterkeit, der Gegenradikalen Stimmen.

Ute Raßloff geht noch einen Schritt weiter, indem sie die Abrißwut, von der offensichtlich mehr die Politiker denn die breite Bevölkerung befallen sind, «eine Art neuzeitliche Inquisition» nennt. Ihrer Meinung nach ist es «möglich», diese massenweise im Osten herumstehenden mehr oder minder monströsen Gebilde «als Objekte der bildenden Kunst zu betrachten», denn: «Die bildende Kunst blieb bis in die Neuzeit, bis in unsere Gegenwart hinein Zutat eines (religiösen) kopierfähigen Rituals und damit Hilfsmittel einer ideologischen Indoktrination ...»

Daß es von historischer Bedeutung sei, die Zeit der totalitären Systeme nicht nur in Büchern zu reflektieren, sondern durchaus beispielsweise in Bildnissen von Lenin, dessen Philosophie pervertiert wurde von den Stalins, Ulbrichts und Honeckers, oder aber mit seinem Denkmal als Wächter gegen seine eigene Wiederkehr zu operieren, dafür wird in Demontage ... plädiert.

Auch Lenins Lager des Künstlers und Kunsthistorikers Rudolf Herz weist darauf hin. Sein im Buch aufgegangenes Projekt ist eine «ketzerische Kritik an den staatspolitischen Aufarbeitungsritualen nach dem Fall der DDR, ein anstößiges Erinnerungsstück mit politischen und ästhetischen Reibungsflächen ...» Ausgangspunkt war: «Die Dresdener Stadtverordneten haben am 3. September 1991 entschieden, ihr unliebsam gewordenes Lenin-Denkmal aus dem Stadtbild zu entfernen und zu verschenken. Die Folgen der Säuberungsaktion sind evident. Das geschmähte Denkmal wird dem Blick entzogen, ein Ausgangspunkt für kontroverse Diskurse über die jüngste Vergangenheit ist beseitigt.»

Von «Erinnerungsinseln», etwa beim Münchner Abel-Plan, wurde in der westlichen Zeit nach dem zweiten Weltkrieg gesprochen, als es um den öffentlichen Raum in den Städten ging. Damit sollte auch denkmalerisch Geschichtsschreibung betrieben werden. Aber die Deutschen wollen lieber ihren alten Kaiser Willem wiederhaben. Nur noch Älteres mögen sie noch lieber, ob das nun echt oder falsch ist, das ist ihnen dann egal. Gut ausschauen sollte es eben, die Blicke auf häßlichen Vergangenheiten verstellen.


Ursprünglich verfaßt für Orte. Zeitschrift für Plastik — und hier aufpoliert wieder aufgestellt, da es kaum noch Erinnerungsinseln gibt, auf die man sich retten könnte. Ausgelöst wurde die Wiederaufstellung durch eine gestern verfolgte TV-Diskussion, in der unter anderem einmal mehr versucht wurde, der Idee eine möglichst tiefe, nicht mehr sichtbare Grabstätte zu errichten, Sozialismus oder schlicht Sozialdemokratie und Wohlstand für alle sei eine conditio sine qua non.
 
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Heiliges Compostela des Nichtsnutzigen

Das ist zwar ein Schwedenhaus, aber andere Schweden haben auch schöne Häuschen.

Eigentlich gehört das eher hier hinein. Aber da ich werbe- oder PR-technisch kein sonderlich geschickter oder gar konsequenter Threader bin und weiß, daß bei mir ein in den Kommentaren verborgenes Thema auch schonmal gänzlich untergeht, postere ich's ans ohnehin für Apokalypsen vorgesehene Eingangsportal.


Daß er nicht ganz kosher ist, das ist mir seit langem bewußt. Womit ich nicht alleine auf seine gar nicht komische denkerische Vergangenheit anspiele, so, wie der Teppichbeißer eben überhaupt nicht lustig war; auch wenn man uns das seit einiger Zeit beharrlich zu vermitteln trachtet, unter anderem von französisch übermenschelnder oder auch (nicht romantikblau-, sondern) mehr koranblumiger Autorenseite. Daß der alte Schwede seit langem in der Schweiz auf seinem dort fiskalisch maximal reduzierten Geld sitzt, weil er keinerlei Gelüste verspürte, seine geradezu gigantischen Gewinne an die Infrastrukturen anzugleichen, die auch für ihn, aber von anderen Schweden bezahlt wurden (sogar die einst bitter klagende Mutter von Pippi Langstrumpf zahlte brav im Land; und das ist nicht einmal ein gerechter Vergleich), das war mir schon lange bekannt. Ebenso weiß ich seit längerem um seine Stiftungen, in denen er das schier unglaublich viele Geld bunkert, das er mit einer Qualität verdient hat und weiterhin verdient, die nur «funktioniert», weil das Denken vieler Menschen nicht funktioniert.

