Schmidtiomanie

«Nur die Phantasielosen flüchten in die Realität.»

Unsereins kann im Bett nur fernsehen. Denn dafür ist so ein Gerät ja da. Einschalten, und der Schlaf setzt in der Regel innerhalb kürzester Zeit ein. Dabei spielt es keine Rolle, ob Aida, Annette Gerlach, Heino, Isabelle Huppert, Jörg Kachelmann, der Ratzinger oder le Sarkozy oder Sarastro oder gebrochene japanische Heilige Dämme oder sonstige Überschwemmungen die 16:9-Bühne mehr oder minder beleben. Ein paar Minuten, und das Wüstenmännchen bläst mir eine komplette Sahara in die Augen. Weg bin ich. Bis Morpheus seinen Wagen wieder in die Garage schiebt. So ähnlich hat ein gewisser Schmidt den ersten Hahnenschrei beschrieben.

Doch es soll ja Menschen geben, die im Bett lesen. Nicht nur Mimi ihren Krimi. Auch Arno seinen Schmidt. Mit dessen Zettels Traum wird das allerdings schwieriger. Die meisten deutschsprachigen Betten haben dafür ja zu wenig Platz (weshalb die Ausgabe des S. Fischer-Verlags von 1977 ja eigentlich auch auf dem eigens dafür getischlerten Lesepult im eigens dafür gebuchbinderten Schuber liegenbleibt; aber heute wurde es aus Gründen der Bequemlichkeit auf dem Fußboden aufgeschlagen, um nach langer Zeit mal wieder wieder darin zu lesen). Zudem: dreispaltige Träume können einem die Nacht derart zerteilen, daß einem nach dem Ausparken aus dem Lager nicht mehr klar ist, wer Morpheus war.

Und so notierte der offensichtlich schlafgestörte Postillon eines Humors des Angewidertseins, dieser Komödiant für leidensbereite Schlaflose aus dem Heidedorf Bargfeld selbst einmal:

«Schlafbücher müßte es geben: von zähflüssigstem Stil, mit schwer zu kauenden Worten, fingerlangen, die sich am Ende in unverständliche Silbenkringel aufdrieseln; Konsonantennarreteien (oder höchtens mal ein dunkler Vokal auf ‹u›): Bücher gegen Gedanken.» [Nebenmond und rosa Augen, Haffmans Verlag, Zürich 1991, Seite 30ff.]

Dem zum Trotze: Für diejenigen, die's partout nicht lassen können, mit Schmidt ins Bett zu gehen, aber auch für diejenigen, die als Koksverächter alle Nase lang eine kreditkartenlange Linie Lästerlichkeiten benötigen, hat Bernd Rauschenbach, quasi oberster Schmidt-Verweser, eine kleine Schmidt-Insel für Fernsehflüchtlinge geschaffen:

Arno Schmidt für Boshafte

Mit der Rückumschlagaufschrift: «Ich bin nicht auf die Welt gekommen, um Rücksichten zu nehmen.» Und mit einem Hinterherruf von Bernd Rauschenbach versehen, in wohltuender Seniorenrechtschreibung und genüßlich gelesen, über Arno Schmidts Boutaden, darin: «(Schmidts Behauptung, ein Kritiker habe ihn «den umgestülpten Mastdarm des Teufels» genannt, läßt sich allerdings nicht verifizieren.) [...] Schmidts Ich-Erzähler, die in dieser Auswahl vornehmlich zu Wort kommen, sind meist leidenschaftliche Einsame, die sich wie im rasenden Sturz durch die Welt bewegen scheinen, von der sie wissen, daß sie definitiv nicht die beste ist.»

Und Rauschenbach nimmt auch denen gleich die Schimpfeslaune, die sofort wieder losgreinen ob des terminus technicus Boutade, den das Lexikon mal wieder nicht hergibt, hält es mit Georg Klein, der in der Süddeutschen Zeitung über die Neuausgabe von Schwarze Spiegel schrieb: «Falls man das Gymnasium vor zwanzig oder dreißig Jahren absolviert hat, mag man darüber staunen, was inzwischen nicht mehr als Allgemeinwissen vorausgesetzt werden kann. Muss man wirklich erklären, was ein ‹Vließ›, ein ‹Vagant› oder eine ›Karawanserai› ist? Brauchen ‹Herkules›, ‹Ikarus› und ‹Robinson› eine eigene Anmerkung? Kann man nicht von Grundkenntnissen im Englischen und einem geschichtlichen Basiswissen ausgehen? Wer indes gelegentlich mit den gegenwärtigen Abiturienten und Literaturstudenten zu tun hat, wird die Genauigkeit des Kommentars keinesfalls für übertrieben kleinlich halten.» Allerdings läßt Rauschenbach den außerordentlichen Kunst- und Kulturkritiker Albrecht Fabri diesen Begriff erläutern; wobei er zugleich auf einen weiteren Autor hinweist, der wie andere im Nirgendwo zu enden scheint:

Ein Passus aus Albrecht Fabris 1948 erschienenem Essay Der schmutzige Daumen paßt ziemlich genau auf Schmidts Ausbrüche: « ‹Boutade› nennt man diese Art von Ausspruch im Französischen: ein Wort, für das wir im Deutschen kein Äquivalent haben. Saillie d'esprit et d'humeur definiert es der Dictionnalre der Académie françalse; der Dictionnalre von Littré sagt: saillie d'esprit ou d'humeur. Aber der humeur ist nicht ad libitum in der Boutade, sondern ihr Prinzip und Motor. Eine Boutade ist ein Ventil, durch das sich eine Irritation Luft macht. Daher das Element Rabelais und Münchhausen in ihr: eine Boutade ist hyperbolisch oder überhaupt nicht; sie will abstoßen, provozieren, ihrem Autor Feinde machen; an der Boutade erkennen und scheiden sich die Geister. Darum auch gibt es keine Antwort auf eine Boutade. Eine Boutade ist kein Wort, sondern eine Art von militärischem Signal. Sie ruft gleichsam zu den Waffen; sie zwingt, Positionen zu beziehen; ist man betroffen von ihr, bleibt einem nur, sich drüber zu ärgern; ist man unbeteiligt, mag man sich dran ergötzen.» [A. F., Der schmutzige Daumen. Zweitausendeins, Frankfurt/Main 2000, S. 135 f.]

«Selten», dann wieder Rauschenbach, «hat ein Schriftsteller in seinen Texten mit solchem Anspruch, mit solcher Macht ‹Ich› gesagt wie Arno Schmidt. Und in seinen Erzählungen und Romanen, die bis einschließlich Zettel's Traum in der Ich-Form geschrieben sind, zwingt Schmidt dem Leser in jeder Zeile, in jedem Satz dieses Ich auf.»

Daß es sich dabei um ein anderes Ich handelt, weder um das der Ich-Sager der achtziger Jahre, die des Politischen überdrüssig geworden waren und sich nach innen geflüchtet hatten, noch um das der prospektiv-dymanischen Ich-Protzer, die im dritten Jahrtausend damit ihr inhaltsloses Egoversum aufzufüllen trachten, sondern um das eines Schriftstellers, dem es bitter ernst war in seinem Witz, das muß hoffentlich nicht erwähnt werden. Möglicherweise ist Arno Schmidt für Boshafte — unlängst erstanden für sechs Euro im Bücherbogen am Savignyplatz, wo so etwas immer herumliegt am Kassentisch (Schokoladenbonbonabfangtische für Menschen, die doch unbedingt schnell nur dieses eine Buch kaufen wollten) — ja tatsächlich ein Einstieg auch für Jüngere. Und sei's drum, daß sie mal miserable oder gewollt falsche, von keinen Oberlehrern ins Gesetzbuch gehobene Rechtschreibung beziehungsweise Interpunktion wie die von Schmidt mit Inhalten gefüllt sehen wollen. Rauschenbach beschreibt's taktisch weiser, geht mit seiner (gerechtfertigten) Schmidt-Preisung seriöser vor:

«Schmidts Aussprüche sind keine Diskussionsbeiträge zur Lösung von Problemen, sie sind die Kriegserklärungen eines von Schopenhauer geprägten Pazifisten an eine Welt, die ‹besser nicht wäre›. [I,I,48]

Der Leser des vorliegenden Florilegiums der Bosheiten wird nicht erwarten, den Identifizierungs-Effekt bei diesen aus jedem Zusammenhang gerissenen Zitatbrocken zu erleben — der kann nur bei der Lektüre vollständiger Werke auftreten. Hier aber hat er die Chance, Schmidts Aussprüche und Ausfälle in ihrer Isolierung als die Fundamentalprovokation wahrzunehmen, die sie ist. Er mag sich ruhig ‹dran ergötzen›. Doch manchmal sollte er sich auch ins Auge geschlagen fühlen — ‹Es ist eine der Aufgaben des Künstlers, boshaft zu sein !› — hoffentlich gibt er dann Funken.»


Oder ganz anders, vielleicht verlagstechnisch gedacht: Eigentlich könnte der Titel ja auch lauten: Schmidt für Journalisten. Oder Schmidt für Bluffer. Also: Schmidt für unsereins. Denn Rauschenbach hat doch tatsächlich unter jedes Textfitzelchen genaue Nachweise gesetzt, etwa so:

«llustrierte : die Pest unserer Zeit ! Blödsinnige Bilder mit noch läppischerem Text : es gibt nichts Verächtlicheres als Journalisten, die ihren Beruf lieben.» [I,I,206]

Die erste I steht innerhalb der Bargfelder Ausgabe für Werkgruppe I: Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia
Die zweite I für Band I, darin: <Schwarze Spiegel, nämlich Seiten 199 bis 260.

So sich denn also der berufsliebende Mensch der Mühe unterzieht, hinten hineinzuschauen, um seinen Lesern oder Hörern oder Zuschauern mitteilen zu können, was er so alles in seiner Bibliothek stehen und gelesen hat, wird er allerdings vermutlich gewahr, noch viel schreiben zu müssen, bis er an die Schmidtschen Quantitäten heranreicht. Von den Qualitäten mal abgesehen.

Nun, es soll ja auch Menschen geben, beispielsweise Hans Pfitzinger, die freiwillig ganze Schmidt-Passagen lesen (von kompletten Büchern ganz zu schweigen). Zum Beispiel Seelandschaft mit Pocahontas. [I,I,391-437]

«Denken. Nicht mit glauben begnügen: weiter gehen. Noch einmal durch die Wissenskreise, Freunde! Und Feinde. Legt nicht aus: Lernt und beschreibt. Zukunftet nicht: seid. Und sterbt ohne Ambitionen: Ihr seid gewesen. Höchstens voller Neugierde. Die Ewigkeit ist nicht unser (trotz Lessing!) ...»

Aus dem guten alten, leider verblichenen Stahlberg-Verlag in Karlsruhe (der Arno Schmidts Bücher einst verlegte, später dann Haffmans, auch er hinüber), also Stahlberg von 1959, hier zitiert nach dem Fischer-Taschenbuch aus dem Jahr 1966.

Lesen ist schrecklich gehört zu meinen elementarsten Schmidt-Botschaften, einem Auszug aus Nebenmond und rosa Augen (laut des kleinen Schmidt-Breviers Werkgruppe I, Band 4, Seiten 135 – 140). Doch ich will die Gelegenheit nutzen, nochmal nachzuladen:

«Eigenen Gedanken soll ich mich überlassen? Davor möge mich Gott bewahren! : meist habe ich gar keine; und wenn wirklich, dann sind die auch nicht erste Qualität. Ich habe ja alles versucht; ich bin wissenschaftlich geworden ; ich habe mir eine ganze Sammlung von Werken über den Mars angelegt, ausgesprochene Autoritäten, von Schröter über Schiaparelli bis Antoniadi und Graff : wenn ich dann im Geist über den rostroten Wüstenboden von Thyle I oder II wanderte, und in flechtenüberkrustete Felslabyrinthe einbog — bummelte nicht um die nächste Ecke schon Frau Hiller, einsam und listig? (Oder, noch schlimmer, die verdorbene Kleine vom Drogisten an der Ecke !). Geschichtliche Werke? : ich habe mich gewissenhaft in das Zeitalter Cromwells vertieft ; und unverzüglich die Kollegen durch ein trotziges und verwildertes Benehmen überrascht; tat seltsame Schwüre : ‹Bei Gott und dem Covenant!› ; unserm Einkäufer schlug ich vor, seinen Sohn zu taufen ‹Obadja-bind-their-kings-in-chains-and-their-nobles-with-links-of-iron›.»

Ich mag den Alles-Plattmacher und Datensauger Amazon nicht. Bücher werden von mir im Buchhandel gekauft, und wenn's gar nicht anders geht, dann gibt es andere Versandhändler, die auch kostenlos und schnell liefern. Sogar den Nachwuchs und dessen Umgebung habe ich mittlerweile so weit hingebogen gekriegt, das einzusehen. Jetzt darf ich alles besorgen.
 
Do, 17.07.2008 |  link | (4214) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 

Le kitsch

Von Zeit zu Zeit lese ich eines der früher mal gerne gelesenen Bücher erneut, auch deshalb, um herauszufinden, ob die damalige Begeisterung die Jahre in und mit mir überstanden hat. Momentan ist Milan Kundera an der Reihe, und ich mache den Anfang mit dem Buch, das damals die Spalten füllte und das mich als Präsent erreichte, was zu Folge hatte, daß ich es erstmal lange liegenließ, da ich von jeher ungern gelesen habe, das zur Lekture von Millionen Fliegen gehört. Bis heute ist das so. Wer mir eine Freude machen möchte, schenkt mir ein Buch, das völlig in Vergessenheit geraten, aber vermutlich noch nicht in einem meiner Regale (oder unausgepackten Bücherkartons) zu stehen beziehungsweise zu liegen scheint. Oder eben eines, das nicht irgendwie gespiegelt ist. Die Wahrscheinlichkeit ist dann sehr hoch, daß ich für eine Weile unansprechbar bin.

Die aktuelle Freude ist allerdings getrübt. Was nicht am Buch liegt, das in mir Bestand zu haben scheint. Sondern an dem, was mit diesem Buch, nein, mit dem Titel des Buches geschieht. Da ich wissen wollte, ob es noch nicht verramscht ist und/oder es noch vom angestammten Verlag angeboten wird, schaue ich im Internet nach. Und dann das:

Wo auch immer ich hinschaue, herumblättere, auf der Tastatur durchs Netzall suchend surfe — überall stelle ich fest: Nahezu jeder Dritte dieser Intelligenzquotientler unter dem Frontspoiler eines Maulwurf GTI — allen voran unsere Medien- und Werbemeister — gebrauchen ihn, biegen ihn sich hin, wie sie's gerade brauchen, den Titel von Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Wahllos herausgegriffen ein paar Beispiele:

• die unendliche Leichtigkeit des Seins durch Brille des Albrecht Maurer Trios (www.kunstsalon.de)

• Die «unendliche Leichtigkeit des Seins», das klappt eben nur mit einer Dachmarke, die von vielen mit der Vorstellung der «grenzenlosen Dehnbarkeit» verbunden ist. (medien.hamburg.de/Die «richtige» Markenarchitektur finden)

• Nahezu jeder Text war ein Bringer: Felix Bonke rief ein neues Zeitalter, die Googlegotik, aus, Grög! gab voller Inbrunst den Reimjunkie auf Entzug, Philipp Noss hatte eine Geschichte über nette und daher «unfickbare» Männer und Sacha trug einen Text aus seiner beliebten Reihe «Die unendliche Leichtigkeit des Seins» vor und strich die Verbindung von Lachmöwen und Xavier Naidoo heraus. (blog.claudio.de)

• planetSNOW
Nebel, Regen, November-Blues — da hilft nur noch die Vorfreude auf die unendliche Leichtigkeit des Seins — auf der Piste, beim Freeriden oder auf Tour. Als wirksames Breitband-Antibiotikum gegen ... (outdoor-magazin.com)

• Ein schöner Tag
Den Stock aus dem Arsch, den Frack in den Schrank und die unendliche Leichtigkeit des Seins zelebriert. Doppelter Rittberger, Schraube, Katerlandung und Lippenstift am Hemdkragen. So kann der Tag beginnen. Bosse dreht sich. Und die Welt gleich mit. (www.plattentests.de)

• So sieht für mich «Traumurlaub» aus:
Ein Mix aus Kultur und Erlebnis — wie tauchen, Sportboot fahren, Fahrad fahren, Land und Leute erkunden und natürlich auch relaxen. Oh je, jetzt hätte ich fast das geniesen vergessen........ Einfach, die unendliche Leichtigkeit des SEINS übernehmen .... (Kontaktanzeige in www.friendscout24.de)

• Die unendliche Leichtigkeit des Seins ... Zürich. Er sucht Sie ....
sehr humorvoller, mehrsprachiger, kommunikativer mann (45j., 185cm, 80kg) sucht die gebildete, vielseitig interessierte sie, um gemeinsam ... (Kontaktanzeige in zuerich.kijiji.ch/f)

• Die unendliche Leichtigkeit des Seins: «Titanium Click» (bike-sport-news)


Wie hatte Milan Kundera noch in seinem großartigen Roman geschrieben?

«Bevor die Schönheit endgültig aus der Welt verschwindet, wird sie noch eine Zeitlang aus Irrtum existieren. Die Schönheit aus Irrtum, das ist die letzte Phase in der Geschichte der Schönheit.»

Vielleicht sollten diese ganzen Textbieger und Rosinenpicker und Klappentextabschreiber tatsächlich mal das Buch lesen! Es gehört (nach wie vor!) zu den besten (und spannendsten!) der Literatur der vergangenen Jahrzehnte. Darin hat Kundera beispielsweise geschrieben:

«Der Streit zwischen denen, die behaupten, die Welt sei von Gott erschaffen, und denen, die denken, sie sei von selbst entstanden, beruht auf etwas, das unsere Vernunft und unsere Erfahrung übersteigt. Sehr viel realer ist der Unterschied zwischen denjenigen, die am Sein zweifeln, so wie es dem Menschen gegeben wurde (wie und von wem auch immer), und denen, die vorbehaltlos mit ihm einverstanden sind.

Hinter allen europäischen Glaubensrichtungen, den religiösen wie den politischen, steht das erste Kapitel der Genesis, aus dem hervorgeht, daß die Welt so erschaffen wurde, wie sie sein sollte, daß das Sein gut und es daher richtig sei, daß der Mensch sich mehre. Nennen wir diesen grundlegenden Glauben das
kategorische Einverständnis mit dem Sein.

Wurde noch vor kurzer Zeit das Wort Scheiße in Büchern durch Pünktchen ersetzt, so geschah das nicht aus moralischen Gründen. Sie wollen doch nicht etwa behaupten, Scheiße sei unmoralisch! Die Mißbilligung der Scheiße ist metaphysischer Natur. Der Moment der Defäkation ist der tägliche Beweis für die Unannehmbarkeit der Schöpfung. Entweder oder: entweder ist die Scheiße annehmbar (dann schließen Sie sich also nicht auf der Toilette ein!) oder aber wir sind als unannehmbare Wesen geschaffen worden.

Daraus geht hervor, daß das ästhetische Ideal des
kategorischen Einverständnisses mit dem Sein eine Welt ist, in der die Scheiße verneint wird und alle so tun, als existierte sie nicht. Dieses ästhetische Ideal heißt Kitsch.»

Ich setze mich jetzt in den Sessel, höre ein wenig in Herrn Beethovens Coriolan-Ouverture in der wunderbar bombastischen Interpretation von Léo Ferré auf der Platte je te donne hinein, lasse ihn laut fragen Muß es sein? und lese — jawoll, mit einer gewissen Leichtigkeit (über die Zickereien von Madame Magenta hinwegsehend, die mal wieder behauptet, die Leitungsruckeleien lägen nicht an ihr und außerdem interessiere sie das sowas von überhaupt nicht): Kundera!

«Obwohl Tomas Teresa zuliebe begonnen hatte, Beethoven zu lieben, verstand er gleichwohl nicht viel von Musik, und ich zweifle, ob er die wahre Geschichte von Beethovens berühmtem Motiv ‹Muß es sein? Es muß sein!› kannte.»

Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, Roman
Aus dem Tschechischen von Susanne Roth, Hanser Verlag, München-Wien 1984

 
Mo, 14.07.2008 |  link | (5571) | 9 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 

Unterschiedliche Ansichten

Avignon — das Europa, das der Katholizismus geschaffen hat! Von Inquisition, Folter, Mord und Totschlag des Papsttums allerdings kein Wort. «Das babylonische Exil der Päpste — aber es war das lustigste Exil, das die Welt je gesehn hat», meint Joseph Roth. Ein Teil der lustigen Päpste waren diejenigen, die dem erzenen Katholiken Vicente Ferrer und seinen Vasallen im Palais des Papes, dem Papstpalast von Avignon dabei halfen, die ursprünglichen rothschen Glaubensgeschwister, die spanischen Juden, die Sepharden aus Spanien rauszujagen und in die ganze Welt zu zerstreuen. Zwar wird in Avignon ständig getanzt, aber züchtig, was das einfache, liebliche Volk auf der Brücke von Avignon betrifft. Wie die Purpursäcke es vermutlich hinter ihrem Festungsgemäuer haben krachen lassen, darüber schweigt dieser Kreuzritter, dieser ukrainisch-österreichische, sehr deutsche chevalier de la triste figure sich aus. «Welch ein Trubel unter dem Protektorat der Kirche! Welch ein Fest unter den Augen des Papstes!» Man möchte meinen, der Kölner Karneval habe seine wesentlichen Impulse vom Avignon des Joseph Roth. Und fortwährend die Mutter Gottes, die Jungfrau.

Irgendwie scheint er ein wenig verblendet, der politische Journalist und Schriftsteller Roth. Also läßt er's weg, das Politische. Den einschneidend historischen Hintergrund. Auch lese ich Seltsames über Petrarcas Jungfer Laura.. Bei ihm ist sie in seinem Katholiken-Mekka Avignon geboren. Dabei dürfte es kaum erwiesen sein, daß Laura tatsächlich existiert hat oder eben schlicht nur Mythos, Legende war. Es gibt lediglich einen einzigen konkreten Hinweis auf Laura. Bei Petrarca heißt es:

«Laura [...] erschien meinen Augen zum ersten Mal in meiner ersten Jünglingszeit, im Jahre des Herrn 1327, am sechsten Tag des Monats April, in der Kirche der heiligen Klara zu Avignon [...]. Und in derselben Stadt, im gleichen Monat April, auch am sechsten Tag, zur gleichen Stunde, jedoch im Jahr 1348, ist dem Licht dieser Welt jenes Licht entzogen worden [...].» Geraldine Gabor und Ernst-Jürgen Dreyer schreiben, «daß sich ‹Laura› unter dem unbefangenen Blick in reine Sprache auflöste, die in unendlichzähligen Bedeutungen spielt: L'auro, das Gold von Amors aurato strale (dem goldenen Pfeil) und der aurata piuma (dem goldenen Federkleid des Phönix [...]» Und so weiter und so fort. Und Wolf-Dieter Lange fügt (in der Brockhaus-PC-Bibliothek) an: «Diese Worte, die eher verbergen als offenbaren, enthüllen die Stellung des Dichters zwischen Mittelalter und Renaissance. Die Zahlen, von denen er spricht, haben besonders seit den Kirchenvätern einen christlichen Symbolwert. Am 6. April ist Adam erschaffen, und am 6. April ist Christus gestorben. Zwischen dem Beginn der Liebe zu Laura 1327 und ihrem Tod 1348 liegen einundzwanzig, also drei mal sieben Jahre, auch dies christlich vielfach ausgedeutete Zahlen. Darüber hinaus besteht der Canzoniere mit seinem scheinbar reumütigen Einleitungssonett aus 366 Gedichten. Zieht man dieses Sonett ab, könnte sich die Zahl symbolisch auf die Tage eines Jahres beziehen. Vielleicht aber verweist die Zahl 366 unmittelbar auf Lauras Todesjahr, denn 1348 war ein Schaltjahr. [...].»

Nun gut, zu Roths Zeit war man noch nicht so weit mit der Liebesforschung. Auf jeden Fall liebte Roth die(se) (mystische) Liebe, die etwas Pygmalioneskes hat. Oder sind es eher die späten Leiden des jungen R. (Klaus Jarchow weist auf «Wahnsinn seiner Geliebten» hin)? Petrarca selbst hat diese Rerum vulgarium fragmenta, Bruchstücke muttersprachlicher Sachen, «seinen Freunden gegenüber immer als zweitrangig, als Jugendtorheit, als ‹nugellae› (Kleinigkeiten)» bezeichnet.

Zu viele traumselige Interpreten haben aus dem von 1304 bis 1374 lebenden Petrarca einen reinen Trobadour gemacht. Er war es nicht. Nicht nur Gefühl — mit dem viele den Canzoniere lesen, die solch schönes Stöhnen einsaugen:
«Bewege ich die Seufzer, Euch zu rufen
beim Namen, den mir Amor eingewoben,
beginnt von außen schon der Klang zu loben,
den seine ersten süßen Laute schufen.»
Denn Petrarca war auch Geschichtsschreiber, auch Gesellschaftskritiker (der sich im übrigen gerne mit Mächtigen umgeben hat und alles andere als ein biedermeierernder, sehr früher romantischer Dichter war, als der er gerne dargestellt wird).
«Die Frauen weinend; und das Volk ohn Waffen,
von zarter Jugend bis zu müden Alten
— selbst Hannibal entschlüge sich des Spottes ...
Schenkst du nur einen Blick dem Hause Gottes,
das heute gänzlich brennt, dann wird dir Kunde:
damit der Wunsch gesunde,
genügt es, Funken nur des Brandes, der tobte,
zu löschen, was man noch im Himmel lobte.»

«Und mit dem dritten trinket Sud von Kräutern,
abführend Herzens- und Gedankenschwere:
am Anfang bitter, aber süß des weitern.»
Nun, auch solches schrieb Francesco Petrarca — aber eben nicht in Avignon, wo er lediglich einen Teil seiner Kindheit und Jugend verbrachte, später lebte er in Montpellier und dazwischen immer wieder in der Heimat Italien —, sondern allenfalls im Gärtchen in Fontaine de Vaucluse, etwa fünfzehn Kilometer östlich von Avignon, hat er seine Canzoniere begonnen — in der Nähe des Mont Ventoux, dem Heiligen Berg des Dichters und der Dichter, die in seinem Namen, von 1975 bis 1995, preisgekrönt oder nicht, diesen bis heute immer wieder erklimmen wie die Leistungssportler der zweirädrigen Zunft, der alljährlichen Fahrrad-Tour de France, bei der eine Zeitlang immer ein US-Amerikaner gewann und dem sie alle nachzueifern bereit sind, egal wie weh es auch tun mag. Ich verstehe diese Besteigungen übrigens (wenn auch nicht mit dem Fahrrad), zumindest das Ziel — denn wer je vom Gipfel des Mont Ventoux aus nach unten geschaut hat, der muß nicht mehr in den Himalaya reisen, scheint dieser Berg in der Haute Provence doch tatsächlich das Dach der (alten) Welt, von dem aus hinuntergeblickt in die Täler, in denen es nur noch Menschlein gibt. Etwas weniger schwärmerisch ließe aus sagen: Man fühlt sich, je nach Perspektive, wie im irdischen Himmel.

Doch Roth, der hat Laura aus Avignon in seiner frühkatholizistischen Emphase prophylaktisch mit Blut versehen wie weiland Aphrodite Pygmalions Statue. Und es ist ja hinlänglich bekannt, wie sehr Pygmalion sich erschreckt hatte, als der von ihm geschaffene Alabaster-Leib mit einem Male wahrhaftig wurde. Vermutlich hat der Marien-Verehrer Roth eben aus einem Schutzmechanismus vorausgesetzt, daß Laura ohnehin lebte — um sich aphroditischer Wirkung nicht auszusetzen. Nun gut, wiederhole ich mich: Sicher war man zu Roths Zeiten noch nicht so weit mit der Forschung. So sei es ihm zugestanden, daß er diese Gedichte möglicherweise lediglich als diejenigen kannte, von denen Geraldine Gabor und Ernst-Jürgen Dreyer meinen, daß sie «Petrarca als einen schwachen Liebeslyriker der romantischen Schule erscheinen» lassen.

Ach Laura. Ich verstehe es ja. Wenn mir danach ist, klammere ich, zugestandenermaßen, den Chronisten Petrarca auch aus und gebe mich der poetisch-mystischen Blondine hin. Dann lächelt der andere Frankreich-Feuilletonist, Kurt Tucholsky, vermutlich über mich und kommentiert: Ja ja, man kann sich zur mittelalterlichen Laute ganz angenehm in die Früh-Renaissance hineinträumen.

Avignon. Palais des Papes. Dieses — ohne jeden Zweifel beeindruckende und auch in seinen Ausmaßen — ja: durchaus schöne — Monstrum. Wohin ich nur gehe, um mich staunend zu fürchten. In dem er, Roth, am liebsten gewohnt hätte. Den Eindruck habe ich zumindest. Er beklagt, daß der Papst-Palast als Kaserne mißbraucht wurde und: «zweimal täglich ist er das Ziel neugieriger Touristen und das Objekt falscher Erläuterungen, die ein Führer gegen Trinkgeld den Amerikanern erteilt». Richtig, so ist es, bis heute. Ein paar Japaner und mittlerweile auch Chinesen sind hinzugekommen, nicht zu vergessen die bildungsbeflissenen Deutschen des 21. Jahrhunderts. Eben weil heute keine kriegerischen Truppen mehr darin hausen, sondern Kunst und Kultur. Aber fürchten kann man sich auch, etwa vor der Aufgeblasenheit oder auch rigiden Arroganz der einstigen Laura oder auch Spitzenklöpplerin Isabelle Huppert, die nichts zuläßt, was nicht ins recht knappe Korsett ihrer Meinung paßt.
«Dann stehe ich im Hof. Er ist von vier Seiten eingeschlossen wie ein Kleinod. Er hat viele schwarze Tore in den Wänden, aber man glaubt nicht, daß sie hinausführen. In diesem Hof müßte ein Gefangener seine Ohnmacht stärker fühlen als in einer kleinen und finstern Zelle.»
Man spürt Gott bereits nahen. Das steht nicht bei ihm, sondern bei mir. Weiter: «In diesen Torbögen lehnten die Gewehre. Und doch hat der Hof der Kaserne, in der ich ‹abgerichtet› wurde, ganz anders ausgesehn. Ob es nicht eine Weihe gibt, die von einem Stein, einem Glas, einer Wölbung ausstrahlt und einen Hof vor der endgültigen Vernichtung schützen kann?» Denn: «Sie hatte recht, die Militärbehörde. Das ist kein Anblick für exerzierende Menschen. Solche Bilder könnten die Disziplin einschläfern. Gebt weißen Kalk darüber, Kalk darüber, Kalk darüber! Verdeckt die Fresken von Matteo Giovanetti de Viterbo, dem Christus am Kreuz. Er hat die armseligsten, hagersten Arme, sein Körper ist schmal wie ein Bein, seine durchstoßenen Hände sind halb gewölbt, noch offen, dem Betrachter zugekehrt, als schenkten sie noch im Tod, die Augen sind geschlossen wie bei einem Schlafenden, es ist die erste Sekunde nach dem Tod, im Gesicht ist kein Schmerz mehr ...»