Ich weiß, wovon ich rede, gehörte in der Mitte der siebziger Jahre doch eine zu dieser Zeit noch nicht ganz so hohen Firmenhierarchie ein wenig weiter oben angesiedelte Dame zu meinem engeren Bekanntenkreis, aus dem sich hin und wieder zarte freundschaftliche Bande bildeten. Interessanter- oder auch bezeichnenderweise lernte ich sie kennen, nachdem ich gegen diesen barbarischen Wikinger ins Feld gezogen war. Wer sich nicht wehrt, lautete seinerzeit die Devise, lebt verkehrt. Aber da gab es auch noch nicht so viele Fernsehredaktionen, aus denen es wegen der Suche nach den Quoten permanent hinausposaunt: Hier werden Sie geholfen. Da ich damals noch zu den etwas geringfügiger Besserverdienenden zählte, sah ich mich gezwungen, ein seinerzeit tatsächlich noch preiswertes oder auch schlicht billiges Regalteil zu kaufen. Allerdings tat ich das nicht, ohne mich zuvor schriftlich (man hatte noch die Zeit und damit auch eine gewisse Sicherheit) zu vergewissern, daß ich Anschluß fände für den wahrscheinlichen Fall, überbrächte mir der Briefträger das nächste Honorar (ja, früher gab es so etwas mal). Als es zwei Wochen danach soweit war und ich guten Mutes ins erste deutsche, 1974 eröffnete schwedische Möbelparadies, also nach E(l)ching pilgerte (heutzutage gibt es ja kaum zählbare San Compostelas des Nichtsnutzigen, und die massenhaften Frommen werden in Bussen auf kommu- sowie regionalen Jakobswegen dorthin gekarrt), um mich regaltechnisch zu erweitern, teilte mir, der ich ans damals übliche Duzen eigentlich gewohnt gewesen wäre, eine Informationsstandsprecherin kurz angebunden mit: Sie, das ist ausverkauft, nicht mehr lieferbar. Es war es dann doch. Jedoch auch erst, als ich ein wenig Barrikadenerprobter denen auf die Zinnen gestiegen war. Seither habe ich auf weitere dieser hölzernen Minderqualitäten verzichtet, nicht zuletzt deshalb, da sich ein schwedischer (!) Hersteller anbot, der fein verarbeitetes Holz in einem letztlich günstigeren Preis-Leistungs-Verhältnis produzierte, auch noch maß- und passergerecht in die Wohnung lieferte und technisch abseitige Verrenkungen obendrein nicht vonnöten waren. Für die Umzüge in den richtigen Süden sowie nach leicht südlich von Schweden kaufte ich zwanzig Jahre später nach, das System war unverändert, und auch nach sieben Jahren leuchtet das Holz wie frisch verarbeitet (links), es sieht nicht aus und stinkt auch nicht wie finkel brännvin, bekannter als gammal Akvavit aus schwedisch kolonialen Chemiebrutstätten in China. Die alten, nach wie vor nach Holz riechenden Regale sind mehrfach umgezogen, teilweise über sehr weite Entfernungen, und immer noch erfreue ich mich ihrer. Veränderung erfuhren sie allenfalls über eine reizvolle Patina, die sich zudem hervorragend an die hundert Jahre alte Handarbeit angleicht.

Die später zur Freundin gewordene Dame war es auch, die mir damals schon ausführlich begründet vom Erwerb der Produkte aus den (un-)schwedischen Manufakturen abriet, da sie mit meinen Vorstellungen von Qualität, auch denen von menschlicher Gesellschaft nicht konvenierten. Dazu gehöre auch, daß der Herr alles andere sei als das damals bereits von ihm in die Öffentlichkeit projizierte und bald allüberall leuchtende (Vor-)Bild: der sich väterlich gebende, sich immer wohlgesetzt jovial und auch etwas tröstlich-bescheiden gerierende Familienunternehmer. So neu waren die 2009 ausgebenen Verlautbarungen des Herrn Stenebo (Spiegel) für mich also nicht unbedingt, eher einer gewissen Logik folgend, Rachsucht und Widerruf hin oder her; die mögen eine Rolle spielen, sind letzten Endes aber doch nur Randfiguren dieses dramatischen Geschehens, das, wie üblich beim Theater, kaum jemanden ernsthaft interessiert. Denn vor dieser schwedischen Bühne fühlt der Mensch sich geborgen.

Gestern nun erreichte mich die Information, daß zum einen die Gelder über mehrere, in den Niederlanden angesiedelten Stiftungen über vielfache wundersame Umwege in einem nicht minder wunderbaren, nahezu steuerfreien Karibik-Staat landen. Und zum anderen die Vermutung, der reichste Schweiz-Siedler könnte die etwa sechsunddreißig Milliarden Dollar möglicherweise doch nicht gänzlich sozialen oder vielleicht kulturellen Zwecken zuführen. Kontrollierbar ist dieses Geflecht nicht, da es sich nicht etwa um eine Aktiengesellschaft, sondern um eine gemeinnützige Stiftung handelt, die keiner Pflicht unterliegt, Zahlen zu veröffentlichen. Zu derart altruistischen Anflügen, denen andere Dagoberte unterliegen, scheint der Wikinger sich ohnehin nicht unbedingt hingezogen zu fühlen, auch wenn er gerne den Anschein erweckt, auch den, im Altersschaukelstuhl gewiegt zu werden und die Söhne arbeiten zu lassen. Doch das alleine müßte sich nicht weiter störend auswirken. Reichtum verpflichtet schließlich längst nicht mehr jedermann, wie auch jederfrau mittlerweile weiß. Daß aber alle, die Fiskalisches leisten, ihm auch noch beim Baden im Geldhaufen behilflich sein müssen, das läßt mich dann doch ein wenig die Contenance verlieren. In zunehmendem Maß beschäftigt er nämlich Mitarbeiter, die am Monatsende dann soviel oder auch sowenig im Täschchen haben, daß sie, um (über)leben zu können, aus dem mit Steuergeldern gefüllten Hartzer Käsetopf bezuschußt werden müssen. Von fünfzehn Prozent sogenannt ausgeliehenen Kräften spricht der eine, von fünfundzwanzig oder gar mehr der andere. Der schwedische Schweizer oder andersrum läßt seine Sprecher sprechen, das träfe nicht zu. Ohnehin würde die nicht in den sozialen Ofen gesteckte Kohle zum Beheizen der eigenen Betriebe verfeuert. Wieder andere, die sich aus Angst vor Kälte am Arbeitsplatz oder gar dessen Verlust nicht getrauen, beim (Aus-)Sagen ihr Gesicht zu zeigen, behaupten, es sei alles noch viel schlimmer in der lieben weltweiten schwedischen Großkonzernfamilie, die China noch reicher oder, je nach Perspektive, auch ärmer macht.

Konsequenterweise sollte ich die dann während meiner Reisebegleitungen doch noch erstandenen und bei mir herumstehenden zwei, drei Dinge (eine andere Bezeichnung als dieses auch sprachliche Armutzeugnis verdienen sie nicht) nun dorthin befördern, wo sie in jeder Hinsicht hingehören: auf den (Sonder-)Müll. Das formal wie funktionell gelungene Höckerchen, das allerdiings gebe ich nicht mehr her. Es war aber auch, nachdem mir das jemand Mitte der Neunziger mitgebracht hatte, ganz bald wieder aus dem Sortiment genommen worden. Vermutlich, weil es zu langlebig war (die Hubtechnik funktioniert noch immer). Oder müßte ich jetzt schreiben: nachhaltig? Das mir von der immerwährend erneuerungsbedürftigen Nachwuchswissenschaftlerin überlassene, wenige Jährchen junge CD-Türmchen jedenfalls neigt sich wie das gebildete Vorbild PISA längst bedenklich dem Zusammenbruch entgegen. Während die von Tischlern gebaute Arbeitsplatte vermutlich meine vielen Enkel samt deren Kinder und Kindeskinder überdauern wird. Wie die Lampe aus der Bauhauszeit, in der man noch nicht geschichtsverklärend an Manufaktereien dachte.


 
Fr, 13.08.2010 |  link | (5931) | 15 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 

Der Teufel ist tot.

Aber schon lange. Deshalb sei hier echtes public viewing betrieben, möge der Zug noch einmal trauern.

Photographie: LearningTour


Das waren Zeiten. Als der Rote Dany in Paris von den Barrikaden stieg und die Partyfront entdeckte. Als Gerd Zumbier, von Rudolf Krämer-Badoni in seinem Erstling Gleichung mit einer Unbekannten als ein neuer Zwerenz entlarvt, sozialistische Heilslehren verbreitete, in Sozio-Chinesisch, jener in der Zeit gängige Sprache der In-crowd. Als der Gastgeber noch ein Kribbeln unterm Gürtel wahrnahm, wenn so ein Rasputin-Typ an die Gattin Hand anlegte. Das waren noch Zeiten.

Heute, als der Salon-Linke klingelte, riß sie die Tür und dann ihren Mund auf: Da stand er. Der damals (damals ...) so ausgesehen hatte wie heute Bernard-Henri Lévy, der Noveau Philosophe, kernig die Faust in den sozialistischen Himmel gereckt. Er hatte gegrüßt als Voll-Sozi und die Party-Gäste mit seinem angeheitert geschmetterten Völker, höret die Signale zum Erschaudern gebracht. Und alle hatten applaudiert und waren ehrfurchtsvoll näher gerutscht und hatten ihn erwartungsvoll umringt: der Melierte, der in Investment machte, oder der Gatte, der die Pfirsichhaut seiner Ärztin-Buhle rühmte und ihr Courèges-Modelle finanzierte. Die beflissene Waschmittelfabrikanten-Gattin, die sich einen Namen als Kunstmäzenin schuf.

Jetzt ist das Fest in vollem Gange. Die Ärztin-Buhle, im blaßrosa Chiffonkleid, präsentiert ungefragt die vom Gatten geschenkte hochkarätige Décolleté-Umrahmung. Nicht einmal der Sozi-Zahn von damals, die Abschreibungshai-Tochter, hängt sich an seinen Arm. So muß er sich reinschleichen. Am offenen Mund vorbei, ungeladen! Nicht leger: im Smoking mischt er sich unter Neuankömmlinge. Und keiner lobt den Witz, daß er ein T-shirt mit der Aufschrift FADED GLORY dazu trägt.

So flapsig wie unter diesen Umständen möglich, wirft er seine Begrüßungsformel in den Raum: Guten Abend — anstatt Freundschaft! Man hat ihn entmythologisiert, nicht empfangen. Das Comeback bleibt aus — er muß Anschluß suchen. Viel Wahl hat er nicht. Er trifft passionierte Drachensegler, einen Kokain-Messias oder den Forschen, der nach dem starken Mann schreit: «Die ganze Wirtschaftsführung wird ja noch gekidnappt. Nennen Sie das eine wehrhafte Demokratie?» Derart weise angesprochen, kann der Ungeladene nur noch schlaff abnicken.

So dreht er sich weg, in die Ecke dort, läßt sich mächtig angewidert in den Sessel fallen, wo er — ein Glas abgestandenen Moët & Chandon in der Linken — seine letzte Stunde konstatiert.

Noch einmal rafft er sich auf und erwägt einen Smalltalk über Pilgrim. Aber die paar Frauen, eingekreist von opernerfahrenen Golfspielern und Biorhythmikern, reden über Fests Hitler-Film und sehen aus, als hätte man sie nur eingeladen, weil sie keine Videokameras oder 12-Millimeter-Wummen mit sich führen. Die allenfalls noch vom Butt reden — wenn überhaupt, wenn sie nicht zu Hause sowieso einen Mini-Rilke haben, der auf dem Bettrand sitzt, der wacht und lange Briefe schreibt. Diese ganze systemimmanente Scheiße halt.

So beschließt der desillusionierte Salon-Linke, bevor er sich ins indische Poona verzieht, sich als als Philosophie-Dozent zuvor noch an einen dieser zarten Studentinnenbusen heranzumachen. Die gibt's gottlob noch. Ob rechts, ob links, ist ihm egal.

Es gibt keine Salonlöwen mehr. Jedenfalls keine linken!


Flohmarkt: Savoir-vivre, 1977
 
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Und gebärt ein Mäuslein ...

Aus dem Archiv (Anfang 2008) geholt, aufgebügelt und neu überdacht, da von diesem Herrn an den erinnert. Fast eine Wiederholung. Fast gehört's ja hier hin. Aber dort ist nunmal reine Rückschau.

Wir seien zwar keine Blogger, hieß es zu diesem Zeitpunkt an einem anderen Ort, sondern gehörten der aussterbenden Rasse der Feuilletonisten an, die sich, wie sich das für solche weiterblätternden Flaneure auf den Boulevards der Unwesentlichkeiten geziemt, in völliger technischer Umnachtung sich lediglich der entsprechenden Weichware bedienten. So ist's. Unsereins hat's eben nicht so mit diesen 1plusminus0-Techniken, die für die Gestaltung einer Seite benötigt werden. Und da wir auch keine Wände einfärben oder Wasserhähne enttropfen und auch Enten zum Fachoperateur bringen, weil der ihre Eingeweide eher wieder zum Entkreischen bringen kann, benutzen wir auch hier die Fähigkeiten anderer. So wurden das Laubacher Feuilleton und Kurzschrift auch nicht in Heimarbeit selber gedruckt. Und gekocht haben wir bereits, als Fernsehen und Internet noch nicht angetreten waren, dem Volk das Essen beizubringen. Betriebsanleitungen lesen wir auch nicht.