Tucholsky tanzt Spitze, während Roth mit mit Holzschuhen über die Bühne (g)rollt. So sehnt er sich beispielsweise immer wieder nach dem deutschen Wald. Irgendwo hat er was nicht verstanden. Ich will keine deutsch-österreich-ungarischen Tannen im Licht der Provence. Bei Roth liest man immer gleich einen dräuenden Wald, wenn er loslegt. Immer hat er auf die Deutschen geschimpft, dieser Österreicher. Na ja, Zwangs-Österreicher. Aber aufgeführt hat er sich wie die deutsche Axt, die den nicht vorhandenen französischen Wald dieser Region gleich umhaut. In Frankreich entzündet die Sonne den spärlichen Wald. Doch von der Sonne schreibt er, daß ich Angst kriege, sie fällt mir gleich auf den Kopf.

Tucholsky schleicht sich an. Mit einem liebevollen Lächeln im Text. Ein Beispiel aus Vierzehn Käfige und einer, worin es um Marseille geht. Er schreibt:

Château d'If. La petit Taule! Ein kleiner, süßer Knast. In den ein paar Touristen und Tourismusdirektoren reingesperrt gehören. So denn, Tucholsky: «Die kleine Insel ist das Château d'If. Es liegt — falls sie Ihren Atlas zur Hand haben — vor der Stadt Marseille, gegenüber den beiden Inseln Ratonneau und und Le Frioul, die durch einen Damm [den Digue Berry] verbunden sind. Ist bei Ihnen nicht drauf? Na, schadet nichts. Château d'If ist die Insel, auf der Edmond Dantès eingesperrt saß, der Graf von Monte Christo.» Nun erzählt er locker Historisches — aber nicht etwa ungenau! — und skizziert das Aussehen. Genau so, wie's heute zu sehen ist!

«Der Hof ist ganz klein, von vier Mauern umgeben, die nicht allzu hoch sind, von oben glänzt quadratisch der blaue Himmel. Unten ist das Licht getönt, milchig und hell kaffeebraun. Unten steht ein Brunnen und an einer Mauerwand eine Ansichtskartenbude [...].» Richtig. Die gibt's noch heute. «Und ringsherum sind die chachots, die Käfige.» Dann geht's 'ne Weile weiter, bis: «[...] Vor jeder Tür ist ein Holzschild angebracht, auf dem steht gemalt, wer da einmal eingesperrt war. Wie in einem zoologischen Garten, man vermißt den Zusatz: Geschenk des Herrn Konsul Friedheimer [...].

Ja, es zieht durch die kleine Luke, und wenn man den Kopf an die Eisengitter legt, kann man auch ein Stückchen vom Meer sehen, in dem die freien Fische wohnen. [...] Der Boden ist ausgemauert, schwärzliche Spuren an den Wänden deuten auf ehemalige Kamine. Es muß höllisch kalt gewesen sein, damals ... Da saßen sie also. Meistens waren es politische Häftlinge, die hier gesessen haben, alles Leute, die die Regierung nicht töten konnte oder wollte, und deren Freiheit ihr höchst unbequem war. Damals war das recht einfach: man benötigte nur die lettre de cachet, um etwas zu erreichen, wozu man heute ein ganzes Volksgericht auf die Sessel setzen muß [...]. Manchmal ließen auch hochmögende Eltern ihren Sohn ein bißchen einsperren, bloß so.» Dann reiht er sie in seinem unnachahmlichen leichten, lockeren Stil auf, die Insassen, etwa so: «Auf der anderen Seite hat Dantès gesessen, eben jener, dessen Schicksal Dumas in seinem Schmöker benutzt hat.» Oder: «Dann liegt da noch zu ebener Erde ein cachot, dem Publikum nicht zugänglich. Darin saßen im Jahre 1871 einhundertundsechzehn Gefangene. Communards. Einhundertsechzehn — das ist keine Zahl für uns andre ... [...] Herauf die kleine Treppe, auf die obere Galerie. Da saßen: Ein Abbé, der ein Mädchen verführt haben soll ...»

Es war wohl Louis Goffridi. Er ist verbrannt worden, weil er mit Teufels Hilfe Madeleine Mandols verführt haben soll. Er war ihr Confesseur, ihr Beichtvater. Sie war sechzehn Jahre alt. Oder jung? Darum wird's eher weniger gegangen sein, denn damals hatten sie längst Kinder in diesem Alter. Es ging wohl eher um den katholischen Teufel. Oder war's Frère Valère? Auch ihn haben sie verfackelt. Wie so viele.

Und weiter: «[...] ein Kanzelredner, der mit England konspiriert hat; ein Mann, der versucht hat, Napoleon zu ermorden; der berühmte ‹Mann mit der eiseren Maske›; Louis-Philippe Égalité. Mirabeau (kein politisches Gefängnis, in dem der nicht gesessen hätte); ein Herr Mollard, der sechzehn Jahre hindurch saß, weil seine Eltern das so wollten. In diesem Raum tagte dann später eines der Revolutionstribunale.»

Und und und. Also — immer auffliegende Bilder. Luft für unser Vorstellungsvermögen. Eindrucksvolle Bilder. Tucholsky ist wie gutes Kino. Französisches.

«Man kann sich nur schwer vorstellen, daß in diesen Räumen Menschen gelitten haben; daß der Tritt der Wache auf der Zugbrücke und der Ruf eines Schiffes die einzigen Laute waren, die man hier hören konnte, das Klirren der Waffen und das Klappern von Flaschen — wenn es nicht einer der Häftlinge einmal vorzog, stundenlang wie ein Tier zu brüllen. Oben auf der Brücke des Gebäudes segnet das Werk Gott.»

Irgendwie spürt man, daß Roth in Paris als Alkoholiker jämmerlich verreckt ist und Tucholsky es vorgezogen hat, im schwedischen Sein zu sein wie die freien Fische. Was nicht heißt, daß er nicht gelitten hat. Raddatz erkannte: Er war ein einsamer Mensch. Kurt Tucholsky, der Kumpaneien haßt, die nie in literarischen Cafés saß, der vor den damals noch gar nicht goldenen zwanziger Jahren schon 1924 aus Berlin floh und der sie zwar alle kannte, die man heute mit ihm zusammen nennt — Kästner und Mehring und Ossietzky und Hiller — Kurt Tucholsky war wohl nie mit einem befreundet. Dann also auch kaum mit Roth. Roth soff sich in den Cafés und Kneipen von Paris tot. Umbringen durfte er sich nicht. Er war ja schwerst verstrickt. Im Katholizismus, in den er sich geistig aufgemacht hat, ist das höchste Sünde, sich einfach aufzumachen zu den freien Fischen wie der Jude Tucholsky.

Es gibt ein Marseille, das mir fremd ist: das von Joseph Roth. In das von Kurt Tucholsky kann ich eintauchen wie in meine geliebte Badewanne und bin sofort zuhause. Nach über achtzig Jahren. Roth jedoch beschreibt, etwa zur gleichen Zeit, eine andere Stadt. Es ist nicht so, daß Tucholsky auf Fakten verzichten würde. Nein, beileibe nicht. Auch er schreibt «von der beängstigenden Fülle der Häuser, die sich um ein breites Wasserbecken türmen, schmale, enge, fast drohende Häuser». Aber es liest sich dennoch nicht so beängstigend wie bei Roth. Bei Roth habe ich das Gefühl, daß gleich die Apokalypse über mich kommt. Wenn einer wie Tucholsky von den so geräuschvollen Straßen erzählt, dann weiß ich sofort wo ich bin: zu Hause. Ich habe ohnehin immerfort den Eindruck, daß der tägliche 48-Stunden-Lärm in Marseille erfunden wurde. So kann man sich auch was darunter vorstellen, wenn Tucholsky vom Auftritt der Sängerin und Tänzerin Maria Valente (die Mutter von Caterina) erzählt, nach dem auf den «geräuschvollen Straßen jeder Chauffeur so viel hupt wie die ganze Place d’Opera in Paris nicht an einem Nachmittag — die großen Bäume an der rue de Rome rauschen leise».

Das Marseille, von dem Roth schreibt, stinkt und ist gewalttätig. Selbst wenn er von den weißen Häusern in seinen geliebten Weißen Städten schreibt, spürt man, hier in Marseille, daß ihm die Stadt nicht ganz geheuer ist. «[...] hier riecht es wie zu Hause vor Ostern: nach Staub und gelüfteten Matratzen; nach Lack für die Türen, nach feuchter Wäsche und Stärke; nach angebrannten Speisen; nach geschlachtetem Schwein; nach gesäubertem Hühnersteig; nach Schmiergelpapier; nach einer gelben Pasta für Messing; nach einem Mittel gegen Ungeziefer; nach Naftalin; nach Bohnerwachs; nach Eingemachtem.»

Hingegen Tucholsky:

«Die Stadt hat wahrscheinlich viel von ihrer Buntheit der Menschen, aber nichts von ihrer malerischen Großartigkeit der Anlage verloren. In den Straßen klingelt die Elektrische [na ja, ein Bähnchen gibt es noch — die ‹Tramway 68› —, die von der Metro-Station Noailles aus — wie zu Tucholskys Zeiten? — nach St-Pierre klappert und holpert], gehen und kommen die Leute, verkaufen kleine Buden Zuckerzeug und Zeitungen. [...]»