Das soll jedoch nicht heißen, daß wir das Internet ignorieren. Im Gegenteil! Wir sind glücklich, daß es diese technische Errungenschaft gibt. Sonst könnten wir ja unser ewiggestriges Archiv nicht vorantreiben. Vor allem mögen wir die Weblogs. Aus diesen elektronischen Tage- oder manchmal Wochenbüchern erhalten wir Informationen, die so manches Mal von den Gazetten der Intelligenz nicht geliefert werden, möglicherweise, weil sie sie nicht liefern können oder aber nicht wollen; über die Gründe mag man (hier und jetzt) gar nicht weiter nachdenken. Über so manches Hochinteressantes und Wissenswertes hinaus bieten viele Blogs Texte von einem Unterhaltungswert, wie er eigentlich im einen oder anderen Blatt zu vermuten wäre, bei der doch nicht unerheblichen jeweiligen Gebühr, die dafür monatlich zu überweisen ist. Dennoch behaupten viele der klugen Köpfe, die immer da oder dort dahinterstecken, sie seien die wahren Denker und diese ganzen elektronischen Entäußerungen nichts als Geschwafel, dem keine oder gar gefährliche, weil anarchische oder schlimmstenfalls anarchistische Bedeutung beizumessen sei, die sich auch noch hinter der Anonymität verstecke. Seit Wochen kämpfen deshalb wohl die Gutenbergs auf handgehäkeltem Bütten gegen das Armädchen elektronischer Meinungs(ver)fechter. Und so manches Mal hat es dabei einen dieser Lokführer der angedeuteten Modernisierung des Bleisatzes aus den Geleisen seiner Argumentation getragen. Der Verlust der Contenance mag auch darauf zurückzuführen sein, daß die Reiter hoch zu Roß ihres über die Jahre entstandenen Realitätsverlustes nicht mit der Masse der Spieße gerechnet hatten, die ihnen entgegengehalten wurden. Momentan ist die Lage in Waterloo entspannt, aber die Geschichte hat es ja notiert: All den Napoleons wird das Exil nicht erspart bleiben. Wer weiß, vielleicht finden sie ja ein Inselchen im weltweiten Netz. Der eine oder andere Ritter Gutenbergs soll ja bereits mit dem Federkiel fuchtelnd in der Tube gesichtet worden sein.

Selbstverständlich haben sie recht, die Bewahrer der Wahrheit im Guten und Schönen: Es tummelt sich unsäglich viel Kroppzeug auf dieser Spielwiese Internet. Damit meinen wir allerdings weniger diese viel und gern zitierten sogenannten Tanja-Anjas oder Katzenfreunde. Übel auf stoßen unsereins die Stammtischphilosophen aller Färbungen, deren Denkhorizont so weit reicht wie ihr Sprachvermögen. Sie sind es vermutlich auch, die es mit dem (geistigen) Eigentum so halten wie mit ihrem Verständnis von Demokratie. Irgendwo haben sie mal was gehört oder beim Lesen (mal wieder) was nicht richtig verstanden — wir sind das Volk, und dem gehört nunmal alles im demokratischen Internet. Mit Begriffen wie Urheberrecht können sie nicht umgehen, weil es ihnen an Abstraktionsvermögen mangelt.

Und von Joseph Beuys haben sie auch noch nichts gehört, der ja gesagt haben soll, jeder Mensch sei ein Künstler. (Was er so eben nie gesagt hat, wie Aubertin innerhalb der Diskussion «Finger weg von Bildern aus Datenbanken» in der Blogbar einem verrückten Wissenschaftler namens Madscientist endlich mal ins Gesangbuch schrieb: «Beuys sagte in einer kritisch-ironischen Anmerkung zu einem seiner Studenten in der Düsseldorfer Kunstakademie: Jeder sei ein Künstler, nur ER sei keiner. Ein halber Satz also, aber damit eine ganz andere ‹Wahrheit›. Doch genommen wird sie gerne, vor allem von denen, die’s gerne etwas bequemer haben.»*)

Nähmen sie also nur die halbe bequeme Wahrheit und zückten ihre Telephone, ob von einem finnischen oder sonstigen, etwa US-amerikanischen oder deutschen Hersteller, der in letzter Zeit ihren Arbeitsplatz vernichtet hat, um damit die Realität abbildend kreativ, also wenigstens (kunst-)handwerklich tätig zu werden, täten sie sich weniger schwer mit der Gesetzgebung. Aber da es ihnen sogar an diesen Minimalvoraussetzungen fehlt, nehmen sie sich's, wie's ihnen gerade entgegenleuchtet. So kreist denn der Volksberg — und gebärt ein Mäuslein.

* Dem sogenannten Beuys-Zitat widersprechen nicht einmal die gedruckten Organe der deutschsprachigen Druck-Intelligenija.
•••
Da gibt es jemanden, der für sein Leben gern Würstchen und Brötchen photographiert und seine Gattin dazu Rezepturen dichten läßt. Beides zusammen ergibt dann ein probates elektronisches Kochbuch, über dessen Qualität man nicht einmal streiten möchte. Aus unerfindlichen Gründen bedienen sich viele dieser Basisdemokraten dennoch ohne jede Scheu ausgerechnet dieser Lebensmittelablichtungen, obwohl sie (mittlerweile) genau wissen müßten (sollten!), daß diese (ausgewiesen) honorarpflichtig sind und ohne Genehmigung nicht übernommen werden dürfen. Das wiederum hat im Lauf der Zeit zu gerichtsmassigen Scharmützeleien geführt, die bei unsereins Verwunderung hervorrufen und uns fragen lassen: Weshalb photographiert denn nicht jedes Würstchen sein zugehöriges Brötchen selbst? Das scheint nicht so ohne weiteres möglich, überdies der Bedarf an Lebensmittelphotographie derart hoch, daß nun sogar eigens dafür ein Eintopf auf den Herd gestellt wurde für Bildchen von Nahrungsmitteln, die nach dem Prinzip des creative commons Allgemeingut darstellen.

Nun gut, es geht in erster Linie darum, einem die Wiener oder Frankfurter vom Teller zu nehmen, der sich nach Behauptungen einiger ausgezutzelter Bild-Ausleiher auf indirekte Weise davon ernähre, indem er seine Einkünfte weniger mit dem Knipsen von Schweinen in Därmen erziele als vielmehr mit dem Abkochen von solchen armen Würstchen, die er vor Gericht gezerrt habe. Auch möchte man damit diesen Nahrungsmittel-Kreativen aus den vorderen Rängen der Suchmaschinen herauskicken. Wir halten es allerdings eher mit Bör, der in der Blogbar-Diskussion den Sozialphilosophen John Ruskin ziziert:

«Es ist unklug, zu viel zu bezahlen, aber es ist noch schlechter, zu wenig zu bezahlen. Wenn Sie zu viel bezahlen, verlieren Sie etwas Geld, das ist alles. Wenn Sie dagegen zu wenig bezahlen, verlieren Sie manchmal alles, da der gekaufte Gegenstand die ihm zugedachte Aufgabe nicht erfüllen kann. Das Gesetz der Wirtschaft verbietet es, für wenig Geld viel Wert zu erhalten. Nehmen Sie das niedrigste Angebot an, müssen Sie für das Risiko, das Sie eingehen, etwas hinzurechnen. Und wenn Sie das tun, dann haben Sie auch genug Geld, um für etwas Besseres zu bezahlen.»

«In der zunehmenden Industrialisierung», schreibt Bör in dieser lesenswerten Auseinandersetzung um «fremde Bilder», «sah er (Ruskin) die Gefahr einer Verkrüppelung sowohl menschlicher Tugenden als auch künstlerischer Schaffenskraft.»

 
Di, 17.03.2009 |  link | (3192) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 

Leere das Leben

Nach meinem morgendlichen Mittagessen (jedem seinen Rhythmus!) pflege ich, um dem Nickermännchen die Landung in meinem abseitigen Schlafzentrum zu erleichtern, eine Programmhüpferei zu veranstalten. Ich bin dabei eigentlich nur auf der Suche nach einem Brabbelplatz, der mir das Einschlafen erleichtert; das funktioniert allerdings nur auf den von mir bevorzugten Sendeplätzen, da es auf anderen in der Regel nur schlaffes Getöse gibt, das die Lücken zwischen den Werbeblocks zu füllen hat. Dabei kommt es jedoch vor, daß ich hängenbleibe und das Absegeln so ein wenig verschiebe, da sich interessante bewegte Bilder zeigen. Das war der Fall, als ich aus dem Mund einer circa Fünf-, Sechs-, Siebenundzwanzigjährigen in etwa hörte:
Wie sind die Werbeagentur Immerneu und erfinden im Auftrag eines unserer Kunden ein neu auf den Markt zu bringendes Produkt. Wir versuchen nun Wurst für Kinder so zu entwickeln und zu präsentieren, daß die Zielgruppe optimal erreicht wird.
Heraus kam Wurst aus der Tube. Ich könnte das nun alles ziemlich komisch finden, auch, daß ständig irgendwelche fernsehverseuchten Klein- und Großschratzen irgendwo an und in irgendwelchen Fläschchen und Döschen und sonstwas nuckeln, lecken und schlabbern, die die Werbewirtschaft nur für sie entwickelt und plaziert hat, ebenso, daß solches Zeugs dann auch tatsächlich massenhaft in den Einkaufskörben landet und die Alten dafür berappen, weil's sonst Ärger mit den lieben Kleinen gäbe, den es tunlichst zu vermeiden gilt, will man doch auchmal seine Ruhe haben. Lachen könnte ich auch darüber, daß der offensichtlich extremistisch wirtschafts- und regierungsfreundliche WDR nach dem Motto Wir spielen Werbeagentur die Rettung des Konsumterrorismus betreibt, indem er solches in aller Ernsthaftigkeit thematisiert: vier-, fünfjährige Kinder lernen werbetexten mit dem Ziel: Vermarktung der vom Kreativkreis Mütter für Leben & Mittel e. V. hausgemacht zusammengerührten Limonade. Vorschule zur Steigerung des Bruttosozialprodukts. Aber so sehr ich mich auch bemühe — ich kann's nicht komisch finden. Das einzige, was mir momentan dazu einfällt, ist: Sei froh und glücklich, Alter, daß du ein Alter bist und du das nicht mitmachen mußt, was da an Gülle über die Jungen gekippt wird. Aber so einfach ist's dann eben doch nicht, denn so ungeschoren kommt man eben nicht davon, wenigstens, solange man noch in die Patte greifen muß, um diesen lebensfernen Müll zu bezahlen. Daran ändert auch nicht die voraussichtliche Tatsache, daß sie später einmal, wenn sie so richtig drinstecken im konsumbeseelten Leben und das Geld dafür haben, und sei es aus der Portokasse des Herrn Hartz, das selbst bezahlen, was sie garantiert nicht benötigen.

Und so stelle ich mißmutig fest, daß es mir noch lange hin ist bis zu der Gelassenheit, von der ich gerne meine, ich hätte sie, kreisen die Gedanken dann doch, finden sich dann weitergedacht anderswo wieder, etwa bei Gorillaschnitzel.
 
Do, 18.12.2008 |  link | (4052) | 23 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 

Fischstäbchen im Öko-Bach

Heute früh spielte zur Stunde des öffentlich-rechtlichen Minderheitenprogramms oder der senilen Bettflucht jemand eindeutig ein Stück wohltemperierten Bach, irgendwas (vermutlich) in moll, wegen der Unzeit. Davon mal abgesehen, daß unsereins Seelchen bei den Kompositionen dieses deutschen internationalen Großdenkmals ohnehin nicht eben emphatisch aufflattert, der Pianist oder die Pianistin — nein, nicht der unverkennbare US-amerikanische Nebenbachgott Gould — traf immer wieder einen Ton, den Steve Jobs bei dem thüringischen Oberorganisten für seine eMail-Ankunftserkennungsmelodei geborgt haben muß. Mehrfach war ich versucht, den Espresso in seinem Ursprungszustand zu belassen und süchtig an meine G 5-Maschine zu stürzen, um die sich permanent ankündigenden weltweiten Werbe-Neuigkeiten entgegenzunehmen. Doch es war noch recht früh, und deshalb wohl dauerte es ein Weilchen, bis ich feststellte, daß der iMac noch gar nicht eingeschaltet war.