Roth meint: «Ich habe hier die Grenzenlosigkeit des Horizonts erwartet, die blaueste Bläue des Meeres und Salz und Sonne.» Ich weiß nicht, ob der immer mit gesenktem Kopf durch die Stadt gegangen ist. Tucholsky hat den Kopf oben — und sieht es: «Da liegt ganz Marseille — viel größer, als man es sich von einer Stadt mit einer halben Million Einwohner gedacht hat; über die Hügel verstreut, von Baumgruppen unterbrochen, klettern die Häuser vom Rand des Meeres bis auf die entfernten Berge.»

Und weiter heißt es bei Tucholsky: «Die Hafengassen gehen alle fast bis unmittelbar ans Ufer, sie verlieren sich hügelan in einem engen südlichen Gewirr von Wäsche, die quer über die Straße gehängt ist, Salatkörben, Vogelkäfigen, Häuserwänden [...]» Und auch hier liest sich das ungemein aktuell: Der Markt um die Metro- und Tramstation Noailles, der bis hin zur Canebière führt, beispielsweise läßt sich auch heute kaum treffender beschreiben. Und hier bekommt man einfach alles — Fleisch, Geflügel, Fisch, Gewürze, Gemüse, Kräuter, säckeweise Reis, Waschmittel, auch (vom LKW gefallene?) Mobiltephone oder seinen schnellen oder auch gemächlichen Imbiß, alles offen präsentiert, nicht verschlossen wie in den hermetischen Kühltheken einer deutschen Hackfleischverordnung (gut, auch hier schlägt Bruxelles langsam, aber unbarmherzig zu). Hier deckt sich, nicht eben Minderheit in dieser Stadt, halb Nordafrika ein, und zwar zur Hälfte der Preise, die ansonsten in der Stadt verlangt werden. Weshalb eben nicht nur Araber dort einkaufen (als es die deutsche Freibank noch gab, sah man dort ja auch überwiegend mittelständisches Publikum). Wie man überhaupt am Boulevard d'Athènes in Richtung Gare Saint-Charles, dem 1848 eröffneten und prachtvoll restaurierten Bahnhof von Marseille, auch abends um elf noch zum Friseur gehen kann und acht Euro zahlt statt anderswo vierundzwanzig oder gar dreißig.

Wie oder was auch immer — ich kann diesen Roth nicht nachempfinden: «Über allem lag eine makabre Stimmung.»


Erwähnte bzw. zitierte Literatur:
Geraldine Gabor und Ernst-Jürgen Dreyer im Nachwort zu: Francesco Petrarca: Canzoniere, zweisprachige Gesamtausgabe, nach einer Linearübersetzung von Geraldine Gabor und in deutsche Verse gebracht von Ernst-Jürgen Dreyer, nach der Ausgabe von Guiseppe Salvo Cozzo, Florenz 1904, München 1990
Joseph Roth: Die weißen Städte, in: Ein Frankreich-Lesebuch, herausgegeben von Katharina Ochse, Köln 1999
Kurt Tucholsky: Vierzehn Käfige und einer, zitiert nach: Gesammelte Werke 1925 — 1926, Reinbek 1993, Bd. 4
Fritz J. Raddatz: Kurt Tucholsky — Ein Pseudonym. In: Campo News-Blog
Cyrano de Bergerac, in: Anmerkungen zu: Herzstiche. Die Briefe des Cyrano de Bergerac, hrsg. und übersetzt von Wolfgang Tschöke, München 2001

Verfaßt etwa 2005, nachträglich leicht überarbeitet. Seither hat sich Marseille, an sich eigentlich an radikale Umgestaltungen gewohnt, nun aber endgültig heftig geändert — nachdem man aus der Stadt eine europäische Kulturübung gemacht hat.

 
Mo, 07.07.2008 |  link | (6684) |  |  | abgelegt: Kopfkino



 

Leid-Kultur

In seinem fast normalen Alltag produziert er Plastiken mit Titeln wie Geburt einer Baßgeige oder Zeichnungen, in denen er Mondrian unerkannt spazierengehen oder Giacometti die Welt erobern läßt.

Immer wieder sind seine um die Ecke formulierten Kommentare in Museen und Galerien zu sehen. Doch Johannes Muggenthaler mag unseren Kulturbetrieb, unseren ach so schwierig zu meisternden Alltag nicht nur bildhauerisch, photographisch oder zeichnerisch verhohnepipeln. Er (be-)schreibt ihn auch. Hier erhält der Begriff der Leidkultur seine endgültige Bestimmung.

Er konfrontiert mit philosophischen Sichtweisen dieser Art:
«Mächtig steht die Frage auf, wie dem Tag in die Knie zu verhelfen ist. Früher war das anders, da waren die Tage nicht so lang. Ungefragt vergingen sie wieder. Was bietet das Leben an Spannung, nicht viel. Die Dramaturgie ist schlecht, und wo man hinsieht Längen, fürchterliche Längen!»
Und in der zweiten seiner komischen Tragödien, Der Unvollendete, läßt er seinen grübelnden Helden Nietsche über das eigene Zuhause sinnieren. Es sehe «seit längerem so aus, als ob es niemanden gäbe, der hier seit längerem zu Hause wäre. Blasse Wände. Der Boden verstellt mit einer Sitzgarnitur. Es gibt Schonbezüge. Auch Schonbezüge wollen geschont sein. Unter den grauen Schonbezügen ist es eine blaue Sitzgarnitur. Obwohl das Blau geschont wird, beginnt es zu verblassen.»

Es müsse «doch eine Grenze sein zwischen Sein und Nichtsein», stellt Muggenthaler fest. Gefunden und gar befestigt wie einen heiligen Damm hat er sie nicht unbedingt. Aber das ist ja das Angenehme: nicht zu wissen, woran man ist.

«In kantig aneinander gesetzten Bildern und kraftvoll gefugter Handlung», schreibt Ulrike Landfester im Laubacher Feuilleton, «macht Muggenthaler den Reichtum im Widerspiel von Kultur und Natur sichtbar: Schicht um Schicht überlagern sich Macht des Wetters und Sturm des Gefühls, Labyrinth des Waldes und Irrgarten der Stadt, Tempel und Kerker, Paradies und Welt, Kunst des Erzählens und blütenreiches Wachstum der Fantasie — [...] eine doppelbödige Magie, in deren Bann der Leser selbst sich in der schimmernden Bedeutungsvielfalt der Texte glücklich verirrt.»

Johannes Muggenthaler:

Magie oder Maggi
Normal und sterblich
Wie man sich glücklich verirrt
Liebe und Schulden

Alle bei Edition Nautilus

Des weiteren:

Regen und andere Niederschläge
Der Idiotenhügel
Das Fremdenzimmer

Die Welt verschönern
 
Di, 24.06.2008 |  link | (3144) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 

Peter Rühmkorf

ist tot. Trauer!

Bleib erschütterbar und widersteh

Perlentaucher. FAZ (2004)
 
Mo, 09.06.2008 |  link | (2055) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 

Literarische Völlerei

Die Zeichnung Kurkumaolive von Seemuse hat dieselbe in ihrem Wahrnehmungsfenster ausgestellt, nachdem sie den Eiergenießvorschlag von Abe Opincar gelesen hatte. Sie gefällt mir so gut, daß ich sie im Nachhinein als Chapeau voranstelle.
Und seit heute, dem 11. November 2010, ziert sie — als Geschenk von Seemuse ! — mein Büro.


Mit Hilfe dieses Buches brät man kein Huhn. Man sollte das Huhn, das man ohnehin nach althergebrachter Weise maltraitiert hat, im Rohr vor sich hinschmurgeln lassen und sich mit dem Buch in den Sessel oder, aus aktuellen Witterungsgründen, auf die Bank unterm Pflaumenbaum setzen. Es mag sein, daß darüber das Huhn den letzten Saft verliert. Aber das dürfte einem bald schnurz sein. Denn das Buch an sich ist (geistige) Nahrung, ein ausgiebiges Menu, wie in einem Landgasthof im Périgord. Also lieber am nächsten Tag ein neues Huhn ...

Aber es ist, auch wenn es verkaufsmaschenhaft immer wieder als solches angeboten wird, alles andere als ein Kochbuch. Wenn Opincar kocht, dann gießt er allenfalls Öl in die Pfanne, streut einen Teelöffel Turmerik (Kurkuma) hinein, rührt um und schlägt zwei Eier darüber, die danach auf den Teller gleiten, abschließend übergossen mit dem restlichen, gelb gefärbten Öl. Wie Opincar das erzählt, möchte man vielleicht gar kein Huhn mehr, sondern nur noch dessen Eier.

Es ist eher ein Erinnerungsbuch. Es verbindet Düfte mit Erlebnissen, Ereignissen. Dabei ist Opincar der französischen Literatur sehr nahe, die Begebenheiten des Lebens mit Gerüchen assoziiert, allen voran Marcel Proust mit seinem Hauptwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (À la recherche du temps perdu). Die Kraft der Wahrnehmung (Ästhetik), des Geschmacks bannt sie alle, Proust, Opincar und deren Leser. Sogar Kant blinzelt mit seiner Urteilskraft hinein ins Buch.

Bei Opincar mögen es, beispielsweise, die frisch geernteten Persimonen sein, von denen man erwiesenermaßen Bauchweh bekommt und man sie trotz der mütterlichen Warnung dennoch immer wieder allzugerne vom Baum pflückt. Dabei fällt ihm die Nachbarin und deren von Persimonen überbordendem Garten ein: «Arlenes Großzügigkeit gehört zu den Dingen, an denen ich erkenne, daß Zeit vergangen ist.»

Käse, Persimonen, überhaupt Früchte, Gemüse, Anis, Basilikum, Kümmel, immer wieder Gewürze und Kräuter breiten sich in diesem Buch aus, das weniger im klassischen Sinn Roman ist als eine Reihung literarischer Memorablia (oder anders: die Bezeichnung Roman ist so irreführend wie Kochbuch). Opincar handelt mit witzgewürzter Intelligenz Kulturen, Kulturgeschichten ab. Wie nebenbei liefert er bedenkenswerte Erklärungen, etwa die, weshalb (Süd-)Franzosen (vermutlich) fürs Leben gerne Pastis trinken: Babies, deren Mütter während der Schwangerschaft Anissamen gegessen hatten, wandten sich dem Anis zu. Die anderen mochten ihn nicht. — Ob Mütter aus nordöstlicheren Landstrichen lieber Weizenkörner oder Kartoffeln gekaut haben?