Es ging also eine ganze Zeit dahin, bis ich wahrgenommen hatte, daß es sich um einen großen Ton aus der Kunstwelt und nicht um einen profanen Klang aus den Niederungen der Elektronik handelte. Und da das Denken nun schonmal so für sich hinfloß, fiel mir die Fischstäbchen-Olympiade ein, die vor einiger Zeit in den öffentlich-rechtlichen Beratungsdauerwellen lief. Fünfmal je ein Produkt trat zum Wettkampf an, und das biologische erwies sich als das am wenigsten dynamische. Es sähe, so die sich einigen Kinderkampfrichter, nicht nur ziemlich schlapp aus, auch sei es von einer gewissen Geschmacklosigkeit geprägt.

Zusammenhang? Wenn ein altersbedingt Kauhilfeberechtigter wie ich schon nicht mehr weiß, wie (ein ökologisch intakter) Bach tönt*, woher sollen dann die noch Frischen wissen, daß der Fisch früher mal ohne den Schwimmgürtel «natürlichen» Aromastoffes ins Panadestäbchen geschwommen ist. Sie halten ja längst (im Erzeugerland der trinkbaren Plaste schon seit fünfundzwanzig Jahren) den chemisch aufgepeppten, aus Konzentrat bestehenden Orangensaft für den natürlichen und verschmähen letzteren.

Und das in einem Land, das immer wieder Nobelpreisträger aufzuweisen hat. Damit meine ich nun gerade keine politischen Friedensbringer oder gar geistig Umtriebigen (ja, die durchaus auch schonmal), sondern Naturwissenschaftler! Unsereins dachte bis zum vergangenen Jahr, das sei gar nicht mehr möglich, da die alle in die US-Emigration geflüchtet worden seien, der in Deutschland herrschende Forschungsförderungs-Notstand habe sie vertrieben. So war es jedenfalls immerwährend zu hören und zu lesen — nicht nur in diesen gebührengeförderten Medien, deren Verantwortliche Fischstäbchentests für den Olymp der Aufklärung halten.

Und dann hat, wie das Kulturradio vor einiger Zeit meldete, noch ein großer Deutscher eine Großtat vollbracht. Ein vom Niveau her ansonsten etwas weiter unten angesiedelter, ständig große Deutsche gebender Schauspieler durfte andere Kunstfertigkeit beweisen und an ein weiteres deutsches Heiligthum Hand anlegen. Er hat sich wohl endlich einen Kindheitstraum erfüllen und in einer Encyclopädie herummalen dürfen. Wie der das Café Deutschland der Nachkriegsrevolte fixierende Malerkrösus noch zu Lebzeiten die geheiligte Schrift, heftig beworben von einem bebilderten Massenblatt, das lieber weniger Buchstaben, aber die dafür etwas größer druckt. All das vermutlich für diejenigen, die des Lesens nicht so recht mächtig sind. Wenn das nichtmal das Angekommen-Sein im Zeitalter der biblia pauperum bedeutet, dieser fast ausschließlich aus Bildern bestehenden Armenbibel.

Allen aktuellen Mißliebigkeiten zum Trotz, der Deutsche hat schon allen Grund, es auszurufen, dieses: Wir sind stolz ....

* «Doch der Natur- und Umweltschützer Enoch zu Guttenberg hat noch einen weiteren Verursacher beträchtlicher ‹Flurschäden› im Visier. Als international geachteter Dirigent sakraler Musik empfindet er es als unerträglich, daß Bachsche Messen oder Passionen zusehends zu sportlichen Übungen im Konzertsaal verkommen. Hier schlägt der Künstler Guttenberg einen plausiblen Bogen zwischen dem Komponisten Johann Sebastian Bach, dessen Kunst in ihrer im Religiösen wurzelnden Ursprünglichkeit einen Einblick verschaffen könnte in das Denken und Leben seiner Zeit, und der Begradigung des Baches, dessen einst natürlicher Verlauf die Gewachsenheit eines Dorfes, einer ganzen Landschaft bestimmte bzw. charakterisierte. Beide sind nach Guttenberg meist nicht mehr erkennbar in ihrer natürlichen Form.»
Der begradigte (J. S.) Bach

 
Mi, 22.10.2008 |  link | (2228) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 

Dilettantissima*

Vielen Menschen scheint es heutzutage ein Grundbedürfnis zu sein, sich abzugrenzen, vor allem von denen, die anderer Meinung sind. Das hat seine Ursache nicht unbedingt in sozialen Herkünften, die sich dann jeweils politisch mehr oder minder bunt oder anthrazit bis hin zu einer Farbe äußern, die eindeutig dem Fäkalbereich zuzuordnen ist. Eher noch ist es die Ausbildung, die der jeweilige Grenzhüter absolviert hat, oder der einzelne Seitenpfad, der dann genommen wurde oder genommen werden mußte, weil Papa meinte (und Mama dazu nickte): Erstmal was Anständiges lernen!