Opincar huldigt ausführlich den Ausdünstungen des Landes, in dem er gelernt hat, «gesittet» zu essen: in einer bürgerlichen Familie im Bordelais. Und ein wenig mag es sich wie Rache lesen, wenn er die chemischen Prozesse französischer Heiligtümer, etwa den Käse Fleur du maquis (auch bekannt als Saveur du maquis) drastisch beschreibt. Napoleon kommt ihm dabei in den «Sinn», der in einem Brief an Josephine schrieb, sie möge sich nicht waschen, er komme (in zwei Wochen) heim. «Unsere Nasen sind besonders empfindlich für Ammoniak und andere Nebenprodukte bakterieller Zersetzung wie etwa diejenigen, die Achselgeruch verursachen. Das Jacobson-Organ — zwei winzige Vertiefungen am vorderen unteren Ende der Nasenscheidewand registriert besonders die von Napoleon so geliebten Düfte und leitet die Informationen an die urtümlichsten Teile des Gehirns weiter.»

Doch Opincar ist nicht nur von Frankreichs Kulturgeschichte des Essens angetan. Der Süden Floridas — wo er heute nach jahrzehntelangen Wanderjahren lebt — und damit das angrenzende Mexiko nimmt einen nicht minder intelligent-komischen Erzählraum ein. Doch ob die USA, Asien, Europa, überall hat er gegessen, weil er dort gelebt hat — und umgekehrt. Immer wieder gerät dabei Opincars Abstammung in die erzählende Erinnerung. Die Küche der Juden, das hat die Geschichte (oder haben die Menschen, die sie hinterlassen haben) so gewollt, hat unfreiwillig eine weltweite Verbreitung gefunden. Beeindruckend schildert Opincar jüdische Essensrituale während der hohen Feiertage und deren Hintergründe, einschließlich familiarer Despektierlichkeiten. Und er tut dies, dem jüdischen Humor gemäß, mit lakonischem Witz.

Doch es wäre falsch, diese Episoden auf das «typische Schicksal» eines der Religion wegen durch alle Erdteile getriebenen Menschen verdichten zu wollen. Zwar läßt Opincar keinen Zweifel an seinen Wurzeln, doch nie spielt er sie in den Vordergrund. Und geht dennoch ins Detail — etwa bei der Erläuterung des Begriffes «Judensau» —, dann tut er das so kenntnisreich, wie es wohl nur ein in die Jahre gekommener und in die Welt geratener ehemaliger Absolvent einer Jerusalemer Talmud-Schule sein kann — als Weiser: Es gelingt ihm immer, durch die Maschen religiöser Ver- und Gebote zu schlüpfen — hinaus ins offene Meer der Genüsse.


Abe Opincar
Am Abend, als ich meine Frau verließ, briet ich ein Huhn
Ein kulinarischer Roman
Titel der Originalausgabe: Fried Butter. A Food Memoir
Aus dem Amerikanischen von Rudolf Hermstein
SchirmerGraf

 
Do, 29.05.2008 |  link | (5077) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 

Izzos Polars

Total Cheops. Chourmo. Dann Solea. Das sind die Krimis: Policiers oder, verbreiteter: Polars. Es ist eine Trilogie. Les marins perdus ist ein anderes Buch, das Schicksale von Seefahrern beschreibt, die mit ihrem Schiff im Hafen von Marseille liegengeblieben sind, weil die Gerichtsbarkeit es fixiert hat. Der Eigentümer des Schiffes hatte seine Schulden nicht bezahlt. Doch Schicksale hat er ohnehin immer beschrieben. In den meisten Fällen die von Verlierern. Er muß die Menschen sehr geliebt haben. Das ist wohl seine Sehnsucht, sein Verlangen gewesen, es ist das, was ihn bewegt hat. Vermutlich nicht einmal so sehr die von ihm beschriebenen Verbrechen. Doch: dort, wo Verbrechen Menschen zerstört. Und deren Heimat. Und alles ist eine einzige enorme Liebeserklärung, eine zärtliche — an Menschen, an Freunde, an das Zusammenleben, an Frauen, an Marseille.

Joseph Roth hat geschrieben: «Alle Erden aber segnet dieselbe nahe, sehr heiße, sehr helle Sonne, und über alle Völker wölbt sich dasselbe blaue Porzellan des Himmels. Alle trugen das Meer auf seinem breiten, schwankenden Rücken hierher, jeder hatte ein anderes Vaterland, jetzt haben alle ein einziges Vatermeer.» Und: «Jeder trägt seine Heimat an der Sohle und führt an seinem Fuß die Heimat nach Marseille.»

Izzo muß es gelesen haben. Es ist es exakt eines seiner Sujets. Jeder, der auf der Suche ist nach irgendetwas, vielleicht nach sich selbst, und der nach Marseille kommt, schreibt er, der ist dort zuhause: Ich vermute, Izzos Leser wissen nicht, woher er das hat. Oder aber es gilt Kurt Tucholskys These: Es gibt keinen Neuschnee. Alles ist schon einmal dagewesen. Parallelität oder gar Identität der Gedanken.

Jean-Claude Izzo hat seinen Büchern ein bescheidenes Leben injiziert. Die einfacheren Restaurants (was nicht mit denen in Deutschland gleichbedeutend ist) und schlichteren Bars, wie in Frankreich die Cafés (die es in der Form in Deutschland nicht gibt) genannt werden, spielen eine geradezu entscheidende Rolle in seinen Polars.

Wenn ich auch um so weniger verstanden habe, weshalb er ausgerechnet und immer wieder das La Samaritaine so sehr lobt, diesen Touristenschuppen an der Ecke Rue de la République und Quai du Porte, in dem der Café um einiges teurer ist, aber dafür auch erheblich schlechter schmeckt als beispielsweise gegenüber, auf der anderen Seite des Alten Hafens, in der Bar Marengo (im Bildmitte links, mit Tischen und Stühlen vor dem Haus) — in dessen Umgebung sein Held Fabio Montale sehr viel besser gepaßt hätte. Er erwähnt La Samaritaine in jedem Buch: diese Windbeutelkneipe mit den kleinen schnöseligen Kellnern und den überdimensionierten Preisen und dem Touristentand an den Wänden. Ich fühle mich wie auf der Touristen-Reeperbahn!

Die Freundin, die diesen Laden ebenfalls nicht sonderlich mag, meint: Vielleicht war er ein Freund des Patron? Vielleicht sei die Küche excellent?

Das bescheidene Leben von Izzo bzw. Fabio Montale — aber immer mit gutem Essen und gutem Wein. Mit einfachen Zutaten. Facile. Italienisch wie französisch. Italienische Küche. Gepaart mit französischer. Sie kommt ständig vor in seinen Büchern. Ich nehme an, nicht nur, weil er von Italien abstammt. Er beschreibt alles, was gut ist, für ihn das Essentielle. Auch den Wein. Die Menschen. Und er schreibt auch so: aufs wesentliche beschränkt.

Er war einmal Chefredakteur von La Marseillaise, der kleineren der beiden Tageszeitungen von Marseille, die andere: La Provence, das Massenblatt. La Marseillaise ist, auch heute noch, nach einigen Verschiebungen der Besitzverhältnisse, das Blatt mit dem ausgeprägteren sozialen Anspruch, auf der Seite der weniger Betuchten. Die Redaktion von La Marseillaise hat ihren Sitz am Cours d'Estienne d'Orves, ein paar Schritte entfernt nur von der Bar Marengo, wo man früh und auch spät immer wieder Redakteure antrifft. Um so rätselhafter ist mir, daß er sie nie erwähnt hat in seinen Büchern. Möglicherweise hatte er damit abgeschlossen.

Izzo hatte dem Jornalismus adieu gesagt und begonnen, schlimme politische wie soziale Verhältnisse in Romanen zu beschreiben, weil er des Streites der Linken überdrüssig war. Ein — klassischer — Linker ist er wohl auch geblieben. Das wurde, beispielsweise, deutlich an seinen Äußerungen zur zeitgenössischen Kunst. Über die Arbeit eines anderen italienischen Marseillais, den Bildhauer César, hat er sich mal geradezu unflätig geäußert. Die störrische Altlinke: Etwa der Filmkritiker in Libération zur zauberhaften Amélie Poulain. Der meinte auch, hier würde ein Frankreich gezeigt, daß es nur im Kino gebe. Bloß keine Phantasie aufkommen lassen.

Dazu paßt Izzos Sprache. Sie ist nicht so sehr diejenige, die mich begeistert. Sie ist simpel. Jedenfalls in diesen Polars. In Les marins perdus, deutsch Aldebaran, ist sie gesetzter, auch adjektivischer. Vielleicht ist das Schlichte in seinen Polars Stilmittel. Und das hat ihn wohl (mit) sehr populär gemacht. Fast ist anzunehmen, daß es nicht so sehr die Leichen waren, die er zuhauf produziert hat, als vielmehr die Legenden um Marseille und die Marseillais und Marseillaise.

Es mag auch sein, daß er soviel Tote produziert hat, auf daß viele Menschen seine Mitteilungen über die Menschen lesen. Unter jeder Leiche hat er quasi seine Botschaft versteckt. Er hatte nur eine Botschaft. Doch er hat sie in viele winzige Teile zerlegt, die Namen haben wie das revolutionäre liberté, egalité, fraternité, das in Frankreich nicht wirklich noch Gültigkeit hat, vor allem jedoch Liebe-Liebe-Liebe, in allen Variationen, aus alle Perspektiven, wie Facetten eines Diamanten, in dem sich diese eine Farbe aufbricht zu vielen Farben. Wer im Sinne von Izzo die Toten angehoben hat, um darunterzuschauen, der hat sie vernommen, diese Mitteilung. Und er hat dabei sehr schöne Passagen darin, sehr poetische. Bilder von großem, doch eben einfachem Zauber. Es ist manchmal wie ein Bild, das von einem Kind gemalt ist.

Die bildende Kunst der anderen Marseillais Arman, César und Raymond Hains hat für Izzo offenbar nicht genug Vernunft. Sie ist ihm wohl zu bourgeois. Malerei und das, was diese Stars der Kunstszene ansonsten fabrizieren, ist ihm wohl zu sehr Anarchie. Jedoch nicht politische Anarchie! Anarchie als ein Chaos. Freiheit von innen. Wie César. Maler der dritten Dimension. Der sie auch außen gezeigt hat. Deshalb vielleicht hat Jean-Claude Izzo das nicht gemocht.