Später dann: Der Schauspieler geht nicht so gerne in Ausstellungen, dafür der Künstler ungern ins Theater oder der Musiker zu selbigem ins Atelier. Der Biologe oder der Chemiker oder der Ingenieur — meist sind es Männer, die gerne Gräben ausheben, um den schwerbewaffneten potentiellen Eindringling abzuhalten — hat Probleme damit, den Germanisten oder Philologen auf seiner Gedankennase herumtanzen zu lassen. Letztere verachten gerne das formelhafte Denken ersterer, die ohnehin selbst beim fröhlichen bis feuchten Umtrunk über nichts anderes reden können als über die biocheminadischen Zusammensetzungen dessen, das sie gerade einlitern. Besonders schweres Gerät fährt gerne auf, wen die Macht des Schicksals auf den kerzengeraden Weg des Sportes oder der Ökonomie, vor allem aber deren Vermittlung geschickt hat. Auf dieser übersichtlichen Autobahn tritt der sportiv-dynamische Pilot gerne das Pedal durch und düst mit seinem Rennpanzer von A nach B. Was er auf Teufel komm' raus nicht ausstehen kann, sind diese mäandernden Entdecker der Langsamkeit, diese sprachschwurbelnden Welterklärer, die denjenigen aufhalten, der besseres zu tun hat, als sich aufhalten zu lassen. Die haben auf der Medienstrecke nichts verloren. Ab in ihr Satz- und Wortgestrüpp, zumindest auf die (möglichst abgesperrten) Feldwege ihrer wirren Welt. Sollen sie doch Bücher schreiben, die ohnehin keiner liest — diese Dilettanten.

Der Dilettant tat einmal ehrenwertes, nebenbei. Er war derjenige, der seinem Brotberuf nachging, so etwas wie Verwaltungsobersekretär oder Medizinaloberrat oder Justitiar, Oberregierungs- oder Amtsgerichtsrat, und sich in seiner Freizeit nicht nur mit den Rosen im Rhöndorf beschäftigte, sondern auch schonmal mit den anderen Blüten, die das Leben so trieb und treibt: Naturwissenschaften, Arithmetik, Astronomie, ja, gerne auch die Künste, über all das mit allen sprechend, und aus allem dann oftmals einen literarischen Teppich webend, der durchaus auch mal philosophische Webmaße erreichte. Er war, wie Arnold Gehlen (ach der — darf man dessen Namen überhaupt nennen?) einmal von sich sagte, auf das «Nichtspezialisiertsein spezialisiert».

Später ist aus ihm dann bisweilen noch etwas anderes geworden. Journalist beispielsweise. Oder sowas ähnliches. Und als solcher darf er manchmal auch ins Feuilleton. Das sind die Seiten, die unser sportlicher Spezialist der ökonomischen Medienvermittlung zunächst einmal herauslöst aus der Zeitung und — umweltbewußt, wie der seinen von dreihundert Pferden vorangetriebenen, extrem strömungsgünstigen und deshalb spritsparenden Klein-LKW Pilotierende nunmal ist — in die Papiertonne, nein, nicht wirft, sondern entsorgt. Denn ein kluger Kopf steckt schließlich auf ihm selber. Der auf das Nichtspezialisiertsein Spezialisierte schmeißt die Seiten vor und hinter dem Feuilleton nicht etwa einfach so weg. Zwar trennt auch er das Feuilleton heraus, aber um es, wie zu Entstehungszeiten, zu sammeln. Doch auch Politik, Sport und Ökonomie ist alles andere als Abfall, es könnte ja etwas darin stecken, und sei es eine wirtschaftliche Ente, die zur Welterklärung beitragen soll. Oder sich als Entente mit dem großen Geld herausstellt. Aber er hat ja auch sonst nichts zu tun.

Es handelt sich hier um einen (leicht geänderten) Text, der unter anderem Titel anderswo erschienen war und deshalb hier eingerückt wird, da der andere Ort in absehbarer Zeit geschlossen werden wird. Es war die mittelbare Reaktion auf einen Kommentar von Thomas Knüwer, der in dessen Handelsblatt-Blog erschienen war: Das Opake des Feuilleton. Nur so. Weil ich ungern etwas wegschmeiße (siehe Kommentar).

*ital. dilettare, aus lat. delectare = sich ergötzen, amüsieren

 
Fr, 03.10.2008 |  link | (3128) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 

Spenglers Oswald

und der Untergang. Zu dem machen wir gerne unsere Randbemerkungen (nein, Mark, das zielt nicht direkt auf Sie, sondern es hat mich, auch aus aktuellem, um nicht zu sagen akutem Anlaß, arg ins Grübeln gebracht). Mir ist nicht klar, ob er nicht darauf bestünde, recht gehabt zu haben im Zusammenhang mit den zeitgeistigen Beschäftigungen des 21. Jahrhunderts. Mit seiner sich selbst variierenden Umtitelei Die Vollendung der abendländischen Kultur hätte er das sicherlich nicht bezeichnet. Und in einem Punkt ist er nachgerade aktuell: das angelsächsische Trust-System hat Krieg gebracht, sowohl auf den Feldern als auch in den Spielstuben der Experimentierfreudigen. Ob aber die Welt an einem sicherheitsorientierten deutschen (preußischen) Wesen genesen wird, ich weiß es — oder glaube es eher nicht.

Nun habe ich nicht unbedingt bei Herrn Spengler (alleine) gelernt, daß alles miteinander zusammenhängt. Wenn diese Wissenskette aber bewußt geschwächt wird, dann kann es durchaus zu einem Entgleisen des einigenden Zusammenhalts kommen (wenn letzterer überhaupt angestrebt wird). Wobei ich allerdings unschlüssig bin, ob die deutsche Mentalitätskraft alleine ausreichen könnte, die Lokomotive wieder in die Schiene zu heben. Und möglicherweise gar dem Geleis eine andere Richtung zu geben. Das dürfte, so, wie's aussieht, jedoch kaum gewollt sein. Hier nicht und dort auch nicht. Es muß ja geradeaus vorangehen. Wir wollen ja ein sichtbares Ziel haben. Und das liegt nur in einer Direktion.

Es dürfte sich um eine Tatsache handeln, daß es überwiegend Menschen — aus allen möglichen (Einkommens-)Schichten oder auch gesellschaftlichen — mit Bildungs-, davor vielleicht auch noch mit Intelligenzdefizit sind, die sich in ein höfisches Leben mit seinem grandiosen Luxus sehnen. Und für den die etwas weiter unten in der Nahrungskette Angesiedelten unendliche Schulden anzuhäufen bereit sind.