Seine Sätze haben wohl deshalb weniger Farben, vielleicht, um im Bild zu bleiben: nur die reinen Farben. Und dennoch entstehen auch dabei sehr lebhafte Bilder. Sie sind mehr Rhythmus. Es ist mehr auf den Punkt gesetzt. Dann kommt der nächste. Und so fort. Seine häufigen Beschreibungen von Musik zielen dorthin.

Es ist durchaus Vielfalt. Er stellt diesen Begriff in den Zusammenhang mit dem Jazz, über den er viel schreibt — hier gerät er sogar, dem Thema gemäß, manchmal ins Phrasieren. Dennoch bleibt es schlicht. Wie die Menschen, über die er schreibt. Also alles mögliche — Chanson gibt's bei ihm weniger. Etwas Léo Ferré. Aber der hat Marseille ja tatsächlich geliebt, hat es Paris vorgezogen, hat 1972 im Palais des Congrès mit Marseille eine Hymne gesungen, von den Menschen, «die von Traurigkeit ausgestopft», also von den Trauernden, deren Haare deshalb strohig geworden sind.
«O Marseille on dirait que la mer a pleuré
Test mots qui dans la rue se prenaient par la taille
Et qui n’ont plus la même ardeur à se percher
Aux lèvres de tes gens que la tristesse empaille.»
(aus dem Textbuch zu La violence et l’ennui, La mémoire de la mer, Monaco 2000)
Einmal, wenn ich mich recht erinnere, kommt auch Charles Aznavour vor. Nun, der war Armenier. Und Marseille ist sozusagen die Hauptstadt der französischen Armenier.

Mehr dem Jazz war er zugetan, meist Klassisches, Miles Davis oder John Coltrane. Aber auch Raï und Khaled oder Chaba Djenet. Sogar Massilia Sound System, diese wilde Truppe, deren Sprache das Provencalische ist, aber auch die der einheimischen Jugend, zu der es sogar einen eigenen dictionnaire, den dico marseillais gibt, in dem Jean-Claude Izzo ein Vorwort geschrieben hat.

Dann gibt es bei Izzo sehr viel Spanisches, auch Musik der Gitanes. Sein Held Fabio Montale, der liebte eine Zigeunerin sehr. Sie begleitete ihn – Jean-Claude Izzo? — durch seine Trilogie. Es ist Lole. Sie ist seine große Liebe. Sie verläßt ihn. Ständig stirbt er (zwischen den Zeilen) den petit mort, den kleinen Tod, den Liebes-Zenit. Erst mit ihr und dann an ihr. Der kleine Tod beschreibt nicht nur den sexuellen (männlichen!) Höhepunkt, sondern die Psychologie setzt ihn auch an für die Trennung. Und er trauert immer um Lole. Er ist überhaupt ständig traurig. Sein Fabio Montale sucht immer. Er sucht seine Frau, die ihn verlassen hat. In jeder Frau sucht er sie. Gefunden hat Fabio Montale nur den Tod. Wie Jean-Claude Izzo. Der ist allerdings nicht an einem Schuß gestorben, auch keinem goldenen, sondern an Lungenkrebs, am 26. Januar 2000.


Die ins Deutsche übersetzten Bücher von Jean-Claude Izzo sind im Zürcher Unionsverlag erschienen.

Ursprünglich verfaßt 2006/2008

 
Mi, 28.05.2008 |  link | (5008) |  |  | abgelegt: Kopfkino



 

Le Schmachtfetzen

Cyrano de Bergerac. Le Roman. Le Film. La Chanson d'amour.

Damals, Anfang der Neunziger, hatte mich Gérard Depardieu sehr erstaunt mit seiner Schauspielkunst. Das hatte ich diesem Klopper früher nie zugetraut. — Seit langem verkauft Reclam den Theatertext sogar mit einem Standbild aus dem Film, einer Photographie von Depardieu auf der Titelseite. Als ob's das «Buch zum Film» wäre. Wiederbelebung des Theaters durch den Film. Grotesk! — Nun, meine Verbeugung vor ihm ist seit diesem Film anhaltend tief. Und seitdem habe ich ihn auch weiß nicht wieviel Male gesehen, in beiden sprachlichen Fassungen. Hinzuzufügen ist, daß es im Deutschen eine wohl einzigartige Synchronisation gibt. Sie ist so gut, daß sogar die Fachwelt gestaunt hat. Sie kommt dem Original sehr nahe. Durch dieses Synchrondrehbuch und natürlich auch durch die Sprecher und die Regie kommt sogar im Deutschen viel von der französischen Sprache, sogar von Edmond de Rostands poetischem — eher extrem poetisierenden — Spiegel dieser Zeit herüber. Es ist auch im Deutschen im Versmaß gehalten.

Mich hatte damals eine Bekannte fast mit Gewalt hineingeschleppt. Ich wollte einfach nicht, weil mich das Stück auf der Bühne immer so genervt oder schlicht gelangweilt hatte. Möglicherweise lag's daran, daß ich nie den Platz der Souffleuse einnehmen durfte. Den hätte es gebraucht für diese Nähe. Aber das kann Theater auch nicht leisten, diese Naheinstellungen, wie sie im Film möglich sind. Ihn nicht sehen wollte ich vielleicht auch deshalb, weil alle Welt ständig über ihn geredet hat. Es ist oft so, daß ich mich dem verweigere. Aber ich hab's dann getan, weil ich der Dame die Freude nicht nehmen wollte, mich künstlerisch in die Liebe einzuführen.

Am Schluß des Films blieb ich fast konsterniert sitzen — ich wollte einfach nicht wahrhaben, daß er zu Ende sein sollte. Ich wollte nicht, daß er zu Ende ist. Manchmal geht es mir heute noch so, daß ich ruhig sitzenbleibe und ihn erneut in mich einsinken lasse. Ich war von der ersten Sekunde an wohlig Gefangener dieses Films. Ich war im allerbesten Wortsinn mittendrin. Ich war Teil des Orchesters. Ich war die Musik. Und — hier war der Beweis erbracht worden, daß auch Action–Szenen sinnlich sein können, ja poetisch. Wir benötigen keine in die Luft fliegenden US-amerikanischen Straßenkreuzer oder völlig flache, ins Eindimensionale herabgewürdigte, sozusagen charakterlose Gefühlsduseleien unter dem Degen- und Fechtmantel. Jean-Paul Rappeneau hat's ihnen allen gezeigt. Allen voran dem dämlichsten aller Gefühlsdarsteller, diesem Mister Hollywood, diesem obersten Repräsentanten des Banausentums. Und noch mehr angewidert bin ich von denen, die ihm nacheifern. In erster Linie die Deutschen. Diese miserablen Epigonen. Sie können nichts — keine Musik, kein Kino. Alles platt. Von wegen Kulturvolk. Lauter Amöben, Parasiten des Kultur-Verfalls, eines nie wieder ausgleichbaren Defizits.

Der Beginn des Filmes, im Hôtel de Bourgogne, ist einfach phänomenal — diese Atmosphäre, dieses Wahnsinnsgetümmle, das Theater, dieses Stimmengewirr. Und dann die Fechtszene ziemlich am Anfang. Im Versmaß — wie erwähnt, auch im Deutschen —, ... denn beim letzten Verse stech ich.

Anfang des siebzehnten Jahrhunderts! Fast vierhundert Jahre! Noch einiges vor Beginn der Aufklärung. Nun gut — alle diese Filme über diese Zeit spielen verständlicherweise in dieser Zeit.

Cyrano war ein großer Mann! Es war bereits Aufklärung in seinem Geist! Doch anders als Descartes und sein Esprit normatif! Er hat Descartes und Hobbes nicht gemocht. Rostand ist auch sehr spät herangetreten an diesen Stoff. Mehr als zweihundertfünfzig Jahre später! Es ist auch nicht nur Liebe, die gespielt wird. Es ist auch partiell ein Spiegel dieser Zeit! Es ist die Zeit von Richelieu! Ein Förderer der Bourgeoisie.

Der romantische Bourgeois, zu denen Cyrano als Amtsadliger auch gehört. Richtig. Zeitgenosse von Molière, den er ja kennengelernt hat. Der inspiriert war von ihm, laut Rostand sogar bei ihm geklaut hat. Durchaus. Aber auf der Bühne habe ich das nie gesehn. Jedenfalls auf keiner deutschen Bühne. Aber der fehlte wohl der Bezug zur französischen Geschichte. Im Krieg gegeneinander kannten sie sich besser aus. Die Deutschen. Doch andererseits ist es ja auch rein französische Geschichte. Aber was heißt das schon?! Frankreich strebte sozusagen die Weltmacht an, damals eben die Vormacht in Europa. Deshalb ja die Keilerei mit den Spaniern — in Arras, oben im Norden, in etwa Richtung La Rochelle. Wo unser schöner Christian das Zeitliche segnete. Nun, die haben sich ja überall geprügelt damals. Wenn das vielleicht auch ein bißchen euphemistisch ausgedrückt ist. Aber das alles zeigt auch der Film nur in Ansätzen. Ein paar Andeutungen zu Richelieu, ein bißchen Gemetzel, sonst kaum etwas drin. Ein paar Anspielungen eben. Aber es ist ja auch ein Film über einen Liebeskranken. Ein Liebesfilm eben. Und auch wer liebt, den sticht's — oder er sticht.
In Ermanglung edlern Wilds
wünsch ich, daß ein Stich dir klaffe
in der Leber oder Milz.
Schau, mein Arm, der kräftig straffe,
strebt nun, daß er dich raffe.
Daß keiner mehr begaffe.
Denn beim letzten Verse stech ich ...
Ein unglaubliches, ein großartiges Bild, wie er's diesem Stutzer zeigt. Weiter —
Wirst du grünlich wie ein Pilz?
Gleich ‘ner zitternden Giraffe
Muster eines Jammerbilds!
Zeigst du, daß dein Mut in dir erschlaffe,
eh mein Pulver ich verpaffe?
Heut dein warmes Herzblut zech ich
aus kristallener Karaffe.
Denn beim letzten Verse stech ich.
Doch auch der Schluß dieser Szene. Nie wird der allerbeste Amiregisseur oder Hollywoodhampelmann, nie werden die das so hinkriegen wie Rappeneau beziehungsweise Depardieu. Auch, weil sie keine Sprache, keine Sprachmelodie, keinen Sprachrhythmus haben! Englisch — ah, was sage ich! Amerikanisch! Pah! Sogar im Deutschen klingt's.
Beichte schnell! Wo ist ein Pfaffe?
Deinen Widerstand zerbrech ich —
Finte! Quart! — Da hast du's, Laffe!
Der Dichter und Kämpfer gleichermaßen, Cyrano und Rostand hau'n diesem schnöseladligen Lackaffen mächtig eine rein —
Denn beim letzten Verse stech ich.
Und dann. zum Hinschmelzen:
Die Mutter fand mich nicht hübsch, und Schwestern
besaß ich nicht. Vor jedem Liebestraum
ließ mich die Furcht vor Spott erbeben.
Dir dank ich's, Dir allein, daß durch mein Leben ...
gestreift ist eines Frauenkleides Saum.
Dann kommt der Tod. Er kommt, um ihm Stiefel aus Marmor anzulegen. Und Blei um seine Hände.