Da werden Kredite aufgenommen fürs klein Häuschen, obwohl alles darauf hindeutet, daß der Arbeitsplatz, wenn nicht unbedingt in Gefahr, aber dann unter Umständen doch demnächst in einer gänzlich anderen Geographie angesiedelt sein könnte. Urgroßvater und der Nachbar haben's vorgemacht, also muß man auch so eine Hütte haben. Mein Heim ist meine Burg, auch wenn's die Billigversion ist. Die mich dennoch die nächsten dreißig Jahre in der Schuldenfalle unentrinnbar festhält. Eine ordentliche Kalesche neben der leicht angerotteten für die Gattin und den Kinderfahrdienst möcht's auch noch sein, wenn der nebenan schon mit seinem Sechspänner rumfährt. Auch hier zwangsläufig die preiswerte Version aus dem Land, wo längst auch Nachbars Großkarrosse produziert wird. Dazu braucht's dann noch ein Navi, auf daß man sich nicht verfahre auf dem Weg in die zubetonierte grüne Wiese, wo der Billigheimer ja ständig seinen Marktplatz ändert. Nicht zu vergessen die unbedingt benötigten Gerätschaften, mittels derer einem die Bedürfnisse vorgeführt werden, die man gefälligst zu haben hat, soll es weitergehen mit der Wirtschaft. Denn die kommt schließlich uns allen zugute.

Nieder mit dem höfischen Geprasse, haben wir mal sehr laut gebrüllt, und dann den Adel aufs Blutgerüst geschleppt. Und doch möchten wir selber irgendwie blaublütig sein, wenigstens in einer Nebenlinie, und ein bißchen was davon haben, von diesem LifeStyle. Man gönnt sich ja sonst nichts ...

Vielleicht bin ich ja einfach nur müde.
 
Do, 25.09.2008 |  link | (1685) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 

Andere Kultur

Es ist zwar nicht unbedingt mein Revier, und ich will auch nicht dilettierend wildern. Aber auch das ist nunmal Feuilleton oder meinethalben Kultur oder großes Staunen:

Für völlig unterbelichtet in Sachen Kapital(ismus)mechanismen halte ich mich ja nicht. Aber nach der gestrigen Sendung in arte über die kriegerische Übernahme der Marktmacht am Beispiel des (von mir allein seiner sektenartigen Verkaufsmethoden wegen seit je ungeliebten und in Europa glücklicherweise mehr oder minder glücklosen) US-Einzelhandelsriesen war ich dann doch ein wenig überrascht. Die haben den US-Amerikanern nicht nur geschätzte bis zu einer Million Arbeitsplätze eingeebnet, indem sie die Hersteller der günstigeren (Stunden-)Löhne wegen nach China (dort bis maximal fünfzig US-Cent) gezwungen haben, um die «sozialen» Preise in den eigenen gigantomanischen Läden «halten» zu können. Und dann stellen sich diese Walrösser hin und sagen's auch dem letzten, der's nicht hören will: Wir tun Gutes, da wir dem Menschen mehr Kaufkraft ermöglichen. Euphemismus wäre da ein zu beschönigenderer Begriff ...

Dieser Mechanismus hat den USA überdies ein gigantisches Handelsbilanzdefizit eingebracht. Mit eingefädelt hatte das bereits Bill the Clinton, der seinen Landsleuten vermittelte: China ist ein riesiger Markt für uns! Heute stehen etwa drei Milliarden US-Dollar Export circa 130 (bis 150?) chinesischer Einfuhr gegenüber. In den USA wächst kaum noch ein Produktionspflänzchen.

Weit weg? Die Amis sind selbst schuld? Falls es noch niemand gemerkt haben sollte: Dieses soziale Verhalten großer Handelsketten hat seit langem bei uns Einzug gehalten. Auf eines dieser unzähligen Beispiele verweist Andreas Pramanns Göttinger Landbote. An die Bewertung der euroglobalen Arbeitsmarktdaten — von den meisten Informationsverlautbarungsorganen, privat oder öffentlich-rechtlich, meist vornehm unterlassen — mag jeder sich selber machen.

So werden enorme Gewinne gemacht und die Löhne der hiesigen Arbeitnehmer halbiert und auch auf ein Viertel reduziert. Es ist ja nicht das erste Mal, daß ich auf dieses eine absurde Beispiel hinweise: Bio made in China. Unterhaltungselektronik, beispielsweise der allseits geliebte und überlebensnotwendige Flachbildschirm: ein Drittel kommt mittlerweile aus dem Reich der Mitte, das so heißt, weil es sich von jeher als Weltgeldmaschine verstand. Der Käufer bekommt das nur nicht mit, weil die altbekannten Firmennamen auf den Produkten kleben (auf die Herkunftshinweiese schaut ohnehin kaum jemand). Aber lange wird's nicht mehr dauern, bis auch die gänzlich verschwunden beziehungsweise von anderen ersetzt sein werden. Fusionen, zumindest aber joint ventures auch europäischer Firmen mit chinesischen Unternehmen sind an der Tagesordung.

Wann wacht der Mensch eigentlich auf und macht kaputt, was ihn kaputtmacht? Zerschlagen kann beziehungsweise soll so aussehen: Boykottieren! Anderswo kaufen. Es gibt noch Händler, die privat geführt und nicht von nimmersatten Börsenzockern bestimmt werden, aber trotzdem durchaus sehr preisgünstige Waren anbieten. Sicher, die sind gezwungen, bei dieser Preispolitik mitzumachen. Aber auch als nicht so Betuchter sollte ich lieber ein seriös geführtes mittleres Unternehmen «unterstützen» als diese Horden, die nichts als Verwüstung hinterlassen. Und wenn wir denn endlich wieder das Geld verdienen, das wir verdienen, dann können wir ja dann endlich (wieder) dort einkaufen, wo's so romantisch ist: beim Bauern. Wenn der dann überhaupt noch eine Kuh oder ein Huhn im Stall hat und Käse und Eier nicht längst aus fernöstlicher Plasteproduktion bestehen und der ganze Weizen nicht längst von unseren Renn-LKW und den Hyperkähnen weggesoffen worden ist.

Ich gebe zurück an die Expertenzentrale.
 
Sa, 30.08.2008 |  link | (1395) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 







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