Und die Schönheit von Anne Brochet. Meine Güte, welch eine Filigranität! Aber eben auch die von Gérard Depardieu! Dieser Baum, hier aus der Gascogne, wo die Fasanen und die Flußkrebse auf den Eichen wachsen. Diese Eiche, die im vollen Saft steht, auf der Gefühle wachsen statt Blätter. Photosynthese der Gefühle — der wichtigste Prozeß in der Nahrungskette der Menschen.
Le Bret, zu diesem leuchtenden Opal
werd ich heut ohne Hilfsmaschinen steigen.
Dann fragt Roxane ihn — Was sagen Sie?
Dort werden in der Geister sel'gem Reigen
Mir Sokrates und Galilei nahn
und als bescheidnen Schüler mich empfang'.
Dann hat Rostand da allerdings ein bißchen arg aufgetragen. Aber in dieser Zeit war das wohl unumgänglich. Hier dürfen auch große Jungs weinen.
Das sind die Gascogner Kadetten —
Kopernikus — Ja! — Das Gesetz der Schwere. Die Natur — gibt Aufschluß.
Was Teufel wollt er nur auf der Galeere?
Musiker und Reimedrechsler,
Physiker, Philosoph und Fechter,
zungenfertiger Schlagwortwechsel,
Mondreisender ohne Sack und Pack,
Liebhaber auch — jedoch ein schlechter! —
Hier ruht und wartet des jüngsten Gerichts
Cyrano Savinien Herkulus von Bergerac,
der alles gewesen und dennoch nichts. —
Doch nun verzeiht, nun muß ich euch verlassen.
Ihr seht, der Strahl des Mondes will mich fassen –
Sie sollen Ihren Christian stets beweinen.
Nur bitt ich, geben Sie, wenn ich der Fessel
des Erdenseins entledigt bin,
dem schwarzen Schleier einen Doppelsinn,
um ihn und mich auch trauernd zu vereinen.
Diese Andeutung von Le Bret zu Cyrano Dein alter Freund — dieser leuchtende Opal. Der Mond eben.

Auch dieser Mondreisende, als dieser er sich bezeichnet. Auch in dieser Szene mit Guiche, den er daran hindern will, die Hochzeit von Roxane und Christian zu unterbinden. Das Buch von Cyrano de Bergerac — Voyage dans la lune. Viele Franzosen kennen es nicht. Viele gehen davon aus, Cyrano sei eine Erfindung von Rostand.

Nun, so, wie er auf der Bühne steht, ist er ja auch eine Rostandsche Figur: extrem dem Zeitgeist entsprechend, extrem romantisiert.

Aber: Voyage dans la lune, die Reise zum Mond ist auch Satire auf den Kampf um das kopernikanische Weltbild! Und vom Satiriker, der den Klerus — und damit die Machtapparaturen — auf den Arm nimmt. Aber dennoch irgendwie tiefreligiös ist. Was eben auch zur Zeit gehört.

Der Großvater von Savinien de Cyrano war Fischhändler. Ein Bürger, der sich eingekauft hatte. Ein Amtsadliger eben. Das ist alles bei Monsieur Lebret nachzulesen. Er war Cyranos erster Biograph. Rostand hat aus dieser prächtigen Biographenbulle sein Stück liebesfiletiert. Aber die ganzen Figuren aus dem Stück hat's offenbar tatsächlich gegeben.

Also: Opa hat sich die Ämter eines Sekretär des Königs, Notars und Rates gekauft und noch'n dickes Haus an den Halles dazu. Damals hießen die ja noch nicht Bauch von Paris. Die haben ja von Monsieur Zola ihren Namen. Der Enkel des Fischhändlers tritt dann gemeinsam mit seinem Biographen Lebret ein in die Gascogner Garden des Monsieur de Carbon de Casteljaloux. Dann geht quasi die Post ab. Und Cyrano an die Ostfront des dreißigjährigen Krieges, später dann ab nach Arras. Einen Teil davon hat der Marseillais Rostand ja notiert. Vor allem das fröhliche Leben in Paris — nachdem er nach Arras den Dienst quittiert hatte, weil's ihn beinahe dahingerafft hätte durch einen Säbelhieb an die Kehle. Daraus stammt auch die Geschichte mit dem siegreichen Kampf gegen die hundert Mann, die im Film so herrlich rüberkommt. Den de Bergerac nach dem von Opa gekauften Gut in Mauvières gibt Savinien sich selber, um den Altadligen herauszukehren. Vieles ist nur schwer zu überprüfen. Aber Rostand hat eben einen köstlichen Schmachtfetzen daraus gemacht. Und Rappeneau einen noch viel schöneren Film.

Dann wäre jetzt zu schließen. Ein paar Kleinigkeiten vielleicht noch, zum Beispiel, daß er homosexuell gewesen sein soll. Seine Liebe zu seiner Cousine und die Hingabe an Christian hatte tatsächlich seltsame Züge. Auch bei Rappeneau. Vielleicht gerade bei Rappeneau. Dieses Verständnis für die Frau ist beinahe grotesk. Egal. Von Molière sagt man auch, er sei der Vater seiner späteren Ehefrau gewesen. Ein wenig Durcheinander. Es war auch die Galanterie dieser Zeit. Es ist nicht wesentlich. Dann noch die Bedeutung der Schlacht von Arras gegen die Spanier, von Duché d'Artois. Auch das Alt-Pariser Quartier Marais, von der Seine umflossen, in dem ein Teil des Films spielt. Daß man dort noch heute ein paar Plätze finden kann, wo man diese Atmosphère spürt, wie sonst nicht in Paris (wenn die judenglotzenden Touristen noch oder schon in den Betten liegen). Und diese Roxane! Es ist zum Wegfließen:
Sodann — Du stahlest mir ein Herz voll Glut,
und zum Ersatze nun verlang ich deines
sagt sie. Worauf Cyrano entgegnet —
Bald eines, bald zwei hat er sich ausgebeten.
Wieviele Herzen will er nun?
Und sie —
oh schmählich!
Das ist die Eifersucht —
Er:
Wie?
Sie:
— des Poeten.
Und klingt nicht folgendes unwiderstehlich? —
Mein Mut zerschellt an Deines Reizes Klippen.
Doch gäb es Küsse, die man nur geschrieben,
du läsest meine Briefe mit den Lippen.
Dann kommt's — er fragt nämlich:
Können Sie denn jede Zeile
auswendig?
Sie:
Jede!
Er:
Weit hat er's gebracht!
Sie:
Er ist ein Meister!
Und er dann schließlich:
Abgemacht.
Das hat er ja, wenn ich mich recht erinnere, an seinem Ende nochmal wiederholt. Und nun schniefe ich ich ein bißchen:
Warum nur schwiegen Sie seit vierzehn Jahren?
Die Tränen hier auf diesem Briefe waren
Ja doch die Ihren!
Das ist Liebe! Sozusagen die Geschichte der Liebe. Aus der mit der Dame, die sie mir mittels dieses Films erklären wollte, wurde nichts. Pygmalion läßt grüßen. Aber so wurde daraus immerhin eine große Liebe zu einem großen Film. Eine Statue zwar, aber sie bewegt sich — und mich.

Siehe auch: Cyrano de Pardieu
 
Mo, 26.05.2008 |  link | (5576) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 







Werbeeinblendung

Jean Stubenzweig motzt hier seit 6024 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00



... Aktuelle Seite
... Beste Liste (Inhaltsverzeichnis)
... Themen
... Impressum
... täglich
... Das Wetter

... Blogger.de
... Spenden



Zum Kommentieren bitte anmelden

Suche:

 


Letzte Kommentare:

/
Echt jetzt, geht noch?
(einemaria)
/
Migräne
(julians)
/
Oder etwa nicht?
(jagothello)
/
Und last but not least ......
(einemaria)
/
und eigentlich,
(einemaria)
/
Der gute Hades
(einemaria)
/
Aus der Alten Welt
(jean stubenzweig)
/
Bordeaux
(jean stubenzweig)
/
Nicht mal die Hölle ist...
(einemaria)
/
Ach,
(if bergher)
/
Ahoi!
(jean stubenzweig)
/
Yihaa, Ahoi, Sehr Erfreut.
(einemaria)
/
Sechs mal sechs
(jean stubenzweig)
/
Küstennebel
(if bergher)
/
Stümperhafter Kolonialismus
(if bergher)
/
Mir fehlen die Worte
(jean stubenzweig)
/
Wer wird schon wissen,
(jean stubenzweig)
/
Die Reste von Griechenland
(if bergher)
/
Richtig, keine Vorhänge,
(jean stubenzweig)
/
Die kleine Schwester
(prieditis)
/
Inselsommer
(jean stubenzweig)
/
An einem derart vom Nichts
(jean stubenzweig)
/
Schosseh und Portmoneh
(if bergher)
/
Mit Joseph Roth
(jean stubenzweig)
/
Vielleicht
(jagothello)






«Ist Kultur gescheitert?» ? «Bitte gehen Sie weiter.»



Suche:

 




Anderenorts

Andere Worte

Anderswo

Beobachtung

Cinèmatographisches + und TV

Fundsachen und Liebhaberstücke

Kunst kommt von Kunst

La Musica

Regales Leben

Das Ende

© (wenn nichts anders gekennzeichnet): Jean Stubenzweig





pixel pixel
Zum Kommentieren bitte anmelden

Layout dieses Weblogs basierend auf Großbloggbaumeister 2.2

pixel pixel